Kongra-Gel-Vorsitzender Remzi Kartal
Nach über 40 Jahren des bewaffneten Kampfes hat der in der Türkei inhaftierte Begründer der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), Abdullah Öcalan, in einem von der DEM-Partei überbrachten Brief dazu aufgerufen, die Waffen ruhen zu lassen, um den Weg zu Demokratie und einer politischen Lösung der kurdischen Frage zu ebnen. Das hat international hohe Welle geschlagen – und nährt die Hoffnung, dass nach über 40 Jahren Krieg zwischen dem türkischen Staat und den Kurd:innen nun Frieden einkehrt. In einem Interview mit Argeş Viyan von der Zeitung „Ronahî“ erläutert Remzi Kartal, Ko-Vorsitzender des Volkskongress Kurdistan (Kongra-Gel), die weitreichende Bedeutung eines möglichen Friedensprozesses, dessen Tür Öcalan mit seinem Aufruf aufgestoßen hat. Kartal betont, dass ein Erfolg nicht nur für die Kurd:innen, sondern für die gesamte Nah- und Mittelostregion und darüber hinaus von Bedeutung sei.
Wie bewerten Sie den von Abdullah Öcalan angestoßenen Friedensprozess und die Gespräche zwischen ihm und einer Delegation der DEM-Partei?
Die Gespräche mit Abdullah Öcalan sind eine Konsequenz des Dritten Weltkriegs, dessen Zentrum der Mittlere Osten bildet. Seit Jahren schon ist diese Region aufgrund der geopolitischen Entwicklungen von großer Unsicherheit geprägt. Besonders nach der Revolution in Rojava war man gewillt, die Errungenschaften des kurdischen Volkes zu zerschlagen. Der türkische Staat strebte mit allen Mitteln die Zerschlagung der Freiheitsbewegung an. Dieser Versuch gilt als gescheitert, was zu anhaltenden wirtschaftlichen und politischen Krisen in Nordkurdistan und der Türkei führte. Die jüngeren Entwicklungen im Mittleren Osten, wie etwa der Konflikt zwischen Israel und der Hamas, aber auch der Krieg in der Ukraine, haben die politische Unsicherheit weiter verschärft. Dies hat wiederum die Stabilität der AKP/MHP-Regierung in der Türkei erschüttert. Auch die geopolitischen Ambitionen von Akteuren wie den USA und Israel, die eine Neugestaltung der Region anstreben, haben den Nahen Osten weiter destabilisiert. Dabei geht es insbesondere um die Schaffung einer regionalen Ordnung, die die Hegemonie Israels in der Region stärkt. Im Grunde genommen möchte jede Macht, die im Mittleren Osten dominiert, die Region nach ihren eigenen Interessen gestalten. Abdullah Öcalans Paradigma, das die Freiheit der Völker in den Mittelpunkt stellt, spielt deshalb eine bedeutende Rolle bei der Lösung von Konflikten im Mittleren Osten. Besonders nach den Ereignissen in Rojava wurde deutlich, dass seine Ideen eine Schlüsselrolle bei der Überwindung regionaler Spannungen spielen. Öcalans Bemühungen führten dazu, dass die türkische Regierung, trotz anfänglicher Ablehnung, schließlich zu Gesprächen mit ihm auf Imrali gezwungen wurde. Dieser Dialog könnte nicht nur in Kurdistan, sondern auch im gesamten Mittleren Osten zu einem neuen Friedensprozess führen. Vertreter:innen der DEM-Partei haben bereits Gespräche mit der türkischen Regierung aufgenommen, die eine wichtige Rolle im weiteren Verlauf des Friedensprozesses spielen könnten. Öcalans Perspektiven gewinnen zunehmend Einfluss und könnten einen entscheidenden Beitrag zur Stabilität der Region leisten.
Abdullah Öcalan hat von Imrali aus Briefe und Botschaften an verschiedene Teile der Freiheitsbewegung gesandt, darunter auch an die Kurd:innen in Europa. Können Sie uns nähere Informationen dazu geben?
