Das Onlineportal Libyajamahiriya hat die KCK-Vorsitzenden Besê Hozat und Cemil Bayik zu den elementaren Grundsätzen der kurdischen Befreiungsbewegung befragt. Im ersten Teil des Interviews ging es um den Unabhängigkeitsbegriff in der kapitalistischen Moderne, das überholte Nationalstaatsmodell und das von Abdullah Öcalan geprägte Verständnis einer demokratischen Autonomie in einem konföderalen System. Im zweiten Teil antworten die Ko-Vorsitzenden des Exekutivrates der Dachorganisation KCK (Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans) auf Fragen zu ihrem Wirtschaftsmodell und den sozioökonomischen Entwicklungen in Rojava.
In seinen Werken setzt sich Abdullah Öcalan intensiv mit der Frage auseinander, wie der Kapitalismus überwunden und eine auf Kooperativen basierende Wirtschaft aufgebaut werden kann. Was für eine Wirtschaftspolitik gedenkt die Freiheitsbewegung Kurdistans nach der Befreiung Kurdistans umzusetzen?
Die Überwindung des Kapitalismus ist nicht nur eine Aufgabe der PKK und aller Sozialist:innen. Die Gesellschaftlichkeit, also die Existenzform der Menschheit und die Quelle ihrer kulturellen Werte, wird vom Kapitalismus zerstört. Es findet ein Angriff auf die Existenz der Menschheit, auf die Menschheit als Ganzes statt. Der Kapitalismus kann nicht existieren, er kann nicht überleben, ohne das soziale Leben und alle gesellschaftlichen Werte zu konsumieren bzw. zu zerstören. Genauso wie Krebszellen im menschlichen Körper die gesunden Zellen angreifen und zerstören, greift der Kapitalismus die Gesellschaft an und konsumiert sie. Aus diesem Grund hat Rêber Apo [Abdullah Öcalan] den Kapitalismus als eine krebserregendes Phänomen definiert. Weil der Kapitalismus die Gesellschaft angreift und konsumiert, hielt Rêber Apo den Begriff „kapitalistische Gesellschaft“ auch stets für falsch. Er sprach davon, dass Kapitalismus und Gesellschaft nicht zusammen gebracht werden können. Die Frage nach der Überwindung des Kapitalismus darf zudem nicht nur als ein ökonomisches Problem betrachtet werden. Es handelt sich vielmehr um ein grundlegendes gesellschaftliches Problem. Der Kapitalismus ist die Ursache dafür, dass alle gesellschaftlichen Probleme vertieft werden. Das ist auch das einzig denkbare Ergebnis dieser Art der Ausbeutung und ihrer Moderne, die sich durch dadurch am Leben hält, dass sie die Gesellschaft konsumiert.
Rêber Apo hat den Kapitalismus als Ganzes analysiert. Zweifelsfrei haben Marx und Engels einen großen Beitrag zur Analyse des Kapitalismus geleistet und sind dabei zu wichtigen Ergebnissen gelangt. Rêber Apo hat den Leistungen dieser sozialistischen Führungspersönlichkeiten sowohl Anerkennung entgegengebracht und zugleich Punkte vervollständigt, die in der Analyse von Marx und Engels unvollständig geblieben waren. Dadurch hat er einen sehr großen Beitrag zu Analyse des Kapitalismus geleistet. Heute ist es nicht mehr möglich, eine ganzheitliche Betrachtungsweise zu entwickeln, ohne die Kapitalismus-Analyse von Rêber Apo zu berücksichtigen. Sie zu ignorieren, würde zu schweren Mängeln im Kampf gegen den Kapitalismus und bei seiner Überwindung führen. Insbesondere der Begriff „Kapitalistische Moderne“ muss sehr genau untersucht werden. Sonst kann die Alternative dazu, die Demokratische Moderne, nicht richtig verstanden werden.
