Entschlossenheit zeigt Wirkung, Freiheit hat gesiegt

Das Kurdische Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit Civaka Azad hat ein umfangreiches Informationsdossier über die Hungerstreikaktionen gegen die Isolation Abdullah Öcalans veröffentlicht.

Das Kurdische Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit (Civaka Azad e.V.) hat eine Dokumentation der Hungerstreikaktionen gegen die Isolation Abdullah Öcalans und für demokratische Verhandlungen für die Lösung der gesellschaftlichen Fragen in der Türkei veröffentlicht:

Über Monate hinweg haben die Hungerstreikaktionen zur Beendigung der Isolationsbedingungen des kurdischen Repräsentanten Abdullah Öcalan die kurdische Bevölkerung und solidarische Menschen weltweit in Atem gehalten. Doch die Hungerstreikenden und der gesellschaftliche Widerstand, der sich um die beteiligten AktivistInnen herum gebildet hat, führten letztlich zu einer Durchbrechung der Isolation auf der Gefängnisinsel Imrali. Wir wollen mit diesem Papier einen Rückblick auf die Hungerstreikproteste, ihren Verlauf und ihren Abschluss werfen. Abgerundet werden soll die Dokumentation der Hungerstreikaktionen mit einem Ausblick, wie es nach dem Hungerstreik in der Türkei, in Kurdistan und im Mittleren Osten weitergehen könnte.

Kein Raum für politisches Handeln vorhanden“ – Wie es zum Hungerstreik kam?

„Zwölf unserer Abgeordneten befinden sich in Haft, darunter auch die beiden Ko-Vorsitzenden unserer Partei. Weitere 20 gewählte politische RepräsentantInnen unserer Partei mussten das Land verlassen. Rund 40.000 Menschen befinden sich aus politischen Gründen in Haft, davon etwa 12.000 aus kurdisch-oppositionellen Strukturen. In diesem Land befinden sich 260.000 Menschen hinter Gittern, obwohl die Kapazitäten der türkischen Gefängnisse auf 220.000 Menschen ausgelegt sind. Es ist kein Raum für politisches Handeln mehr vorhanden. Und etwa 90% der türkischen Medien stehen unter der Kontrolle der Erdoğan-Regierung.“ Mit diesen Worten beschreibt Ertuğrul Kürkçü, Ehrenvorsitzender der Demokratischen Partei der Völker (HDP) und mittlerweile selbst im Exil lebend, jüngst die politische Situation in der Türkei. Es sind diese beschriebenen Umstände, unter denen die kurdische Politikerin und HDP-Abgeordnete Leyla Güven am 8. November 2018 im Gefängnis von Amed (Diyarbakir) den Entschluss fasste, in den Hungerstreik zu treten.

Die Situation von Leyla Güven zu jenem Zeitpunkt stand sinnbildlich für die Gesamtsituation, unter denen sich kurdische PolitikerInnen und AktivistInen in der Türkei befanden. Sie war Ko-Vorsitzende des Demokratischen Gesellschaftskongresses (DTK), einem Dachverband der kurdischen Zivilgesellschaft. In dieser Funktion trug sie maßgeblich zur Selbstorganisierung der kurdischen Bevölkerung in Nordkurdistan bei. Festgenommen wurde sie Januar 2018 wegen ihrer Kritik am völkerrechtswidrigen Besatzungskrieg der türkischen Armee in Efrîn. Im Juni 2018 wurde Güven dann aus dem Gefängnis heraus für die HDP in das türkische Parlament gewählt. Trotz entgegengesetzter Gesetzeslage entließ die türkische Justiz allerdings Güven nicht aus der Haft. Spätestens ab diesem Zeitpunkt befand sie sich in der Situation einer politischen Geisel, denn ihre Inhaftierung entbehrte jeglicher juristischer Grundlage. Doch auch aus dem Gefängnis heraus gelang es Güven ihrer politischer Verantwortung mehr als gerecht zu werden. Sie trat am 8. November 2018 in den Hungerstreik und forderte ein Ende der Isolationsbedingungen Abdullah Öcalans auf der Gefängnisinsel Imrali.

Die Forderung von Güven ist zunächst einmal eine legitime juristische Forderung. Abdullah Öcalan ist der wohl wichtigste politische Gefangene in der Türkei und weiterhin eine bedeutungsvolle politische Führungspersönlichkeit für die kurdische Bevölkerung. So wie jedem Gefangenen in der Türkei auch steht ihm das Recht zu, regelmäßig mit seinen AnwältInnen zusammenzukommen. Doch die Besuchsanträge der AnwältInnen Öcalans wurden seit dem 27. Juli 2011 stets abgelehnt. Ganze 810 aufeinanderfolgende Besuchsanträge wurden mit willkürlichen Begründungen durch die türkische Generalstaatsanwaltschaft abgelehnt. Die Forderung Güvens nach der Aufhebung dieser Isolation für Abdullah Öcalan stellt somit nichts anderes dar, als dass die Türkei ihre eigenen Gesetze auch in der Causa Öcalan einhalten soll.

Und doch ist die Forderung nach einem Ende der Isolation Öcalans auch zugleich mehr als eine Forderung nach bloßer rechtliche Gleichstellung des Gefangenen Öcalan mit allen anderen Gefangenen in der Türkei. Denn der Umgang mit der Person Öcalans steht symbolisch für den Umgang des türkischen Staates und seiner Regierenden mit der kurdischen Frage.

