Erdoğan ist nicht unbesiegbar

Über die Hälfte der Stimmberechtigten hat Erdoğan im ersten Wahlgang nicht gewählt. Die Bevölkerung der kurdischen Provinzen hat ihre Aufgabe erfüllt. Der Faschismus, der sich in Erdoğan materialisiert, kann verlieren. Erdoğan ist nicht unbesiegbar.

Wir haben eine weitere Wahl in der Türkei erlebt, wie wir es seit zwanzig Jahren gewöhnt sind. Gewohnt war die Tatsache, dass die AKP, Erdoğan und die geheime Zelle des Staates, die sich als Konterstruktur organisiert, Betrug, Diebstahl und alle möglichen Tricks anwandten, um die Regierung nicht an die oppositionelle „Nationale Allianz“ zu übergeben. Das war eine Tatsache. Denn das Konzept der Kräfte, die Erdoğan an der Macht halten wollten, und in diesem Zusammenhang die Fortsetzung von Faschismus und Diktatur für eine weitere Amtszeit, basierte auf dieser Grundlage.

Deshalb wussten sozusagen alle, die gegen Faschismus, Diktatur und das Ein-Mann-Regime sind und wollen, dass die Türkei aus dieser schweren wirtschaftlichen und politischen Krise herauskommt, wie schwierig es sein würde, die Wahlen gegen dieses Konzept zu gewinnen. Der Wahlprozess wurde mit dem Verständnis in Angriff genommen, dass die Überwindung dieser Schwierigkeiten am wichtigsten ist. Ja, es war schwierig, aber die Überzeugung, dass wir es schaffen können und müssen, wurde von allen getragen.

Unvorbereitet, unausgewogen und trotz des Machtgefälles hatte ein großer Marathon begonnen. Die AKP und Erdoğan setzten alle staatlichen Mittel ein, mobilisierten alle Minister und Bürokraten, setzten Polizei und Armee ein, nutzten Dutzende von Zeitungen und Fernsehsendern als Mittel der schwarzen Propaganda und begannen den Wahlprozess, als ob sie in den Krieg ziehen würden.

Dabei hatte jedes Wahlbündnis und jede Komponente innerhalb dieser Allianzen eine eigene Wahlstrategie: Die Volksallianz unter Führung der AKP, die Nationale Allianz unter Führung der CHP, das Bündnis für Arbeit und Freiheit um die Grüne Linkspartei (YSP). Jedes Bündnis hatte nicht nur einzigartige und spezielle Strategien, sondern wandte sich auch gezielt an die Massen. Obwohl die Allianzen teilweise ähnliche Zielgruppen hatten, gab es dennoch Unterschiede.

Wenn man die drei unterschiedlichen Strategien der drei Hauptbündnisse kurz darstellt, wird man viel leichter erkennen können, dass die aktuelle Wahl keine Wahl, sondern ein Krieg im wahrsten Sinne des Wortes ist.

Erdoğan stützte seine Wahlstrategie auf Beschimpfungen, Lügen, Sicherheit, Wohlstand und Diffamierung der kurdischen Freiheitsbewegung. Er benutzte jede Lüge und jedes Schimpfwort, ohne sich zu schämen oder zu erröten. Er ging sogar so weit, dass er die Nationale Allianz mit der PKK gleichsetzte. In seiner Lügenkampagne nutzte er ein bearbeitetes Video von Kemal Kılıçdaroğlu, in dem Murat Karayılan, Mitglied des Zentralen Exekutivkomitees der PKK, applaudiert. Erdoğan sagte dazu: „O türkisches Volk, schau, wer Herrn Kemal applaudiert." Erdoğans Zielgruppe waren Rassisten, Faschisten, Konservative, Lumpen und Mafiosi, die materiell profitieren wollten.

Die Massenzielgruppe der Nationalen Allianz war die kemalistische Mittelschicht, die mittlere Bourgeoisie, die angesichts des Neoliberalismus, des grünen Kapitals und der monopolistischen Kompradorenbourgeoisie ständig vom Bankrott bedroht ist, und die türkische Bourgeoisie, die wegen des Krieges nicht mehr in Kurdistan investieren konnte.

