HDP: Warum das Narrativ der türkischen Regierung keine Grundlage hat

Der HDP-Ausschuss für auswärtige Angelegenheiten hat einen Bericht mit Hintergrundinformationen über den Bombenanschlag in Istanbul und den Krieg der Türkei gegen Nord- und Ostsyrien veröffentlicht.

Die Demokratische Partei der Völker (HDP) hat einen Bericht zum Thema „Der Bombenanschlag in Istanbul und der Krieg der Türkei gegen Nord- und Ostsyrien (Rojava)" verfasst. Der vom HDP-Ausschuss für auswärtige Angelegenheiten am Montag veröffentlichte Bericht enthält viele Hintergrundinformationen darüber, wie die Türkei den ungeklärten Anschlag vom 13. November in Istanbul nutzt, um Krieg in Nord- und Ostsyrien (Rojava) zu führen. In dem Bericht heißt es:

In der Nacht vom 19. auf den 20. November startete die Türkei einen großen Luft- und Artillerieangriff auf Nord- und Ostsyrien (Rojava). Dies wurde als Reaktion auf den Bombenanschlag in Istanbul sechs Tage zuvor dargestellt, den der türkische Innenminister Süleyman Soylu am nächsten Morgen der „Terrorgruppe PKK/YPG" zugeschrieben hatte. (Die türkische Regierung weigert sich, zwischen der PKK und der YPG zu unterscheiden.) Nach dem Bombenanschlag sorgte ein Verbot der Verbreitung von Berichten über das Ereignis, die über die Regierungserklärungen hinausgingen, dafür, dass die offizielle Sichtweise nur begrenzt in Frage gestellt wurde.

Untersuchung von AKP/MHP-Koalition abgelehnt

Jeder Bombenanschlag erfordert eine umfassende Untersuchung seiner Ursache und der Täter, aber noch mehr, wenn er als Casus Belli benutzt wird - obwohl wir auch anmerken sollten, dass das internationale Recht eine solche militärische Reaktion auf einen Terroranschlag dieser Art in keinem Fall rechtfertigen würde. Die HDP hat im türkischen Parlament einen Vorschlag für eine umfassende Untersuchung des Bombenanschlags eingebracht, der jedoch mit den Stimmen der AKP/MHP-Mehrheitskoalition, die Präsident Erdoğan uneingeschränkt unterstützt, abgelehnt wurde. Mazlum Abdi, der Oberbefehlshaber der Demokratischen Kräfte Syrien (Syrian Demokratic Forces, SDF), die eng mit der Internationalen Koalition gegen den IS zusammenarbeiten und zu denen auch die YPG gehören, hat eine internationale Untersuchung gefordert.

Narrativ der türkischen Regierung hat keine Grundlage

Eine solche Untersuchung wird, falls sie jemals stattfindet, noch lange auf sich warten lassen. In der Zwischenzeit wollen wir darlegen, warum das Narrativ der türkischen Regierung keine Grundlage hat und jeder Logik widerspricht. Wer ihr Glauben schenkt, wenn sie zur Unterstützung eines aggressiven Krieges benutzt wird, unterstützt diese Aggression.

Da wir uns bisher nur auf die in den regierungsnahen Medien verbreiteten Informationen stützen können, wissen wir nicht, wie genau diese sind und was sonst noch bekannt ist, aber nicht veröffentlicht wurde. Es ist jedoch klar, dass die offizielle Darstellung des Innenministers und der ihm unterstellten Polizei voller Ungereimtheiten, Widersprüche und Unwahrscheinlichkeiten ist, die mit jedem neuen veröffentlichten Beweisstück zunehmen. Sowohl die PKK als auch die YPG haben eine Beteiligung an dem Anschlag entschieden bestritten und ihr Beileid für die Opfer bekundet. Die türkische Regierung hat diesen Bombenanschlag als Vorwand benutzt, um einen weiteren Angriff auf die Kurd:innen jenseits der Grenze zu rechtfertigen, und behauptet, es habe sich um einen Fall von „Selbstverteidigung" gehandelt. 

Ungereimtheiten, Widersprüche und Unwahrscheinlichkeiten

Grundlegende Details der Geschichte ändern sich ständig. So hieß es zum Beispiel, dass Ahlam Albashir, die Frau, die beschuldigt wird, die Bombe gelegt zu haben, über Efrîn in die Türkei gekommen sei. Später änderte sich dies in Idlib. Uns wurde gesagt, dass sie sich seit vier Monaten in der Türkei aufhält. Nachbarn berichteten, sie habe dort ein Jahr lang gelebt. Man sagte uns, sie habe die Tasche mit der Bombe eine Zeit lang zurückgelassen und sei dann zurückgekehrt, doch dies wurde durch die Videoaufnahmen widerlegt. Man sagte uns, dass sie eine ausgebildete PKK-Aktivistin sei und sowohl nach Griechenland fliehen als auch „eliminiert" werden solle. Sie wurde jedoch in Istanbul festgenommen, und die Kleidung, die sie zum Zeitpunkt des Bombenanschlags trug, wurde bei ihr in der Wohnung gefunden. Mehr als fünfundzwanzig Personen wurden nach dem Anschlag verhaftet, aber nicht eine von ihnen ist kurdisch. Alle sind arabischer Abstammung und viele von ihnen, darunter auch Albashir, haben entweder früher mit dem Islamischen Staat oder den türkischen Stellvertreterkräften in Syrien wie der Freien Syrischen Armee (FSA) zusammengearbeitet oder haben familiäre Verbindungen zu solchen Organisationen.

