Der Nationalkongress Kurdistan (KNK) fordert in einer Grundsatzerklärung die internationale Gemeinschaft auf, die einseitige Unterbrechung der militärischen Aktivitäten durch die Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK) zu unterstützen. In der Erklärung wird die aktuelle Phase in den historischen Zusammenhang des vor hundert Jahren abgeschlossenen Vertrag von Lausanne eingeordnet:
„Hundert Jahre Vernichtung und Verleugnung“
„Vor einhundert Jahren wurde Kurdistan im Vertrag von Lausanne unter den Staaten Türkei, Irak, Iran und Syrien aufgeteilt. Seit der Gründung der Republik Türkei im Jahr 1923 hat die Türkei eine umfassende und strategische Politik der Verleugnung und Vernichtung gegenüber der innerhalb ihrer Staatsgrenzen lebenden kurdischen Bevölkerung verfolgt. Der türkische Staat hat diese Politik mit allen Mitteln und unter Mobilisierung aller militärischen, erzieherischen, juristischen, wirtschaftlichen und kulturellen Institutionen verfolgt. Er verfolgte permanent das Ziel, die Existenz einer kurdischer Identität zu vernichten, jeden Widerstand gegen diese Politik zu brechen und – falls dies nicht gelänge – die Kurd:innen unter dem Slogan ‚Eine Flagge, eine Nation, eine Sprache, ein Staat‘ und dem Motto ‚Glücklich ist, wer sich Türke nennt‘ zu assimilieren. Der türkische Staat lässt keine andere ethnische oder nationale Identität als die türkische zu, und die türkische Verfassung verlangt zwingend, dass die einzige Sprache, in der an Schulen in der Türkei unterrichtet wird, Türkisch ist. So wurde die kurdische Sprache zu einem Tabu gemacht.
„Die PKK war die Antwort auf den Genozid“
Kurd:innen haben sich seit der Gründung der Republik Türkei gegen diese Vernichtungspolitik gewehrt: in Kocgirî (1925), Dersim (1937-38), Botan, Agirî, Amed (tr. Diyarbakır) und vielen anderen kurdischen Regionen. Leider wurden alle diese Aufstände vom türkischen Militär niedergeschlagen.
In den 1970er Jahren, als der türkische Staat seine Vernichtungspolitik weiter verschärfte, wurde unter der Führung von Abdullah Öcalan die PKK gegründet. Die Gründung der PKK war eine Antwort auf die nationalistische, faschistische und genozidale Politik des türkischen Staates. Unabhängig davon, welche Regierung in der Türkei die Macht übernahm, hatte sich die Politik gegenüber den Kurd:innen nie geändert. Die PKK stellte eine Fortsetzung der vielen früheren kurdischen Aufstände dar und forderte die Anerkennung der grundlegenden demokratischen und nationalen Rechte der kurdischen Bevölkerung. Auf diese Weise hat der seit knapp fünfzig Jahren andauernde Aufstand der PKK die Unterstützung von fast 80 Prozent der kurdischen Bevölkerung gewonnen.
„Seit 1923 hat das kurdische Volk nicht einen Moment der Normalität erlebt“
Das kurdische Volk war und ist beispielloser und unprovozierter Repression ausgesetzt, weil es die kurdische Frage als tragisches Produkt des europäischen Kolonialismus vergangener Generationen entlarvt. Heute, da der Jahrestag des Vertrags von Lausanne näher rückt, ist Europa weiterhin ein Komplize bei den kontinuierlichen Bestrebungen, die Existenz eines der ältesten Völker des Nahen Ostens auszulöschen, einer Identität, die nur fordert, frei und in Würde in ihrer Heimat zu leben.
Der türkische Staat zwingt das kurdische Volk, eine Krise nach der nächsten Krise durchzumachen. Seit der brutalen Teilung Kurdistans im Jahr 1923 hat unser Volk noch nie ein normales Leben geführt. Niemals haben wir Stabilität oder Sicherheit erfahren. Krieg, Vertreibung, Assimilation, Völkermord, Ökozid und Femizid sind in allen vier Teilen des besetzten Kurdistans an der Tagesordnung und lassen den Menschen als ständige Begleiter im Leben kaum eine Atempause. Währenddessen haben die EU-Mitgliedsstaaten den Kolonialstaaten, die Kurdistan besetzt halten, allen voran der Türkei, beigestanden.