Abdullah Öcalan hat seine Perspektiven zur kurdischen Frage, die sich in einer neuen Phase befindet, mit allen relevanten Akteur:innen kommuniziert. Besonders die legalen politischen Parteien in der Türkei wurden in die Gespräche und Planungen einbezogen, um den Friedens- und Demokratisierungsprozess voranzutreiben. Öcalan fordert von den demokratischen Kräften, diesen neuen Prozess aktiv zu unterstützen und zu fördern. Gleichzeitig hebt er die Verantwortung aller kurdischen Parteien und Organisationen hervor, eine entscheidende Rolle in dieser historischen Phase zu spielen und die kommenden Veränderungen mitzugestalten. Er ruft dazu auf, in allen Teilen der Welt, in denen die Revolution stattfindet, die Arbeit zu verstärken und die Bewegung voranzutreiben. In seinen Botschaften wandte sich Öcalan auch an die kurdische Diaspora in Europa sowie an die internationale Solidaritätsbewegung. Ein zentraler Punkt seiner Aussagen war die Aufforderung an die Kurd:innen, ihre Organisationen weiter auszubauen und die kurdische Revolution weltweit bekannt zu machen. Öcalan betont, dass dieser Prozess nicht nur den Kurd:innen, sondern der ganzen Welt zugutekommen soll. Daher sei eine breite Unterstützung für den Friedens- und Demokratisierungsprozess notwendig, um nachhaltige Veränderungen zu erreichen. Dabei unterstreicht er, dass ernsthafte Anstrengungen und eine enge Zusammenarbeit erforderlich sind, um den Fortschritt voranzutreiben. Abschließend stellt er klar, dass in allen Bereichen eine grundlegende Veränderung angestrebt wird und von den relevanten Akteur:innen erwartet wird, starke Grundlagen für die Umsetzung dieser Veränderungen zu schaffen. Die Hauptverantwortung liege dabei bei den freiheitsliebenden Menschen selbst.
Um ein grundlegendes Ergebnis zu erzielen, kommen sowohl der Freiheitsbewegung Kurdistans als auch der türkischen Regierung und ihren Vertretern spezifische Aufgaben zu. Welche sind das auf beiden Seiten?
Dieser Prozess stellt für beide Seiten ein äußerst sensibles und bedeutendes Unterfangen dar. Er ist das Resultat jahrelangen Widerstands der Völker, der mit vielen Herausforderungen und Widrigkeiten verbunden war. Abdullah Öcalan hat sich auf große Ziele vorbereitet, um den Weg in eine freie Zukunft zu ebnen und einen klaren Plan entwickelt, um diese zu erreichen. Durch diesen Widerstand wurden die Freiheitsbestrebungen von Öcalan verwirklicht. Es liegt in der Verantwortung der Kräfte, die verschiedene Identitäten und gesellschaftliche Überzeugungen vereinen, diesen Prozess entscheidend mitzugestalten. Auf der Grundlage von Öcalans Paradigma der Demokratischen Nation ist es erforderlich, eine Einheit unter den Völkern zu schaffen. Öcalans Visionen und Perspektiven müssen auf beiden Seiten verstanden und umgesetzt werden. Besonders wichtig ist dabei die Zusammenarbeit in Nord- und Ostsyrien, die nicht nur von großer Bedeutung ist, sondern auch dringend gestärkt werden muss. Diese Verantwortung fällt der Führung der Selbstverwaltung in Nord- und Ostsyrien zu. Denn es gibt viele Akteur:innen, die versuchen, die Kurd:innen zu spalten und den Zusammenhalt der Völker zu zerstören, was die demokratische Einheit der Völker gefährden könnte. Die Pläne des türkischen Staates, die den Prozess behindern und die Zusammenarbeit der Völker erschweren, dürfen nicht erfolgreich sein. Nur wenn diese Versuche vereitelt werden, kann der neue Prozess zu einem echten Erfolg werden, der zu einer gerechten Lösung für die unterdrückten Völker und Gesellschaften führt.
Was ist Ihre Botschaft an diejenigen, die diesen Prozess skeptisch betrachten?
Die Botschaft und der Prozess, die Abdullah Öcalan für die Führung der Volksbewegung initiiert hat, tragen das Potenzial in sich, tiefgreifende Auswirkungen auf den Mittleren Osten und die weltweite politische Ordnung zu entfalten. Demokratische Kräfte und Völker sind dazu aufgerufen, Verantwortung zu übernehmen, denn dieser Prozess betrifft nicht nur das kurdische Volk, sondern ist von globaler Bedeutung. Das kurdische Volk und die Region haben den dringenden Bedarf an Frieden und Stabilität erkannt, und der Moment scheint nun reif, diese Notwendigkeit zu verwirklichen. Abdullah Öcalans Konzept zur Lösung der kurdischen Frage erfordert ein gemeinsames Verständnis und die aktive Beteiligung aller Akteur:innen, um diesen historischen Prozess voranzutreiben. Der Schlüssel zur Lösung sowohl regionaler als auch globaler Herausforderungen liegt in der Freiheit Abdullah Öcalans und der Bewältigung der Anliegen der unterdrückten Völker. Wir als Freiheitsbewegung, sowie die Völker in Europa und der Diaspora, setzen uns entschlossen dafür ein, dass das Jahr 2025 als das Jahr der Freiheit für Abdullah Öcalan und der Lösung der drängendsten Fragen der Völker in die Geschichte eingeht. Mit Hoffnung und Zuversicht begrüßen wir die Botschaften von Abdullah Öcalan und senden unsere solidarischen Grüße an den Widerstand von Imrali.
Foto von Remzi Kartal © Shnoyi Mendan / ANF