Karayilan: Im Krieg zählen Überzeugung und Entschlossenheit

Murat Karayilan hat eine über Funk an alle Guerillaeinheiten übertragene Ansprache gehalten, in der er die wesentlichen Elemente des Kampfes und die NATO-Unterstützung für den Vernichtungsfeldzug des türkischen Staates analysiert.

Murat Karayilan hat als Kommandant des Volksverteidigungszentrums (Navenda Parastina Gel, NPG) über Funk eine Ansprache an die Guerilla gehalten. „Der Kampf besteht im wesentlichen aus drei Elementen: Ideologie, Überzeugung und die Entschlossenheit der kämpfenden Kräfte. Wir versuchen im Moment in der Praxis zu zeigen, dass der Wille und die Fähigkeiten von Menschen moderne Technologie besiegen können. Das ist es, was wir in allen Guerillagebieten gerade machen“, sagte Karayilan in der vor einigen Tagen über Funk verbreiteten Rede. Für die Apocu, die von Abdullah Öcalan ins Leben gerufene Bewegung, gelte der Grundsatz, auf alle Probleme eine Antwort zu finden.

In seiner Ansprache an die Guerilla führte Karayilan unter anderem folgendes aus:

„Unser Kampf ist in die wichtigste Phase der Geschichte eingetreten. Der Widerstand gegen den massiven Angriff des Regimes aus AKP, MHP und Ergenekon hat einen sehr bedeutungsvollen Punkt erreicht. Bekanntlich verfolgt dieses Regime einen Vernichtungsplan, um den Befreiungskampf in Kurdistan aufzuhalten. Im Kern beinhaltet dieser Plan die Eliminierung der Befreiungsbewegung und eine erfolgreiche Umsetzung der Genozidpolitik gegen unser Volk. Um dieses Ziel zu erreichen, hat sich der türkische Staat vorgenommen, das internationale Komplott neu zu beleben. Er nutzt seine NATO-Mitgliedschaft und die geostrategische Lage der Türkei, um Großmächte wie Russland und die USA gegeneinander auszuspielen und von allen Seiten Unterstützung bei der Zerschlagung unserer Bewegung zu bekommen.

Fünf Zielsetzungen im Vernichtungskonzept

Innerhalb dieses Konzepts hat sich der türkische Staat fünf wesentliche Ziele gesetzt: Erstens sollte mit dem Angriff, der mit der Totalisolation und psychologischen Folter von Rêber Apo [Abdullah Öcalan] begonnen hat, ein Rückschlag erwirkt werden. Zweitens hatte er sich vorgenommen, die Guerilla bis 2017 vollständig auszuschalten und das Kontrollsystem der Kommandoebene zu zerschlagen. Drittens sollten die Massen in Nordkurdistan mit faschistischen Methoden unterdrückt, zerstreut und zur Kapitulation gezwungen werden. Um dieses Ziel zu erreichen, sollten der demokratischen kurdischen Politik alle Mittel genommen werden. Auf gleiche Weise sollten auch die linken und sozialistischen Bewegungen in der Türkei zurückgeschlagen werden. Viertens wollte der Staat sein politisches Gewicht dafür benutzen, dass die Kräfte der Revolution von Rojava auf die Terrorliste aufgenommen werden. Die Zerschlagung der Revolution von Rojava war ein wesentliches Ziel. Fünftens sollte der Widerstand des ezidischen Volkes in Şengal gebrochen werden. Das war kurz gesagt das Ziel dieses kolonialistischen Staats. Und hatte er Erfolg? Nein, sein Misserfolg ist offenkundig und gleichzeitig der Grund dafür, dass dieses Regime sich in einer tiefen Krise befindet. Inzwischen wird überall über seinen bevorstehenden Zerfall gesprochen. Es wird nicht mehr über die Zukunft dieses Regimes diskutiert, sondern darüber, was darauf folgen wird. Eigentlich wollte das Regime uns vernichten. Das ist ihm nicht gelungen und jetzt befindet es sich selbst in einem Zerfallsprozess.

Gladio-Unterstützung für moderne Waffentechnologie

Insbesondere in den letzten sechs Jahren haben sehr schwere Angriffe auf Rêber Apo und alle unserer Weggefährt:innen in den Gefängnissen, die Freiheitsguerilla, unser Volk, den demokratisch-politischen Bereich, linke und sozialistische Kräfte stattgefunden. Im wesentlichen geht es darum, dass die globalen Kapitalmächte und die NATO seit dem Beginn unseres bewaffneten Kampfes am 15. August 1984 eine Niederlage der türkischen Armee verhindern wollen. 2012 haben sie gesehen, dass die türkische Armee in einer schwierigen Lage ist und sich eine Niederlage abzeichnet. Aus diesem Grund ist die Waffenstillstandserklärung akzeptiert worden. In dieser Zeit haben sie in eine neue paramilitärische Kraft in der Türkei organisiert und der türkischen Armee mit Gladio-Unterstützung modernste Technologie angeboten. Teile davon sind direkt geliefert worden, andere Teile konnten aufgrund der Reaktion in der Öffentlichkeit nur indirekt weitergegeben werden. Jedes Land hat ein Teil geliefert und die entsprechenden Formeln für die Produktion gleich mitgeschickt. Das gilt beispielsweise für die Drohnen, mit denen Erdogan sich brüstet und von denen er behauptet, dass sie aus eigener Produktion stammen.