„Das internationale Komplott als Angriff auf die kurdische Basisdemokratie“
Die Kolonialherrscher der Region haben ihre Macht von Generation zu Generation aufrechterhalten, indem sie die Massen unterdrückt und ethnische und religiöse Gruppen gegeneinander ausgespielt haben. Doch die Stärke der kurdischen Basisdemokratie versetzte sie in Angst und veranlasste verschiedene Staaten zur Zusammenarbeit, um den Gründer und Vorsitzenden der PKK, Abdullah Öcalan, am 15. Februar 1999 illegal zu verschleppen.
Doch nicht einmal das internationale Komplott konnte den Widerstand des kurdischen Volkes brechen. Millionen Kurd:innen akzeptieren Herrn Öcalan als ihren legitimen Vertreter und als Repräsentanten ihres Widerstands gegen die Unterdrückung durch den türkischen Staat. Von 2013 bis 2015 spielte er trotz seiner Inhaftierung und Isolation eine zentrale Rolle bei den Gesprächen über eine friedliche Lösung. In diesen Jahren erkannte die Türkei, dass Öcalan der einzige Gesprächspartner war, der einen ehrenhaften und wirksamen Frieden schaffen kann. Jetzt leugnet sie diese Realität.
Die Türkei führt innerhalb ihrer Grenzen einen systematischen Angriff auf das kurdische Volk durch. Sie setzt Wälder in Brand, ermordet kurdische Politiker:innen mit bewaffneten Drohnen und inhaftiert Tausende Kurd:innen allein deshalb, weil sie ihre unveräußerlichen Menschenrechte einfordern.
„Massive Menschenrechtsverletzungen und politische Repression“
Der Türkei-Bericht 2022 von Amnesty International zeigt, dass das Erdoğan-Regime die Menschenrechte systematisch missachtet. Am 20. März veröffentlichte das US-Außenministerium (DOS) seinen jährlichen Länderbericht 2022 über die Menschenrechtssituation. In diesem Länderbericht wurden die von der AKP/MHP-Regierung begangenen Menschenrechtsverletzungen ausführlich beschrieben.
Der Bericht hebt das Vorgehen der Regierung gegen die pro-kurdische HDP, die fortschrittlich ausgerichtete Demokratische Partei der Völker, hervor. Die HDP fordert die Achtung der Rechte aller Bürger:innen des Landes und ein Ende der Politik der militärischen Aggression und der Unterdrückung der Meinungsfreiheit. Doch wie der Bericht zeigt, hat das Erdoğan-Regime rund 5.000 Politiker:innen, Abgeordnete und Mitglieder der HDP festgenommen und inhaftiert.
Allein im Jahr 2022, so der Bericht, wurden sieben ehemalige HDP-Abgeordnete und sechs gewählte Bürgermeister:innen in der kurdischen Region unter verschiedenen Anschuldigungen inhaftiert. In dem Bericht heißt es: ‚Seit 2019 hat das Innenministerium 48 von 65 gewählten HDP-Bürgermeister:innen im Südosten wegen angeblicher Terrorunterstützung im Zusammenhang mit der PKK abgesetzt; sechs weitere HDP-Bürgermeister:innen konnten, obwohl sie kandidieren durften, ihr Amt nach den Wahlen 2019 nicht antreten, weil sie per Regierungsdekret zuvor aus dem öffentlichen Dienst entlassen worden waren.‘
Der Bericht unterstreicht, dass diese Inhaftierungen ungerechtfertigt sind: ‚Menschenrechtsgruppen erklärten, dass viele Inhaftierte keine substantielle Verbindung zum Terrorismus hatten und verhaftet wurden, um kritische Stimmen zum Schweigen zu bringen oder die politische Opposition gegen die regierende AKP, insbesondere die HDP oder ihre Partnerpartei, die Partei der Demokratischen Regionen (DBP), zu schwächen.‘
„Gefangene sterben aufgrund von Handlungen des Vollzugspersonals und Haftbedingungen“
In der Türkei sterben Gefangene aufgrund von Übergriffen des Gefängnispersonals unter entsetzlichen Haftbedingungen. Die Aufzeichnungen darüber werden der Öffentlichkeit vorenthalten, aber laut der Menschenrechtsstiftung Türkei (TIHV) starben seit Dezember 2021 zwischen 61 und 73 Gefangene in der Haft. Einem HDP-Bericht zufolge starben 39 Gefangene aufgrund von Krankheiten und 34 durch Suizid. Die TIHV stellte verschiedene Ursachen fest, darunter Krankheit, Suizid, Gewalt und Vernachlässigung.
