Die Türkei, Schweden und Finnland haben sich im Zuge der NATO-Beitrittsverhandlungen im Juni auf ein trilaterales Memorandum hinsichtlich türkischer „Sicherheitsbedenken" verständigt. Darunter fallen auch die ausstehenden Auslieferungsanträge der Türkei für „Terrorverdächtige". Infolge dieser Vereinbarung und unter klarer Verletzung des Völkerrechts lieferte Schweden am 2. Dezember den kurdischen Geflüchteten Mahmut Tat aus, der in der Türkei wegen Terrorismus verurteilt worden war und jetzt im Gefängnis ist.
Die beiden außenpolitischen Sprecher:innen der HDP, Feleknas Uca und Hişyar Özsoy, haben eine Erklärung zu diesem Fall und seinen Hintergründen veröffentlicht und rufen die internationale Gemeinschaft auf, nicht zu schweigen, wenn das kurdische Volk wieder einmal aus geopolitischen Gründen und Erwägungen geopfert wird. Die zuständigen Behörden in der EU, dem Europarat und der UNO werden zu konkreten Maßnahmen aufgefordert, um Verstöße gegen das Völkerrecht und alle Menschenrechtskonventionen zu unterbinden.
In der am Mittwoch veröffentlichten Erklärung der HDP heißt es:
Schweden liefert kurdischen Flüchtling an die Türkei aus
Die türkische Außenpolitik gegenüber Europa und dem Westen im Allgemeinen war in den letzten Jahren durch verschiedene Formen von Drohungen und Erpressungen gekennzeichnet. Ein jüngstes Beispiel für diese Politik ist die Drohung der Türkei, die Mitgliedschaft Finnlands und Schwedens in der NATO mit der Begründung zu verhindern, dass diese beiden Länder Organisationen unterstützen, die die Türkei als Terroristen betrachtet, nämlich die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und die Volksverteidigungseinheiten (YPG).
Die Türkei, Schweden und Finnland trafen sich in Madrid und unterzeichneten am 28. Juni 2022 ein trilaterales Memorandum, um auf die „Sicherheitsbedenken" der Türkei einzugehen, darunter auch auf die ausstehenden Auslieferungsanträge der Türkei für „Terrorverdächtige". Infolge dieses Abkommens und unter klarer Verletzung des Völkerrechts lieferte Schweden am 2. Dezember einen kurdischen Flüchtling, Mahmut Tat, aus, der in der Türkei wegen Terrorismus verurteilt worden war.
Wer ist Mahmut Tat?
Mahmut Tat war Busfahrer in Dersim (Tunceli), einer kurdischen Stadt in der Türkei. Im Jahr 2015 wurde er wegen Terrorismusvorwürfen zu einer Haftstrafe von sechs Jahren und zehn Monaten verurteilt. Nach Erhalt dieser Strafe beantragte er Asyl in Schweden. Drei Jahre nach seinem Asylantrag wurde Tat von der schwedischen Einwanderungsbehörde eingeladen und ihm mitgeteilt, dass sein Antrag abgelehnt und vom schwedischen Geheimdienst übernommen worden sei. Laut Tat sagten ihm die schwedischen Behörden, er sei eine „gefährliche" Person für ihr Land, weil die Türkei ihn suche. Zu seiner Verteidigung sagte er jedoch, dass er lediglich an „zwei demokratischen Protesten" in der Türkei teilgenommen habe, und dass diese Proteste zu Terrorismusvorwürfen geführt hätten. Nach der Auslieferung wurde Tat am 3. Dezember in Istanbul verhaftet. Tat stand nicht einmal auf der Liste der Personen, die die türkische Regierung ausliefern will.
Demokratischer Protest gilt in der Türkei seit 2015 als Verbrechen
Sich an demokratischen Protesten zu beteiligen, ist sicherlich kein Verbrechen, aber in der Türkei ist das so, seit die Regierung den Friedensprozess mit der kurdischen Bewegung 2015 beendet hat. Seitdem werden politische Aktivitäten der Demokratischen Partei der Völker (HDP), der drittgrößten Partei, die rund sechs Millionen Wähler:innen im türkischen Parlament vertritt, rechtswidrig als „Unterstützung des Terrorismus" kriminalisiert. Viele Kurdinnen und Kurden wurden verhaftet, weil sie sich einfach nur an regulären Aktivitäten der HDP, an demokratischen und friedlichen Protesten beteiligt oder sogar eine regierungskritische Nachricht auf Facebook oder Twitter gepostet haben.