All dies untergräbt das offizielle Narrativ der türkischen Regierung, die sofort die Kurd:innen in Syrien beschuldigte, was wir als Versuch betrachten, die Situation zu vertuschen und zu mystifizieren, anstatt die Wahrheit zu enthüllen und herauszufinden, wer wirklich hinter dem Angriff steckt.

Hintergrund der Attentäterin

Mazlum Abdi erklärte gegenüber al-Monitor, die SDF hätten Albashirs Hintergrund untersucht und festgestellt, dass sie „aus einer Familie stammt, die mit dem Islamischen Staat verbunden ist". Drei ihrer Brüder starben im Kampf für den Islamischen Staat. Einer starb in Raqqa, ein anderer in Manbidsch und ein dritter im Irak. Ein weiterer Bruder ist Kommandeur der von der Türkei unterstützten syrischen Opposition in Efrîn. Sie war mit drei verschiedenen Kämpfern des Islamischen Staates verheiratet und die Familie stammt aus Aleppo."

Die Rolle des MHP-Politikers Mehmet Emin Ilhan

Ahmad Haj Hasan, der beschuldigt wird, den Bombenanschlag organisiert zu haben, soll bei der Polizei angegeben haben, dass sein Bruder im Kampf für die Freie Syrische Armee gestorben sei.

Albashirs Telefon zeigte, dass sie einige Anrufe von Mehmet Emin Ilhan erhalten hatte, einem Bezirksvorsitzenden der Partei der Nationalen Bewegung (MHP), die mit der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) verbündet ist und der Regierung wichtige Unterstützung leistet. Als Reaktion auf diese Entdeckung schwankte Ilhan zwischen dem Eingeständnis und dem Dementi, dass er zu einer polizeilichen Aussage aufgefordert worden war. Er behauptet, das Telefonkonto, das mit dem Bombenleger kommuniziert hat, habe seine Identität gestohlen. Es gibt keine Informationen über spätere Ermittlungen zu diesem Telefonkonto, um den Wahrheitsgehalt dieser Behauptung zu überprüfen. Wenn es sich tatsächlich um einen Identitätsdiebstahl handelt, muss der wahre Anrufer gefunden werden. Es ist überhaupt nicht schwierig, den Anrufer zu identifizieren, aber es gibt keinerlei Fortschritte in dieser Hinsicht. Wir vermuten, dass es keinen anderen Anrufer gibt.

Schlussfolgerungen

Wir haben gesehen, wie die Bombardierung als Vorwand für einen Angriff auf Nord- und Ostsyrien benutzt wurde, der dem öffentlich erklärten Ziel der türkischen Regierung entspricht, einen 30 Kilometer breiten Streifen entlang der gesamten Grenze zu kontrollieren. Wir stellen fest, dass dies nicht das erste Mal wäre, dass die Regierung einen Bombenanschlag fälschlicherweise der PKK zuschreibt (siehe z.B. den Anschlag in Ankara im Oktober 2015 oder den Anschlag in Diyarbakir im November 2016, zu denen sich der IS bekannt hat); dass es starke Verdachtsmomente (auch in einem Sicherheitsbericht der Europäischen Union) für eine Beteiligung des türkischen Geheimdienstes an den IS-Bombenanschlägen vor den Wahlen im November 2015 gab; und dass die Türkei im Vorfeld aller wichtigen Abstimmungen der letzten Zeit Invasionen in Syrien durchgeführt hat, angefangen mit dem Angriff auf Dscharablus vor dem Referendum 2017.

Die türkische Regierung behauptet, dass es Sicherheitsbedrohungen durch die SDF und die YPG in Nordsyrien gibt und die türkische Armee das Recht auf Selbstverteidigung nutzt. Die Daten des Armed Conflict Location and Event Data Project (ACLED) zeigen jedoch, dass die Realität genau das Gegenteil dieses offiziellen Diskurses ist: dass die Türkei die größte Sicherheitsbedrohung für die Kurd:innen in Syrien ist, seit sie den IS besiegt haben. Vom 1. Januar 2017 bis zum 1. August 2020 registrierte ACLED „3.319 Angriffe des türkischen Militärs oder türkischer Stellvertreter gegen die SDF/YPG oder Zivilisten in Syrien, verglichen mit 22 Angriffen der SDF/YPG in die Türkei. Von diesen 22 Vorfällen konnten zehn nicht unabhängig verifiziert werden. Mit anderen Worten, die tatsächliche Zahl der grenzüberschreitenden Angriffe, die der YPG/SDF zugeschrieben werden, dürfte sich auf höchstens zwölf belaufen. Außerdem ereigneten sich diese zwölf Vorfälle alle, nachdem die Türkei am 9. Oktober 2019 die Operation Friedensfrühling gestartet hatte."

Weitere Einzelheiten finden sich in einem Artikel von Amy Austin Holmes, der im Mai 2021 vom Wilson Center veröffentlicht wurde: Threats Perceived and Real: New Data and the Need for a New Approach to the Turkish-SDF Border Conflict.