Da die Nationale Allianz wusste, dass sie damit von den Kurdinnen und Kurden keine Stimmen bekommen würde, versuchte sie, irgendwie die Unterstützung der Grünen Linkspartei zu erlangen. Das ist auch gelungen.

Das Massenziel der Grünen Linkspartei waren die Parteien, Institutionen, Organisationen, Meinungsführer, Gewerkschaften und alle anderen Nichtregierungsorganisationen, die für Freiheit, Demokratie, Arbeit und Frieden eintreten. Die Kurdinnen und Kurden stellten die Hauptmasse des Bündnisses für Freiheit und Demokratie.

Wie ist also das sich abzeichnende Bild zu verstehen?

Zunächst einmal hat die Erdogan/Bahceli-Diktatur, der AKP/MHP-Faschismus, trotz aller Möglichkeiten, aller Beziehungen und Mittel des Staates, aller Arten von Verleumdungen und falscher Propaganda, nicht die Zustimmung des türkischen Volkes erhalten. Das Volk hat eine weitere Amtszeit von Erdoğan nicht befürwortet. Er verlor eine beträchtliche Anzahl von Stimmen und konnte sich im ersten Wahlgang nicht durchsetzen. Die Wählerinnen und Wähler sagten: „Wir sind nicht damit einverstanden, dass du wieder Präsident wirst." Mindestens 51 Prozent der Gesellschaft lehnten ihn ab. In diesem Sinne war Erdoğan nicht erfolgreich, die AKP hat das von ihr angestrebte Ziel nicht erreicht, und trotz der von ihr gebildeten schmutzigen und bösen Front hat sie die erste Runde nicht bestanden. In diesem Sinne konnte Erdoğan, auch wenn er zahlenmäßig vorne zu liegen scheint, am Ende nicht zum Präsidenten des von ihm etablierten Präsidialsystems gewählt werden.

Einen Tag nach der Wahl wurde klar, dass Erdoğan auch zahlenmäßig nicht gewonnen hat, sondern vielmehr Kılıçdaroğlu. Es gibt Leute, die sagen: „Was auch immer in dieser Nacht passiert ist, ist passiert." Was ist wirklich passiert? Wir wissen es nicht genau, aber man kann davon ausgehen, dass die Ansicht, dass die Wahl absichtlich auf die zweite Runde verschoben wurde, trotzdem zutreffender ist. Es gibt sogar unterschiedliche Interpretationen, dass ausländische Mächte, nämlich Russland und die USA, persönlich involviert waren. Es gibt auch Meinungen, die besagen, dass die Verschiebung der Wahl in die zweite Runde ein Konzept war, das auf der Achse der USA und Russlands entstanden ist. Es gibt keine Daten, die diese Ansichten und Analysen bestätigen oder widerlegen.

Angesichts des passiven Verhaltens von Kemal Kılıçdaroğlu in der Wahlnacht, seines Versäumnisses, auf dem Bildschirm zu erscheinen und ernsthafte Warnungen auszusprechen, und des Versäumnisses der CHP, ihre eigenen Daten als Alternative zur Nachrichtenagentur AA zu präsentieren, ist es jedoch unmöglich zu glauben, dass nicht irgendetwas passiert ist. Warum hat Kılıçdaroğlu geschwiegen, obwohl er von dem Betrug und dem Diebstahl wusste? Warum hat Kılıçdaroğlu die Menschen nicht um Unterstützung gebeten, warum hat er die Menschen nicht zum Obersten Wahlausschuss (YSK) gerufen? Weil es um den Diebstahl von Stimmen ging, um vorsätzliche Korruption, und weil ein Prozess, der später unumkehrbar sein sollte, kurz vor dem Ende stand.

Es sollte auch erwähnt werden, dass in der Wahlnacht eine Clique innerhalb der CHP, Meral Akşener und Mansur Yavaş, ein Verfahren eingefädelt haben soll, das die Wahl von Kılıçdaroğlu verhindert hat. Wir wissen nicht, ob es stimmt, aber es ist möglich.