Das erste Angriffsziel waren Frauen
All das sind wichtige Punkte, die wir erwähnen müssen, bevor wir auf das alternative Wirtschaftsverständnis von Rêber Apo eingehen. Wir betrachten es als Aufgabe aller Menschen, sich in allen Bereichen des Lebens gegen den Kapitalismus zu verteidigen. Der erste Angriff gegen die Gesellschaft richtete sich in der Geschichte gegen Frauen. Darauf aufbauend entstanden verschiedene Systeme der Ausbeutung, Unterdrückung, Macht und Staaten. Die gesellschaftlichen Probleme haben mit der Hegemonie über Frauen, der Ausbeutung der Gesellschaft und der Entstehung von Klassen begonnen. Im Kapitalismus haben sie aktuell ihren Höhepunkt erreicht. Wenn wir als menschliche Gesellschaft weiter existieren möchten, ist es sehr wichtig, gegen den Kapitalismus Position zu beziehen und aktiv vorzugehen. Der Kapitalismus versetzt die Menschheit zunehmend in eine Lage, die nicht einmal die Kapitalisten selbst rechtfertigen bzw. verteidigen können. Deshalb setzen sich die Denkfabriken und Intellektuellen, die im Dienste des Kapitalismus stehen, intensiv mit der Frage auseinander, wie der Kapitalismus der Menschheit als hinnehmbar präsentiert werden kann. Rêber Apo hat den Kapitalismus umfassend analysiert und dadurch deutlich gemacht, dass er zu einer immensen Last für die Menschheit geworden ist und unbedingt überwunden werden muss. Dafür hat er sehr überzeugend verschiedenste Beweise und Argumente ins Feld geführt.
Die vom Kapitalismus erschaffene ideologische Hegemonie brechen
Der Kapitalismus lässt sich nicht einfach von heute auf morgen abschaffen. Aber es ist wichtig, bereits heute genau damit zu beginnen. Es ist zweifelsfrei notwendig, zuerst einmal die vom Kapitalismus erschaffene ideologische Hegemonie zu brechen. Parallel dazu muss ein alternatives Ökonomiemodell praktisch umgesetzt werden, also eine Art des Wirtschaftens, die Gesellschaftlichkeit nicht zerstört, sondern ganz im Gegenteil stärkt.
Den verschiedenen Gesellschaften und einzelnen Menschen wird heute in etwa folgende ökonomische Denkweise vermittelt: Einer ist zwangsläufig Großgrundbesitzer, Gouverneur, Chef, Fabrik- oder Ladenbesitzer und die anderen sind dementsprechend einfache Dorfbewohner oder Arbeiter. Um zu überleben, müssen sich alle Menschen ein Gehalt verdienen. - Genau das ist historisch betrachtet eine der schlimmsten Formen ideologischer Hegemonie. Denn es bedeutet die Verinnerlichung der Versklavung, also die Sklaverei aus der Antike zu etwas zu machen, das freiwillig befolgt wird. Dabei handelt es sich bei der Ökonomie um die grundlegendste Aktivität der Gesellschaft. Als der Mensch zum Menschen wurde, also als er begann, sich als Gesellschaft zu organisieren, befriedigte er sein Bedürfnis nach Ernährung und Unterkunft durch das gesellschaftliche Miteinander. Es ist völlig undenkbar, diese Bedürfnisse individuell zu befriedigen. Abgesehen von dem, was der Mensch individuell in der Natur fand und aß, wurde alles durch gemeinsame gesellschaftliche Arbeit erreicht. Daher stellt es eine grundlegende gesellschaftliche Verfälschung dar, den zentralsten gesellschaftlichen Aktivitäten heute als Versklavte oder Arbeiter:innen nachzugehen. Das ist eine wirklich anormale Situation. Dass sie heute als normal gilt, verdeutlicht, mit was für einer Verfälschung wir es hier zu tun haben. Ohne das zu verändern, werden wir nicht zu richtigen Menschen werden können. Es ist vielmehr notwendig, dass wir unsere Arbeit selbst erledigen, also als Arbeiter:innen der Gesellschaft unsere Bedürfnisse befriedigen, ohne dass auch nur eine einzige Person versklavt oder ausgebeutet wird. Die technischen Fortschritte und die zunehmende Professionalisierung in diesem Bereich dürfen nur als gesellschaftliche Arbeitsteilung begriffen werden. Doch gesellschaftliche Arbeitsteilung erfordert nicht zwangsläufig die Existenz von Privilegien und Ausbeutung. Entscheidend ist, dass alle dazu in der Lage sind, zu leben und sich gesund und glücklich am Leben zu beteiligen.