„HDP soll durch Verbotsverfahren ausgeschaltet werden“
Heute versucht das Erdoğan-Regime, die HDP gänzlich zu verbieten. Es hat ein Verbotsverfahren gegen die Partei eingeleitet, das führenden kurdischen Politiker:innen die Teilnahme an Wahlen und die Ausübung von Ämtern untersagen würde. Das Verfahren läuft noch vor dem Verfassungsgericht. Die nächsten Parlamentswahlen in der Türkei werden am 14. Mai stattfinden. Am 11. April werden die Kandidatenlisten fertiggestellt, am selben Tag wird entschieden, ob die HDP aufgelöst wird oder nicht.
„Die kurdische Alternative“
Doch der Widerstand gegen die türkische Unterdrückung und Ausbeutung nimmt zu. Das kurdische Volk beantwortet die veralteten und gewalttätigen Paradigmen des Nationalismus mit einer neuen Alternative. Diese Alternative wird in allen Teilen Kurdistans praktiziert und steht für die friedliche Koexistenz der Völker unabhängig von ihrer ethnischen Zugehörigkeit oder Religion und ermöglicht die volle und freie Teilhabe der Frauen in allen Lebensbereichen. Seit seiner Entführung hat die Philosophie von Herrn Öcalan an Bedeutung gewonnen und einen Rahmen für den mutigen Widerstand des kurdischen Volkes geschaffen.
Die Autonome Verwaltung von Nord- und Ostsyrien (AANES) stellt seit ihrer Gründung im Jahr 2012 einen Leuchtturm der demokratischen Hoffnung für alle ethnischen und religiösen Identitäten in Syrien dar. Es handelt sich um eine demokratische Alternative zu Diktatur und gewalttätigem Nationalismus. Diese Alternative verwaltet sich selbst durch demokratische und dezentralisierte Strukturen, unterstützt basisdemokratische, ökologische Nachhaltigkeit und schließt alle Ethnien ein. Sie stellt die Rechte der Frauen an die Spitze ihrer Agenda.
Doch das Erdoğan-Regime hat diese Alternative von Anfang an militärisch angegriffen und tut dies auch weiterhin. Es hat die gesamte Macht des türkischen Militärapparats in Bewegung gesetzt, um im Irak und in Syrien einzumarschieren und ganze Landstriche faktisch zu annektieren. Dabei wird versucht, diese Aggression mit dem Hinweis auf nationale Sicherheitsinteressen oder Sensibilitäten der Türkei zu rechtfertigen. Der Krieg wird geschürt, Zivilist:innen werden getötet und vertrieben. Jeden Tag begeht der türkische Staat in den von der Türkei besetzten Gebieten Efrîn, Serêkaniyê und Girê Spî neue Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
Das Erdoğan-Regime fördert und unterstützt zudem zahlreiche dschihadistische Organisationen, die dem IS um nichts nachstehen. Diese Terrorgruppen haben immer wieder erfolglos versucht, die Selbstverwaltung zu zerschlagen. Die Frauen der YPJ, die den Todeskult des IS bekämpft und durch ihren Sieg dafür gesorgt haben, dass die AANES weiterhin eine regionale und globale Alternative ist, sind zu einem leuchtenden Beispiel geworden.
Krieg in Südkurdistan
In der Kurdistan-Region Irak (Südkurdistan) setzt Erdoğan seinen Krieg gegen die Kurd:innen mit anderen Mitteln fort. Wie in der AANES-Region macht er mit bewaffneten Drohnen und Killerkommandos Jagd auf seine Gegner:innen und tötet sie auf der Straße und in ländlichen Gebieten, vor Menschenmassen und in ihren Häusern. Dabei hat die Türkei chemische Waffen eingesetzt und in Südkurdistan mehr als hundert Militärstützpunkte für die zweitgrößte Armee der NATO errichtet.