Das Koordinationszentrum der Bewegung sollte zerschlagen werden

Unterdessen haben die Komplott-Mächte immer aktiver eingegriffen. In Absprache sind Efrîn, Serêkaniyê und Girê Spî in Rojava besetzt worden. Kurdische Kollaborateure wurden aktiviert und es wurde zugelassen, dass der MIT überall in Kurdistan Agentennetzwerke organisiert. Der nachrichtendienstliche Austausch wurde verbessert. Als das immer noch nicht zum Erfolg führte, sind die Medya-Verteidigungsgebiete ins Zentrum der Planung für 2021 gerückt worden. Es wurden Vorbereitungen getroffen, damit die PDK kollaboriert und die irakische Regierung Stillschweigen bewahrt. Wie beim Komplott vom 15. Februar 1999 [Verschleppung von Abdullah Öcalan in die Türkei] war ein Prozess vorgesehen, in dem die Befreiungsbewegung aus den Medya-Verteidigungsgebieten vertrieben und die Koordinationszentren der Bewegung zerschlagen werden sollten.

Um diesen Plan erfolgreich umzusetzen und für einen gelungenen Start ins neue Jahr hat noch vor Ende des Winters im Februar ein überraschender Angriff auf Gare stattgefunden. Ziel war dabei die Zerschlagung des Zentralgebietes der Guerilla. Bekanntlich hat der von Kommandant Şoreş Beytüşşebap angeführte Widerstand diesen Angriffsplan zunichte gemacht. Der Staat hat daraus jedoch Schlüsse gezogen und ging davon aus, dass bessere Ergebnisse erzielt werden können, wenn die Invasion in grenznahen Gebieten beginnt.

Die Rechnung ist nicht aufgegangen

Auf dieser Grundlage hat am 23. April der Angriff auf Avaşîn, das Ertuş-Gebiet im Zap und das Gebiet Qaşura in Metîna begonnen. Der Feind ist davon ausgegangen, dass unsere Kräfte gegen seine Waffentechnologie nicht standhalten können und er innerhalb von einer oder zwei Wochen die Kontrolle über diese Gebiete gewinnen kann. Danach wollte er in höchstens zwei bis drei Monaten die gesamten Medya-Verteidigungsgebiete besetzen. Diese Rechnung ging nicht auf. In einigen Regionen sind zwar Besatzungstruppen stationiert worden, aber sie beherrschen die Gegend nicht. Um sich aus dieser Situation zu retten, sind Einheiten der PDK ins Spiel gebracht worden. Auch damit sind nicht die gewünschten Ergebnisse erreicht worden. Der türkischen Staat treibt trotz internationaler Unterstützung vor dem Tor zu den Medya-Verteidigungsgebieten auf eine große Niederlage zu.

Drei wesentliche Faktoren in der Kriegsführung

In dieser Zeit hat sich die Richtigkeit unserer neuen taktischen Perspektive bewiesen. Die Guerilla ist umstrukturiert worden und kämpft in kleinen und speziell ausgebildeten Gruppen. In dieser Hinsicht war die Praxis der letzten sieben Monate für uns sehr wichtig. Die Guerilla hat sich auf die Feststellung von Rêber Apo konzentriert: Der Mensch ist die größte Technik. Im Kampf gegen die Technologie ist ein wichtiges Niveau erreicht worden. Eigentlich hat die entwickelte Technologie mehr noch als die Waffen die Informationsbeschaffung verbessert. In den Kriegen der heutigen Zeit sind nachrichtendienstliche Erkenntnisse ein elementarer Faktor. Es gibt heute drei wesentliche Faktoren im Krieg: An erster Stelle steht der Mensch. Ein erfolgreicher Kampf kann nicht mit einfachen klassischen Soldaten geführt werden, sondern erfordert ausgebildete, professionelle und überzeugte Kräfte. Für die Entwicklung von Fähigkeiten und die Entstehung von Kampfgeist sind ideologische Entschlossenheit und Überzeugung ein grundlegender Faktor. Der zweite Faktor ist die Informationsbeschaffung und der dritte sind die technischen Waffen. Vielleicht könnten auch noch die Methoden der psychologischen Kriegsführung genannt werden, aber im Vordergrund stehen diese drei Faktoren.