Praktiken wie Druck, Gewalt, Einschüchterung, Diebstahl, bewaffnete Banden, Polizei und Soldaten, die die Wahlbeobachter:innen unter Druck setzten, wurden im Minutentakt angewendet. Diese Praktiken waren in Kurdistan noch viel offensichtlicher. Wie sich später herausstellte, kam es zu einem horrenden Ausmaß an Diebstahl und Stimmenverschiebung. In vielen Teilen Kurdistans wurden Stimmen, die der Grünen Linkspartei gehörten, massenhaft der MHP zugeschoben. Es gab Tausende Einsprüche, aber die meisten dieser Einsprüche wurden zurückgewiesen und nicht akzeptiert. In Urfa, Batman, Mardin und Diyarbakir wurde der Skandal des Wahlbetrugs und der Stimmenverschiebung aufgedeckt. Darüber hinaus gab es einen Prozess, der die Annullierung der Wahlen im wahrsten Sinne des Wortes erforderlich machte, da Süleyman Soylu mit einem russischen Trollteam sowohl Stimmenverschiebung als auch Simulationsbetrug betrieben hat. Doch nicht nur die Annullierung der Wahlen, sondern auch die überstürzte Balkonrede von Tayyip Erdoğan hat etwas in Gang gesetzt, der den Prozess um des „türkischen Überlebens" willen vertuscht und beide Seiten zu einer Einigung gebracht hat. Ja, so kann man die Geschehnisse in Bezug auf die Volks- und Nationalbündnisse lesen...

Natürlich ist es wichtig, den Prozess sowohl aus der Perspektive der Volksallianz und der Nationalen Allianz als auch aus der Perspektive des dritten Weges zu betrachten, der eine vollständige Alternative zum bestehenden System darstellt.

Alle Arten von Unterdrückung und Gewalt, die Drohung mit der Schließung der HDP, die wie ein Damoklesschwert geschwungen wird, die Operationen, die kurz vor der Wahl stattfanden, die verhafteten Journalistinnen und Journalisten, die Verhaftung der Kommissionsmitglieder, die in den Vierteln und Bezirken eins zu eins Wahlarbeit geleistet haben, die Verhaftung von politischen Kadern, die den Wahlkampf geplant haben und in dieser Hinsicht aktiv waren, sind fast ab dem Datum der Wahlentscheidung zu einer systematischen Praxis geworden. Sie sind bekannt und wurden bereits vor den Wahlen vorausgesagt.

Es ist jedoch auch notwendig, den Arbeitsstil der HDP zu betonen.

Erstens: Zunächst einmal hat das Volk von Kurdistan seine Aufgabe erfüllt. Trotz aller Arten von Unterdrückung ist das kurdische Volk zur Wahl gegangen und hat seine Stimme abgegeben und damit seine Aufgabe sowohl für das Parlament als auch für das Präsidentenamt erfüllt.

Zweitens: Nach der Wahlentscheidung begann der Prozess mit dem üblichen Arbeitstempo. Gegen Erdoğans Entscheidung für vorgezogene und überfallartige Wahlen war jedoch ein außergewöhnliches Tempo und ein außergewöhnlicher Arbeitsstil erforderlich. Das hat nicht stattgefunden, es wurde wie eine gewöhnliche Arbeit angegangen.

Drittens: Dieser Arbeitsstil spiegelte sich auch im Organisationsstil wider. Der unter normalen Bedingungen praktizierte Organisationsstil wurde auch in diesem Prozess fortgesetzt. Das Tempo wurde nicht verändert und die Organisierungsarbeit wurde mit einem routinemäßigen Verständnis und Stil durchgeführt. Statt von Haus zu Haus und von Nachbarschaft zu Nachbarschaft zu gehen, wurde sich zum Beispiel mit Büroeröffnungen, allgemeine Routinekundgebungen und der Teilnahme an einigen Fernsehsendungen begnügt.

Viertens: Die Propagandakraft war unzureichend. Man musste begreifen, dass die Erläuterung des Prozesses mit Verallgemeinerungen nicht viel Resonanz finden würde. Es war nun notwendig, die Probleme vor Ort, auf lokaler, provinzieller, bezirklicher und sogar dörflicher Ebene zu erläutern, aber gleichzeitig direkte Zusagen für Lösungen zu machen.

Fünftens: Die Diskussionen während des Bündnisprozesses führten zu einer sehr langen und unnötigen Zeitverschwendung. Sie zogen sich nicht nur länger hin als nötig, sondern führten auch zu einer engen und oberflächlichen Bündniszusammensetzung.