Eine weitere Strategie Erdoğans in Südkurdistan besteht darin, Konflikte zwischen kurdischen Parteien zu schüren. Obwohl das Erdogan-Regime die PDK (Demokratische Partei Kurdistans) als Unterstützerin gewonnen hat, um die PKK zu besiegen, ist dies nicht gelungen. Im Gegenteil, die PDK hat innerhalb der kurdischen Bevölkerung an Sympathie verloren und ist zunehmend unbeliebt. Nur das verantwortungsvolle Verhalten der PKK hat einen innerkurdischen militärischen Konflikt verhindert. Nicht einmal High-Tech-Kriegsführung kann die PKK-Kämpfer:innen davon abhalten, Südkurdistan gegen die türkische Besatzung zu verteidigen.
„Jin, Jiyan, Azadî“-Revolution in Ostkurdistan und Iran
Im Iran wird die Bevölkerung seit 1979 von einer theokratischen und chauvinistischen Diktatur unterdrückt und verfolgt. In Ostkurdistan und weit darüber hinaus ist der Slogan der kurdischen Bewegung „Jin, Jiyan, Azadî“ (Frau, Leben, Freiheit) zu der Parole des Widerstands geworden.
Erdoğans geopolitische Strategie
Seit Jahrhunderten spielt die Türkei aufgrund ihrer Lage als Brücke zwischen Orient und Okzident eine wichtige geopolitische Rolle. Während des Kalten Krieges nahm die Türkei eine strategisch wichtige Rolle innerhalb der NATO ein. Heute führt Erdoğans Strategie, die türkischen Interessen in den Vordergrund zu stellen, dazu, dass er sich über die Regeln, an die sich die Mitglieder internationaler Organisationen halten müssen, hinwegsetzt.
Wenn es um politische, kulturelle und militärische Interventionen in Nachbarländern geht, kennt die türkische Außenpolitik keine Grenzen. Sie hat Aserbaidschan gegen Armenien aufgehetzt. Sie bedroht die EU-Mitgliedstaaten Griechenland und Zypern.
Erdoğan hat den Islam instrumentalisiert, um den gewalttätigen Dschihadismus im Nahen Osten zu stärken. Gleichzeitig nutzt er ihn, um die religiöse Intoleranz in Europa und darüber hinaus voranzutreiben. Jahrelang hat Erdoğan Geflüchtete aus dem Nahen Osten offen als Waffe eingesetzt, um die EU und internationale Organisationen unter Druck zu setzen oder, wie viele sagen würden, zu erpressen.
Während des Krieges in der Ukraine hat die Türkei konsequent eine Politik verfolgt, die sich gegen das Vorgehen der NATO in diesem Konflikt richtet, und gleichzeitig große Anstrengungen unternommen, um die NATO-Beitrittsgesuche der EU-Mitgliedstaaten Schweden und Finnland zu blockieren. Erdoğan hat sich zwar als Vermittler zwischen Russland und der Ukraine dargestellt, doch in Wirklichkeit hat er Putin, den heutigen Hauptgegner der EU, gestärkt. Das tut er, um seine Interessen in Syrien zu schützen, wo das türkische Militär und verschiedene dschihadistische Stellvertreter mehrere Regionen kontrollieren, darunter die kurdische Stadt Efrîn, die sie nun schon seit fünf Jahren terrorisieren.
„Europäische Staaten werden vom Erdoğan-Regime destabilisiert“
In Europa nehmen Erdoğans gewaltsame Kampagnen gegen Andersdenkende keine Rücksicht auf nationale Grenzen und untergraben die Souveränität dieser Staaten. Dennoch verschließen einige dieser Staaten noch immer die Augen vor dieser Politik und bemühen sich unerklärlicherweise, ihre Partnerschaft mit dem türkischen Staat aufrechtzuerhalten. Doch die Aktivitäten des türkischen Geheimdienstes (MIT) in Europa destabilisieren diese Länder direkt. Der MIT überwacht, schüchtert ein und verschleppt Dissident:innen im Exil. Darüber hinaus wurden, wie zuletzt am 23. Dezember in Paris, Kurd:innen in europäischen Hauptstädten ermordet.