Ideologische Überzeugung und Entschlossenheit

Wer diese Realität verkennt, kann heutzutage keinen Erfolg im Krieg haben. Ein hervorstechendes Beispiel dafür ist die Armee Armeniens. Erfolgsmöglichkeiten ergeben sich im wesentlichen durch eine richtige Bewegungsweise und taktische Kreativität, mit der die nachrichtendienstlichen Erkenntnisse der Gegenseite ins Leere geführt werden. Wichtig bei diesem Thema sind taktische Intensität, Tiefe, Flexibilität und Manövrierfähigkeit. In diesem Zusammenhang werden auch Geheimhaltung und Disziplin noch wichtiger, insbesondere im Guerillakampf sind diese Grundsätze wesentliche Standbeine. Dafür sind bewusste, organisierte, geplant handelnde und gut ausgebildete Menschen notwendig.

Wenn eine Kraft nicht auf ideologischer Überzeugung basiert, kann sie im Krieg auch mit den modernsten Waffen der Welt und hohen Gehältern keine Ergebnisse erzielen. Ein aktuelles Beispiel dafür ist die afghanische Armee, die von den USA ausgebildet und mit modernen Waffen ausgestattet wurde und trotzdem angesichts der Taliban zusammengeschmolzen ist wie Eis. Krieg basiert auf drei wesentlichen Elementen: Ideologie, Überzeugung und Entschlossenheit der kämpfenden Kräfte. Wir versuchen im Moment in der Praxis zu zeigen, dass der Wille und die Fähigkeiten von Menschen moderne Technologie besiegen können. Das ist es, was wir jetzt in allen Guerillagebieten machen. Während wir diese Realität in Kurdistan Schritt für Schritt offenlegen, hat die Taliban-Bewegung das eigentlich in dem von ihr geführten Krieg explizit vorgelegt. Unabhängig von der Ideologie der Taliban kann keine Technologie angesichts einer auf der Gesellschaft basierenden Bewegung Resultate im Krieg erzielen. Das ist auch im Krieg in Afghanistan deutlich geworden.

Angstimperium und psychologische Kriegsführung

Momentan erfinden die Banden an der Spitze des türkischen Staates ständig neue Erfolgsgeschichten und behaupten, dass sich niemand mehr anschließt und die Anzahl der Guerilla im Norden gesenkt worden ist. Damit soll auch die Gesellschaft der Türkei getäuscht werden. Wenn sich tatsächlich niemand mehr anschließt und ihr so mutig seid, dann baut doch die Kameras von den Wegen ab und zieht eure Agenten und Polizisten ab. Dann wird man ja sehen, ob junge Kurdinnen und Kurden in die Berge strömen oder nicht. Ihr habt für fast jede Person einen Polizisten abgestellt, Hunderte sind auf dem Weg aufgehalten und ins Gefängnis gesteckt worden. Und jetzt kommt ihr an und betrügt die Gesellschaft mit der Behauptung, dass ihr die Beteiligung an der Guerilla gestoppt habt. Ihr glaubt, dass ihr mit eurem Angstimperium, mit Unterdrückung, Gewalt und Lügen im psychologischen Krieg weiterkommt. Die Ergebnisse des Kampfes werden nicht öffentlich gemacht. Manchmal werden einzelne Verluste in Südkurdistan benannt, aber die Aktionen im Norden werden nie erwähnt und die Verluste akribisch geheim gehalten. Und warum? Weil immer Propaganda damit gemacht worden ist, dass die Guerilla in Nordkurdistan angeblich handlungsunfähig gemacht wurde. Wenn jetzt eine Aktion öffentlich gemacht wird, würden die Lügen auffliegen.

Oftmals heißt es auch, dass so und so viele Personen überzeugt worden sind und sich ergeben haben. Tatsächlich haben sich noch nie so wenige Personen von unserer Bewegung getrennt wie in den letzten Jahren. Trotzdem wird ständig über vermeintliche Abspaltungen und Auflösungstendenzen berichtet. In der Vergangenheit hat es zur Zeit von Massenbeitritten Personen gegeben, die irgendwie in unsere Bewegung geraten sind. In dieser Zeit gab es auch Abspaltungen. Die meisten werden im Süden unter der Kontrolle der PDK festgehalten. Die PDK verkauft sie an den türkischen Staat. Und der Staat führt diese Leute vor und tut so, als ob sie gerade erst von uns weggelaufen wären. Das ist Teil der psychologischen Kriegsführung. Die Wahrheit wird verheimlicht oder verdreht, um die öffentliche Wahrnehmung zu manipulieren.

Auf alle Fragen eine Antwort finden

In einer Ansprache zum 15. August 2015 haben wir über Funk gesagt: Unser größter Feind sind unsere eigenen Unzulänglichkeiten. Das wurde gesagt, um den Feind zu besiegen, also unsere eigenen Mängel und Gewohnheiten zu besiegen. Im Apoismus gilt der Grundsatz, auf alle Fragen eine Antwort zu finden. Lösungsunfähigkeit wird niemals akzeptiert, das hat keine Platz in der Philosophie der Apocu. Am schlimmsten sind Hilflosigkeit und Unentschlossenheit.