Individualismus ist zu einer Kultur geworden
Diese ideologische Hegemonie hat die Kapitalistische Moderne noch einmal verstärkt. Von ihr wurde der schwerwiegende Irrglaube erschaffen, Individualismus sei eine grundlegende Eigenschaft des Menschen und das Individuum könne ohne die Gesellschaft existieren. In Verbindung mit dem ökonomischen Verständnis, es müssten stets gewisse Menschen Chef:innen und der Rest Arbeiter:innen sein, ist der Individualismus zu einer Kultur geworden. Daher kommt es niemandem in den Sinn, gemeinsam zu produzieren und die Erzeugnisse gerecht zu teilen, indem die Menschen zusammengebracht werden und eine gesellschaftliche bzw. kommunale Ökonomie aufgebaut wird. Es ist heute keine einfache Aufgabe, Menschen zusammenzubringen und auf dieser Grundlage gemeinsame Produktionsprozesse zu entwickeln. Denn die dominante Idee besteht darin, als Arbeiter:in oder Beamt:in irgendwo zu arbeiten und einen möglichst guten Lohn zu erhalten. Dabei handelt es sich letztendlich um eine Haltung, mit der das Sklavendasein akzeptiert wird. Das einzige Ziel dabei ist es, ein wenig besser als zur Zeit der Sklaverei zu leben. Je mehr konsumiert wird, desto stärker steigt der Profit der Kapitalistischen Moderne. Deshalb wird heute versucht, Verhältnisse zu schaffen, in denen neben der Mittelklasse auch die Arbeiter:innen zum Konsum befähigt werden. Indem die Arbeiter:innen ihren Lohn wieder in Konsumprodukte investieren, wird gewährleistet, dass das Geld am Ende erneut in den Taschen der Chefs landet.
Demokratische Ökonomie
Die PKK hat das Ziel, eine freie und demokratische Gesellschaft aufzubauen, die nicht ausgebeutet wird. Wenn die Demokratie als Modell der Leitung durch das Volk selbst einen erhabenen Wert darstellt, dann muss auch ein entsprechendes ökonomisches System aufgebaut werden. Im Bereich der Ökonomie entspricht die Demokratie einer Wirtschaftsform, in der es keine Chefs oder Großgrundbesitzer gibt. In den Demokratien, von denen heute in den kapitalistischen Ländern gesprochen wird, gibt es keine Herrschaft des Volkes. Genauso gehört die Wirtschaft nicht dem Volk, sondern den hegemonialen Klassen, da diese das System als Ganzes beherrschen. Wenn wir aber Demokratie, also die Kraft des Volkes, sich selbst zu leiten, zu unserem Ziel erklären, dann müssen wir auch die dazugehörige Wirtschaft des Volkes aufbauen. Es muss also unser Ziel sein, ein wirtschaftliches System zu erschaffen, in dem es nicht auf der einen Seite Chefs und Feudalherren und auf der anderen Seite Arbeiter:innen gibt. Da der Monopolismus im Kapitalismus immer stärker wird, verliert die Wirtschaft zunehmend ihren Bezug zur Gesellschaft. Genauso wie Demokratie im gesellschaftlichen Leben die Überwindung von autoritären, homogenen Systemen bedeutet, überwindet sie im Bereich der Ökonomie jegliche Monopole und die Wirtschaftspolitik der herrschenden Klassen.
Kommunalisierung von Erde, Wasser und Energie
Rêber Apo fordert zuallererst die Kommunalisierung von Erde, Wasser und Energie, also der wichtigsten Säulen der Wirtschaft. Diese drei wirtschaftlichen Aspekte können von niemandem besessen werden. Diese kommunale Herangehensweise müssen wir als ersten Schritt für den Aufbau des wirtschaftlichen System des Volkes verstehen. Die Wirtschaft kann nur demokratisiert werden, wenn das bestehende gesellschaftspolitische System demokratisch ist. Daher ist das demokratisch-konföderale gesellschaftspolitische System, das sich auf eine organisierte und demokratische Gesellschaft stützt, eine Voraussetzung für den Aufbau einer kommunalen Ökonomie. Es ist notwendig, dass das Volk von der demokratisch-kommunalen Wirtschaftsweise überzeugt ist und diese selbst umsetzt. Vor diesem Hintergrund ist es sehr wichtig, die ideologische Hegemonie der Kapitalistischen Moderne in diesem Bereich zu brechen. Sonst lässt sich das von uns beschriebene ökonomische Modell nicht umsetzen.