Ausnahmezustand: In der Türkei gibt es keine Gewaltenteilung
Nach dem gescheiterten Putschversuch im Juli 2016 wurde die Türkei zwei Jahre lang mit einem Ausnahmezustand regiert. Der Ausnahmezustand wurde im Juli 2018 formell aufgehoben, doch die Praktiken des Ausnahmezustands wie willkürliche Verhaftungen, Folter, Verbote friedlicher Proteste und Verstöße gegen die Meinungs- und Pressefreiheit sind im Land weiterhin in vollem Umfang vorhanden. In diesem Prozess wurden mehr als 80.000 Bürgerinnen und Bürger der Türkei, darunter mehr als 6.000 kurdische Bürgerinnen und Bürger - die Ko-Vorsitzenden der HDP, mehrere Parlamentsabgeordnete, mehr als hundert gewählte Bürgermeister:innen, Gewerkschafter:innen, Vertreter:innen der Zivilgesellschaft, Journalist:innen, Akademiker:innen, Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte, Aktivist:innen und Studierende - unter unbegründeten Terrorismusvorwürfen verhaftet. In der Türkei gibt es keine Gewaltenteilung, keine unabhängige Justiz und keine Bedingungen für ein faires Verfahren. Unter dem Vorwand, Terrorismus und Putschisten zu bekämpfen, nutzt die Regierung eine durch und durch politisierte und militante Justiz, um die demokratische Opposition mundtot zu machen und insbesondere HDP-Politiker:innen und Aktivist:innen unter Terrorismusvorwürfen und willkürlichen Entscheidungen zu verhaften. Wie verschiedene unabhängige Menschenrechtsorganisationen sowie Organe des Europarats und der Vereinten Nationen dokumentiert haben, wurden viele dieser Personen gefoltert. Das Komitee zur Verhütung von Folter und verschiedene Menschenrechtsorganisationen haben wiederholt berichtet, dass in türkischen Gefängnissen systematische Rechtsverletzungen und Folter vorkommen.
Jede kritische Äußerung kann als terroristische Aktivität eingestuft werden
Die Türkei ist zu einem Land geworden, in dem jede Art von demokratischem Protest und Kritik an der Regierung als „terroristische Straftat" behandelt wird. Die Antiterrorgesetze der Türkei, die bereits antidemokratisch waren, wurden geändert und der Geltungsbereich dessen, was als Terrorismus gilt, noch weiter ausgedehnt, so dass jede kritische Äußerung gegen die Regierung als terroristische Aktivität eingestuft werden kann. Die Tatsache, dass die Definition von Terrorismus so umfassend und vage ist, wurde in den Beitrittsverhandlungen der Türkei mit der EU häufig angesprochen, und die Türkei wurde aufgefordert, ihr Gesetz zur Terrorismusbekämpfung im Einklang mit den EU-Standards zu ändern. In Berichten des Europäischen Parlaments, der Europäischen Kommission und des Europarats wurde die willkürliche Inhaftierung von Regierungsgegner:innen aufgrund vager Anschuldigungen im Zusammenhang mit Terrorismus kritisiert. Auch der EGMR hat die Türkei bereits unzählige Male wegen solcher Inhaftierungen verurteilt, zuletzt in den Fällen des ehemaligen HDP-Ko-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş und von HDP-Abgeordneten gegen die Türkei.
Aushöhlung der demokratischen Werte und des Völkerrechts
Angesichts dieses politischen Kontextes und Hintergrunds ist es so traurig und beschämend, dass ein Land wie Schweden, das zu den Grundpfeilern der europäischen Demokratie gehört, angesichts der Drohungen der Türkei eine unmenschliche Haltung einnimmt. Die Kurd:innen und Demokratiebefürworter:innen in der Türkei und im Ausland haben die Nachricht von der Auslieferung von Herrn Tat mit Enttäuschung aufgenommen. Die Missachtung von Werten wie Demokratie und Menschenrechten, auf denen die EU und der Europarat aufgebaut wurden, und die Verletzung des Völkerrechts, insbesondere des humanitären Flüchtlingsrechts, schaden nicht nur den Kurd:innen. Wenn diese Aushöhlung der demokratischen Werte und des Völkerrechts nicht verhindert wird, werden die europäischen demokratischen Werte und Institutionen von innen heraus korrumpiert und zerstört.
Auch das kurdische Volk hat ein Recht auf Sicherheit
Wir rufen die internationale Gemeinschaft auf, nicht zu schweigen, wenn das kurdische Volk wieder einmal aus geopolitischen Gründen und Erwägungen geopfert wird. Die zuständigen Behörden in der EU, dem Europarat und der UNO sollten konkrete Maßnahmen ergreifen, um solche unverschämten Verstöße gegen das Völkerrecht und alle Menschenrechtskonventionen zu unterbinden. Und wir fordern alle demokratischen und fortschrittlichen Kräfte in Schweden, Finnland und ganz Europa auf, kurdische Geflüchtete zu unterstützen und sich mit ihnen zu solidarisieren.
Die Sicherheit, die Schweden und Finnland zu Recht für ihre Bürgerinnen und Bürger wollen, ist auch ein Recht des kurdischen Volkes. Um es einfach und unverblümt zu sagen: Kein Kurde, der der türkischen Regierung kritisch gegenübersteht, fühlt sich in der Türkei und insbesondere in den türkischen Gefängnissen sicher und geborgen. Und das zu Recht.