Wirtschaftlicher Zusammenbruch und eskalierende Militärausgaben
Im Laufe des letzten halben Jahrhunderts hatte sich die Türkei mit starker Unterstützung des Westens zu einer der größten Volkswirtschaften der Welt entwickelt, mit einem Bruttoinlandsprodukt im Jahr 2013 von fast eine Billion Dollar. Doch unter Erdoğans unkontrollierter Autorität ist die grassierende Korruption institutionalisiert worden. Die Wirtschaftskrisen der Türkei nehmen kein Ende, auch wenn die Türkei mit ihren verschiedenen militärischen Aggressionskampagnen versucht, die Unzufriedenheit im Lande durch extremen Nationalismus zu absorbieren.
Im Haushalt von 2003, der dem Parlament nach der Machtübernahme der AKP vorgelegt wurde, wurden dem Verteidigungsministerium (MSB) lediglich 10,2 Milliarden TL zugewiesen. Es folgten 9 Milliarden 2004, 13,3 Milliarden 2008), 15,3 Milliarden 2009, 15,9 Milliarden 2010, 16,9 Milliarden 2011, 18,2 Milliarden 2012, 20,4 Milliarden 2013, 21,8 Milliarden 2014, 22,7 Milliarden 2015, 27,8 Milliarden 2016 und 28,7 Milliarden 2017.
Nun, da das Regime den Menschen in der Türkei inmitten einer zusammenbrechenden Wirtschaft nichts außer Krieg und Militarismus zu bieten hat, sind die Militärausgaben der Türkei weiter in die Höhe geschossen. Im Jahr 2018 stieg der Verteidigungshaushalt auf 40,4 Milliarden TL an. In den darauffolgenden Jahren wurden die Ausgaben in gleichem Maße weiter dramatisch erhöht. Das Verteidigungsbudget wurde für 2019 mit 46,4 Milliarden TL, für 2020 mit 53,8 Milliarden TL, für 2021 mit 61,4 Milliarden TL, für 2022 mit 79 Milliarden TL festgelegt und für 2023 in einer Höhe von 182,7 Milliarden TL angekündigt. Rechnet man die Generaldirektion für Sicherheit, die Generaldirektion der Militärpolizei, die Küstenwache sowie die verdeckten Mittel hinzu, wären die Zahlen noch weitaus höher. Erdoğans Regime schüttet weiter Geld aus, um seine neoosmanischen Expansionsträume zu verfolgen.
Erdoğans Katastrophe: Die Erdbeben
Bei den Erdbeben vom 6. Februar kamen Zehntausende Menschen ums Leben und viele weitere wurden obdachlos. Doch das politische und institutionelle Versagen des Regierungssystems der AKP/MHP verschlimmerte die Folgen. Tatsächlich zerstörten die Erdbeben die institutionelle Fassade der Türkei. Erst zwei Tage nach dem Erdbeben zeigte der Staat seine Präsenz; die verspätete Hilfe führte zu einer massiven Steigerung der Zahl der Todesopfer. Die Unfähigkeit des Staates, dringend benötigte Hilfe zu leisten, und seine ineffektive Reaktion auf die dringenden und unmittelbaren Bedürfnisse der Menschen, machten den Zusammenbruch der institutionellen Strukturen der Türkei deutlich.
Die Kurd:innen, angeführt von der HDP, erkannten, dass sie vom Erdoğan-Regime keine Hilfe erwarten konnten. Kurdische Organisationen bildeten sofort Kommissionen, die trotz staatlicher Behinderungen aktiv Hilfe leisteten. Das AKP/MHP-Regime blieb nicht nur zwei Tage lang untätig, sondern versuchte, die von der HDP organisierte Hilfsarbeit durch die Verhängung des Ausnahmezustands zu verhindern.