Kommunen und Kooperativen
Die kommunale Ökonomie basiert auf einer Vielzahl unterschiedlicher wirtschaftlicher Zusammenschlüsse, die jeweils kommunal organisiert sind. Die verschiedenen Gemeinschaften organisieren sich in diesem System in Form von Kommunen. Das können kleinere, aber auch große Produktionskommunen sein. Diese Kommunen befassen sich damit, die gesellschaftlichen Bedürfnisse im Bereich von Landwirtschaft, Industrie und Handel zu befriedigen. Kooperativen sind eine weitere Form der gemeinschaftlichen Ökonomie. Verschiedenste Kooperativen, die sich um Produktion, Verteilung, Handel, Transport oder ähnliche Bereiche kümmern, können in diesem Rahmen aufgebaut werden. Natürlich handelt es sich bei all dem um Entscheidungen, die im Kontext eines demokratischen Systems, das auf einer organisierten und demokratischen Gesellschaft basiert, mit der Bevölkerung diskutiert werden müssen. Es darf keinerlei Zwang geben. Zugleich wird das demokratisch-gesellschaftliche System natürlich den Aufbau dieser Art von ökonomischen Zusammenschlüssen aktiv unterstützen. Je mehr das Volk die positiven Seiten dieses von ihm selbst aufgebauten Wirtschaftssystems erkennt, desto stärker wird sich die kommunale Ökonomie mit jedem Tag ausweiten. Historisch betrachtet haben immer Produktionsformen existiert, die auf der Arbeit von Einzelnen oder Familien basieren. Auch hat es stets kleine Betriebe gegeben, die nicht monopolistisch ausgelegt waren. So lange diese Art der Betriebe nicht zum Hauptbestandteil des Wirtschaftssystems werden, werden sie ihren Beitrag zur kommunal-demokratischen Wirtschaft leisten, diese somit vervollständigen und damit ihre Existenz aufrecht erhalten. Entscheidend ist, dass die kommunale Wirtschaft sich durchsetzt und der Wirtschaftsbereich, der auf von Einzelnen betriebenen privaten Kleinbetrieben basiert, nicht zum Hauptwirtschaftsbereich wird. In diesem Rahmen können sowohl Privat- als auch Gemeinschaftsbesitz gleichzeitig fortbestehen.
Kommunale Ökonomie als ganzheitliches und produktives System
Es darf nicht zu Versuchen kommen, von der Wirtschaft, die auf dem alten gesellschaftlichen und politischen System basiert, mit Gewalt Besitz zu ergreifen. Die Kapitalistische Moderne greift in alle Bereiche ein, schließt kleine Produktionsbetriebe zusammen oder macht sie überflüssig, um ihren eigenen Einfluss zu vergrößern. Sie steigert in allen Bereichen ihren ökonomischen Einfluss und macht ihn letztendlich zur dominanten Kraft. Deshalb muss sich die kommunale Ökonomie ebenso zu einem ganzheitlichen und produktiven System entwickeln, in dem die Beteiligung der Bevölkerung vorangetrieben und dadurch eine stetige Weiterentwicklung gesichert wird.
In der kommunalen Ökonomie wird Produktivität natürlich nicht nur in Form ökonomisch-numerischer Werte bemessen. Sie umfasst vielmehr verschiedenste Dimensionen wie zum Beispiel gesellschaftliche Rechte, Gerechtigkeit, Effektivität, die Psyche oder Ethik. Ökologie ist ein Bereich, der unbedingt Beachtung finden muss. Wenn vorrangig ökonomisch-numerische Werte berücksichtigt und dabei ethische Werte oder psychologische Aspekte ignoriert werden, wird sich am Ende eine Situation ergeben, wie wir sie aus der Zeit des Zusammenbruchs des Realsozialismus kennen. Den Unterbau des Realsozialismus als Ökonomie zu verstehen, Kultur, Ideologie etc. aber als Überbau zu definieren, war sowieso einer der zentralen Fehler der sozialistischen Führungspersönlichkeiten. Sie setzten sich nicht ausreichend mit der Bedeutung moralischer Werte auseinander, weil sie davon ausgingen, diese hätten keinen direkten Einfluss auf den ökonomischen Unterbau. Der Realsozialismus dient also nicht als Grundlage für das von uns vorgesehene ökonomische Modell. Wir zielen auf ein ganzheitliches ökonomisches Modell ab, das auf Demokratie, Freiheit, auf moralischen und kulturellen Werten basiert. Um es kurz auf den Punkt zu bringen: Der Kapitalismus ist zu einer schweren Last für die gesamte Menschheit geworden. Selbst die Kräfte der Kapitalistischen Moderne suchen heute nach neuen Wirtschaftsmodellen – die den Kapitalismus selbst natürlich nicht überwinden – um sich am Leben zu halten. In solch einer Zeit müssen die Kräfte, die für die Völker und für Freiheit, Demokratie und Sozialismus kämpfen, den Aufbau eines gesellschaftlichen Wirtschaftssystems, das den Kapitalismus überwindet, als eine ihrer wichtigsten Aufgaben begreifen.
Sozioökonomische Entwicklungen in Rojava
Können Sie kurz von einigen der sozialen und ökonomischen Errungenschaften und Erfolge in Rojava berichten?