Sechstens: Das Problem mit der TİP hätte vermieden werden können. Nach einer gewissen Zeit der Diskussion hätte eine Vereinbarung auf der Grundlage eines einzigen Bündnisses, einer einzigen Liste und eines einzigen Standpunkts getroffen werden müssen, und im Falle einer Ablehnung hätten alle ihren Weg bestimmt. Die Diskussion führte zu Polemik und einem negativen Prozess, der allmählich das Niveau von Anschuldigungen erreichte.

Siebtens: Der Sicherheit der Stimmabgabe wurde keine Aufmerksamkeit geschenkt. Das zeigt die Tatsache, dass Tausende von Stimmen für ungültig erklärt wurden und Tausende weitere zur MHP verschoben wurden. Das heißt, wählen ist wichtig, aber die Sicherung der Stimmabgabe ist mindestens genauso wichtig.

Achtens: Das Bündnis für Arbeit und Freiheit hat es nicht geschafft, ihre Wählerinnen und Wähler zur Stimmabgabe zu bringen. Es hätte schon viel früher eine Politik entwickeln müssen, die ihren mittellosen Wählern den notwendigen Beitrag bietet. Das ist jedoch nicht geschehen, und die Grüne Linkspartei hat mit ihrem „Tu-was-du-kannst-aber-komm"-Ansatz ihre Wählerinnen und Wähler in dieser Hinsicht unorganisiert gelassen.
Wenn dies die Ergebnisse der ersten Etappe sind, was wird dann in der zweiten Etappe passieren? Wird Kılıçdaroğlu im zweiten Wahlgang Präsident werden? Wird der türkische Faschismus, der in der Person von Erdoğan einen Sinn findet, verlieren?

Ja, der Faschismus, der sich in der Person von Erdoğan materialisiert, kann verlieren. Erdoğan ist nicht unbesiegbar. Seit er an die Macht gekommen ist, befindet er sich in einer Phase, in der er die gröbste Form seines Verfalls erlebt. Erdoğan hat die Türkei in den Ruin getrieben, die Wirtschaft vollständig in den Krieg investiert und besteht immer noch auf dem Krieg, obwohl jeden Tag Dutzende von Särgen eintreffen. Er hat der Türkei nichts zu geben. Das verrottende Palastregime wird durch Betrug und Grausamkeit aufrecht erhalten und steht kurz vor dem Zusammenbruch. Erdoğan hat das Vertrauen der Mehrheit des Volkes verloren. Er hat völlig aufgehört, zu überzeugen, zu beruhigen und Probleme zu lösen. Es gibt also objektive und subjektive Bedingungen für eine Niederlage.

Die folgende Gefahr muss jedoch hervorgehoben werden: Es gibt extreme Nationalisten, Rassisten und Kurdenfeinde, die das Scheitern von Kılıçdaroğlu in der ersten Runde auf sein Zusammentreffen mit der HDP zurückführen. Wenn Kilicdaroglu sich wegen ein paar tausend Stimmen gegen die Kurdinnen und Kurden wendet, wird er niemals gewinnen. Wenn er das nicht beachtet, wird die Türkei noch vier Jahre lang von einem Diktator und einem Ein-Mann-Regime regiert werden, was die Zerstörung des Landes bedeutet. Kılıçdaroğlu sollte sich nicht der Illusion hingeben, dass die Kurden für ihn stimmen werden, egal was passiert. Er sollte sich nicht täuschen lassen.

Diktator Erdoğan hat im ersten Wahlgang nicht gewonnen, das Ziel sollte sein, dass das Ein-Mann-Regime im zweiten Wahlgang verliert. Alle am Wahlprozess Beteiligten, einschließlich Kılıçdaroğlu und die Wählerinnen und Wähler, sollten im Sinne eines Referendums entscheiden.

In der zweiten Runde sollte Kılıçdaroğlu, der Kandidat der Volksallianz, mit dem Slogan „Sind Sie für Demokratie oder Diktatur, für ein Regime der Unterdrückung und Tyrannei oder für eine demokratische Türkei?" auftreten, um die Stimmberechtigten, die bisher nicht zur Wahl gegangen sind, zu überzeugen, ohne irgendwelche Versprechungen zu machen. Wenn er mit diesem Slogan und dieser Perspektive antritt, gibt es keinen Grund, warum er nicht gewinnen sollte.