KCK erklärt Unterbrechung der militärischen Aktionen
Genau zu diesem tragischen Zeitpunkt, am dritten Tag des Erdbebens, erklärte die Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK) einen sofortigen Stopp der militärischen Aktionen im türkisch-syrischen Grenzgebiet: ‚Angesichts dieser Katastrophe und des Leids, das unser Volk erfahren hat, wollen wir, als Exekutive dieser Bewegung, den Prozess und die jüngsten Entwicklungen bewerten und auf dieser Grundlage Konsequenzen ziehen. Denn wir respektieren die Völker und das menschliche Leben. Deshalb wollen wir dem Schmerz nicht noch mehr Schmerz hinzufügen. Wir haben die Situation humanitär, ethisch und moralisch bewertet. Wir fordern alle unsere Kräfte, die an militärischen Aktivitäten beteiligt sind, zur Einstellung ihre Aktionen in der Türkei, in den Metropolen und Städten auf. Wir haben erneut beschlossen, keine Aktionen durchzuführen, solange der türkische Staat nicht gegen uns vorgeht und uns angreift. Unsere Entscheidung wird so lange gültig sein, bis der Schmerz unseres Volkes gelindert und seine Wunden geheilt sind. Natürlich wird auch die Haltung des türkischen Staates für unsere Entscheidung relevant sein.‘
Kurz nachdem die KCK diesen Aufruf veröffentlicht hatte, erklärte das Hauptquartier der Volksverteidigungskräfte (HPG) seine Unterstützung: ‚Die Guerilla ist bereit, die KCK in ihren Bemühungen um die Beendigung der Kämpfe zu unterstützen und damit zur Linderung des Leidens der betroffenen Bevölkerung beizutragen.‘
Sabri Ok, Mitglied des Exekutivrats der KCK, erklärte am 30. März, dass einflussreiche Politiker:innen, Staaten und internationale Akteure Botschaften und Grüße an die KCK-Führung geschickt und eine solche Erklärung gefordert hätten, manchmal direkt und offen, manchmal indirekt. Sie versicherten der KCK, sich für eine friedliche Entwicklung einzusetzen.
Türkischer Staat setzt Angriffe fort
Leider zeigt die türkische Regierung keine Anzeichen einer positiven Reaktion auf das Friedensangebot der KCK. Am Tag nach dem Erdbeben bombardierte die türkische Armee schwer vom Erdbeben betroffene Gebiete in Nord- und Ostsyrien. Im Laufe des Monats Februar führten türkische Kampfjets nach Angaben der HPG mindestens 30 Luftangriffe auf die Medya-Verteidigungsgebiete durch, 18 weitere Angriffe erfolgten mit Hubschraubern. Diese Bombardierungen richteten sich in erster Linie gegen Stellungen der Guerilla. Im gleichen Zeitraum wurden 876 Einschläge von aus Panzern, Haubitzen und anderen schweren Waffen abgefeuerten Granaten registriert. Darüber hinaus wurden 142 Einschläge oder Einsätze von mit Phosphor angereicherten Granaten, unkonventionellen Bomben und anderen Kampfstoffen gezählt.
Im Laufe des Monats März wurden die Medya-Verteidigungsgebiete in 72 Fällen von Kampfjets und in 1357 Fällen durch Kampfhubschrauber, Haubitzen, Mörser, Panzer und schwere Waffen bombardiert. Die Widerstandsstellungen der Guerilla wurden 53 Mal mit verbotenen Bomben, chemischen Waffen und mit Phosphor angereicherten Granaten angegriffen .
Sabri Ok erklärte am 30. März: ‚Die Kräfte, die eine Einstellung der Aktionen und einen Waffenstillstand fordern, haben unsere Entscheidung gesehen, aber der türkische Staat erkennt diese Entscheidung nicht an. Er will darin eine Schwäche sehen. Er will die Feuerpause als Gelegenheit nutzen. Es finden jeden Tag Angriffe auf die Guerilla statt, sogar noch mehr als früher. Er setzt auch illegale Kampfmittel wie taktische Nuklearwaffen und chemische Waffen gegen die Guerilla ein. Die HPG hat dazu eine Erklärung abgegeben. Auch der Ko-Vorsitz der KCK hat eine Erklärung abgegeben. Die aktuelle Haltung kann nicht fortgesetzt werden, wenn die Angriffe weitergehen. Der Hauptgrund für unsere Bewegung, diese Entscheidung zu treffen, ist moralischer und humanitärer Natur. Die Absicht unserer Bewegung darf nicht missbraucht werden.'
Am 26. März erklärte der Ko-Vorsitzende der KCK, Bese Hozat, dass die KCK beschlossen habe, die Feuerpause bis nach den Wahlen am 14. Mai fortzusetzen. ‚Wir werden diese Entscheidung nach den Wahlen bewerten‘, erklärte sie und wies darauf hin, dass die Wahlen von historischer Bedeutung für die ‚Völker der Türkei‘ seien.