Da wir selbst keinen direkten Einblick in die sozioökonomischen Entwicklungen in Rojava haben, können nicht umfassend von ihnen berichten. Es kann daher durchaus sein, dass auf Grundlage der Entwicklungen, von denen wir lediglich gehört bzw. erfahren haben, kein umfassendes Bild entsteht. Wir können jedoch nur von den Entwicklungen berichten, von denen wir wissen und von deren Umsetzung wir überzeugt sind.
Allein der Fakt, dass die Bevölkerung Rojavas seit mittlerweile acht Jahren ohne Staat lebt, hat wichtigen Entwicklungen den Weg bereitet. Staaten stellen ein Hindernis für die verschiedenen Formen gesellschaftlicher und politischer Entwicklungen dar. Wirtschaft bedeutet für den Staat nichts anderes als ein Bereich, in dem sich Ausbeutung realisieren lässt. Der Staat ist eine Institution enormen Ausmaßes. Allein die Versorgung des Staates stellt eine massive Belastung für die Bevölkerung dar. Unter der Last eines Staates wird die Gesellschaft zerstört und verliert ihre eigene Willenskraft. In diesem Sinne sorgt ein Leben ohne Staat dafür, dass Gesellschaften und Individuen ihren eigenen Willen zurückgewinnen. Das nichtstaatliche Dasein entspricht sowieso zu einem Großteil der Demokratie. Daher hat Rojava im Laufe der vergangenen acht Jahre sehr wichtige demokratische Erfahrungen gemacht. Dort werden Entscheidungen durch die organisierte Gesellschaft gefällt. Die Frauen und die Jugend sind organisiert. Aufgrund ihrer organisierten Kraft stellen sie im Rahmen des gesellschaftlichen und politischen Lebens sehr wichtige Akteure dar. Wer sie ignoriert, kann in Rojava das gesellschaftliche und politische Leben nicht mitgestalten. Diese beiden grundlegenden gesellschaftlichen Kräfte haben das Erscheinungsbild Rojavas vollständig verändert.
Die kommunale Ökonomie hat ein großes Entwicklungspotential
Rojava ist noch immer von feindlichen Kräften umzingelt. Der syrische Staat weigert sich noch immer, das demokratische System Rojavas zu akzeptieren. Der türkische Staat hält gemeinsam mit seinen islamistischen Söldnern Efrîn, Serêkaniyê und Girê Spî besetzt. Es besteht also permanent die Gefahr, dass die Besatzung ausgeweitet und die Revolution zerschlagen wird. In dieser Lage gewinnt die Selbstverteidigung an Bedeutung. Alle Arbeiten erfolgen damit zwangsläufig im Rahmen der Selbstverteidigung. In der Vergangenheit ist es nicht ausreichend gelungen, Gefahren in gewissen Bereichen ausreichend Beachtung zu schenken und die Revolution dementsprechend zu organisieren. Davon haben die Besatzungskräfte profitiert. Es führt also zu gewissen Fehlschlüssen, wenn wir die aktuellen Bedingungen in Rojava bzw. Nord- und Ostsyrien als völlig normal betrachten.
In Rojava existiert heute kein staatlicher Wirtschaftszweig mehr. Die Revolution selbst, aber auch die andauernden schweren Angriffe haben zu folgender Situation geführt: Es besteht ein sich nur langsam entwickelndes kommunales Wirtschaftssystem inklusive Produktions- und Konsumbetriebe in Form von Kooperativen, die von Familien im ländlichen Raum betriebene Landwirtschaft und Viehzucht und zudem in Städten und Kleinstädten der Handel und kleine Betriebe, die von Individuen betrieben werden. Es gibt dort dementsprechend kein ökonomisches System, in dem staatlich betriebene Wirtschaftsbetriebe existieren bzw. eine ausschlaggebende Rolle spielen. Die Wirtschaft ist zum Großteil von kommunalen ökonomischen Vereinigungen und Kooperativen, die im Rahmen der Revolution entstanden sind, und zudem von der Landwirtschaft, dem Handel und kleinen Familienbetrieben im ländlichen Raum geprägt. Rojava war früher bereits das Zentrum Syriens für Landwirtschaft und Viehzucht. Auch heute befindet sich die Region noch in einer ähnlichen Lage. Die kommunale Ökonomie hat in diesem Gebiet ein großes Entwicklungspotential. Dort existiert noch immer eine stark ausgeprägte gesellschaftliche Kultur. Von daher entsteht durch die Entwicklung der kommunalen Ökonomie zunehmend die ökonomische Basis für ein demokratisch-konföderales System, das sich auf eine organisierte und demokratische Gesellschaft stützt.
Nächster Teil: Was hat die PKK für die Bevölkerung in den verschiedenen Gebieten Kurdistans erreicht?