Die Wahlen am 14. Mai
Die bevorstehenden Parlamentswahlen in der Türkei finden zu einer Zeit statt, in der die Menschen in den kurdischen Gebieten der Türkei und Syriens noch immer mit den immensen Folgen des schweren Erdbebens zu kämpfen haben. Da die Kurd:innen jedoch eine starke Demokratie in der Türkei aufbauen wollen, bieten die Wahlen eine Gelegenheit, einen demokratischen Wandel herbeizuführen und politische Lösungen für die kurdische Frage zu entwickeln.
In diesem Zusammenhang bietet die Waffenstillstandserklärung der KCK eine historische Chance für eine vernünftige und partizipative Demokratie mit einem neuen Verständnis, das auf Frieden, Dialog, Menschenwürde, Gleichheit, Freiheit und Gerechtigkeit beruht.
In dieser kritischen Phase, in der sich das Erdoğan-Regime verwundbar zeigt, ist es von größter Bedeutung, dass die EU, die USA, die Vereinten Nationen und der Europarat die klare Botschaft übermitteln, dass die Wahlen frei und fair sein müssen und dass sie die Einschüchterung von Oppositionspolitiker:innen und Wähler:innen nicht tolerieren werden. Diese internationalen Organisationen sollten alles in ihrer Macht Stehende tun, um faire Wahlen in der Türkei zu beobachten und sicherzustellen.
Die internationalen Organisationen sollten auch Druck auf die türkische Regierung ausüben, damit sie die Friedensinitiative der KCK akzeptiert. Mit dieser Initiative hat die kurdische Freiheitsbewegung einmal mehr glaubhaft gezeigt, dass sie an einer politischen Lösung des 39-jährigen Krieges zwischen dem türkischen Staat und der PKK interessiert ist. Wenn es gelingt, das AKP-Regime davon zu überzeugen, die Friedensinitiative anzunehmen, könnte die Erdbebenkatastrophe zu einer Chance für einen dauerhaften Frieden in der Region werden.
Öcalans Freiheit ist entscheidend für die Zukunft der Kurd:innen
Dazu muss das illegale System der Türkei auf der Gefängnisinsel Imrali sofort beendet werden. Seit dem 25. März 2021 gibt es keinen Kontakt mehr zu Abdullah Öcalan. Wir haben keine Informationen über seinen Zustand. Es ist daher dringend erforderlich, dass einer unabhängigen medizinischen Delegation sowie seinen Anwält:innen Zugang zu ihm gewährt wird. Dies kann durch internationalen politischen Druck erreicht werden. Der Europarat mit seinem Antifolterkomitee (CPT) und die UN-Menschenrechtskommission sind dafür zuständig, die Einhaltung des Völkerrechts auf der Gefängnisinsel Imrali zu gewährleisten, da die Türkei Mitglied in diesen Gremien ist.
Bei den Wahlen in der Türkei trägt die internationale Gemeinschaft also eine große Verantwortung. Sie kann eine konstruktive Rolle für den Frieden spielen, wenn sie die Türkei unter Druck setzt, den Frieden zu akzeptieren. Darüber hinaus müssen die EU, die NATO und der Europarat entscheiden, ob sie wollen, dass Erdoğan weiterhin an der Spitze der Türkei steht. Werden diese internationalen Organisationen und die Partnerstaaten der Türkei endlich die Vorschläge der oppositionellen Kräfte im Lande, vor allem die der HDP, berücksichtigen?
Aufgrund historischer Präzedenzfälle können wir leider vorhersagen, dass das Leiden der Menschen in der Türkei und in Kurdistan weitergehen wird, wenn es keinen internationalen Druck und keine Aufsicht gibt. Die kurdische Seite hat sich stets bemüht, die kurdische Frage durch einen friedlichen Dialog zu lösen. Internationale Unterstützung und Anstrengungen sind notwendig, um weiteres Leid zu verhindern, um diejenigen zu trösten, die Verluste erlitten haben, um die Wunden derer zu heilen, die versuchen, ihr Leben wieder aufzubauen, und um ein friedliches Umfeld zu schaffen.
Die EU, die USA, die OPCW, die WHO, das ICR und die UN können nicht länger ihre Augen vor den Verbrechen der Türkei verschließen, nur weil diese für den Westen geopolitisch wichtig ist. Die internationalen Gesetze gelten unabhängig von den Tätern. Das qualvolle Stöhnen der jüngsten kurdischen Opfer ruft die ganze Welt auf den Plan: Frieden! Freiheit! und faire Wahlen!