Bevor die Friedensgespräche zwischen Öcalan und Vertretern des türkischen Staates, die Ende 2012 aufgenommen worden waren, im Juli 2015 schließlich endgültig für beendet erklärt wurden, setzte die türkische Regierungspartei AKP bereits seit über drei Monaten auf die erneute Totalisolation Öcalans. Zuvor konnten ihn immerhin politische Delegationen der HDP besuchen, um bei den Friedensgesprächen eine Vermittlerrolle einzunehmen. Auf die Isolationshaft ab dem 5. April 2015 hingegen folgte ein umfassender Krieg des türkischen Staates in den Städten Nordkurdistans. Seit dieser Zeit hat das AKP-Regime unter anderem zahlreiche Städte in Nordkurdistan (Südosttürkei) dem Erdboden gleichgemacht, unzählige kurdische Vereine und Medien für verboten erklärt, tausende kurdische AktivistInnen weggesperrt und gemeinsam mit seinen islamistischen Partnern einen völkerrechtswidrigen Besatzungskrieg im nordsyrischen Efrîn in die Wege geleitet. Begleitet wird dieser Kriegszug des AKP-Regimes bis heute mit einer Verschärfung des autoritären, wenn nicht diktatorischen, innenpolitischen Kurses der regierenden Machthaber. Allein infolge des ominösen Putschversuchs aus dem Jahr 2016 wurden abertausende Menschen aus verschiedensten oppositionellen Strömungen inhaftiert und zur Flucht ins Exil gezwungen. Ein Ende dieser Eskalationsspirale hängt ohne Frage eng mit einer friedlichen Lösung der kurdischen Frage zusammen. Nur so kann die Türkei in eine vergleichsweise ruhige gesellschaftliche Atmosphäre zurückkehren, wie sie das Land zu Zeiten des Dialogs zwischen der kurdischen Seite und dem türkischen Staat zwischen 2013 und 2015 erlebte.

Die Bedeutung Öcalans für die Lösung der kurdischen Frage und einer damit verbundenen Demokratisierung der Türkei stehen hierbei außer Zweifel. Öcalan ist weiterhin sehr einflussreich. Er wird als die Stimme des Friedens anerkannt und gilt als legitimer Sprecher für die kurdische Gesellschaft. Bei einer weltweiten Unterschriftenkampagne im Jahre 2012 forderten mehr als zehn Millionen Menschen seine Freilassung aus dem Imrali-Gefängnis. Der Hungerstreik von Leyla Güven zielte deshalb auch auf ein Ende seiner Isolationsbedingungen auf der Gefängnisinsel ab, damit sich Öcalan wieder für den Frieden in der Türkei und im Mittleren Osten einsetzen kann.

Die Ohnmacht durchbrechen“ – Der Verlauf des Hungerstreiks?

Leyla Güvens Entschluss in den Hungerstreik zu treten, löste eine neue Etappe des politischen Widerstands gegen das AKP-Regime aus. Binnen kürzester Zeit schlossen sich weltweit mehrere tausend AktivistInnen dem Hungerstreik an. Besonders in den Gefängnissen wuchs die Zahl der Hungerstreikenden rasant, bis sie am 1. März dieses Jahres ihren Höhepunkt erreichte. Am 30. April und am 10. Mai 2019 wandelten schließlich jeweils 15 politische Gefangene aufgrund der anhaltenden Ignoranz der türkischen Regierung ihren Hungerstreik in ein „Todesfasten“ um, was bedeutet, dass sie fortan auf die sonst genutzten Vitaminpräparate verzichteten. Auch außerhalb der Gefängnisse hatte Leyla Güvens Aktion einen breiten Wiederhall erlangt. Überall auf der Welt schlossen sich AktivistInnen dem Hungerstreik an. 14 AktivistInnen beteiligten sich beispielsweise in Straßburg an der Aktion. Auch in Deutschland, den Niederlanden, in Wales, in Südkurdistan oder in Kanada schlossen sich Menschen dem unbefristeten Hungerstreik an.

Begleitet wurden die Hungerstreikaktionen von Protesten auf den Straßen. In Europa fanden praktisch täglich kleinere und größere Aktionen statt, um auf den Hungerstreik aufmerksam zu machen. Auch in der Türkei regte sich erstmals seit Jahren wieder gesellschaftlicher Protest, der sich gegen die Haltung der türkischen Regierung richtete. Bewegt durch den Hungerstreik gelang es den Menschen immer wieder die gesellschaftliche Ohnmacht gegen das autoritäre AKP-Regime zu durchbrechen. Auch wenn es sich zumeist um Proteste im kleineren Rahmen handelte, wurde die türkische Regierungspartei sichtlich nervös. Zunächst reagierte die Regierung mit vollständiger Ignoranz. In den Medien durfte kein Wort über die Hungerstreikaktionen und die sie begleitenden Proteste verloren werden. Als die Menschen im fortlaufenden Hungerstreik weiterhin den Protest auf die Straßen trugen, reagierte die AKP schließlich mit Gewalt und Repressionen. Vor allem die Angehörigen der Hungerstreikenden, insbesondere die Mütter, spielten bei dem gesellschaftlichen Protest eine VorreiterInnenrolle. Sie ließen sich zu keinem Zeitpunkt von der Polizeigewalt einschüchtern. Als die Polizeikräfte auch vor Angriffen auf die Mütter nicht zurückschreckte, wuchsen der gesellschaftliche Protest und damit auch der Druck auf die türkische Regierung weiter.

Die AKP-Regierung versuchte ihrerseits auch mit taktischen Manövern die Dynamik der Hungerstreikproteste zu brechen. So wurde Leyla Güven, die Vorreiterin der Hungerstreikproteste, plötzlich am 25. Januar aus der Haft entlassen. Güven, die ohnehin unrechtmäßig in Haft saß, ließ sich von der unerwarteten Haftentlassung nicht von ihrem Weg beirren. Sie verkündete, dass sie ihren Hungerstreik in ihrer Wohnung in Amed fortsetzen werde. Rund zwei Wochen vor der Entlassung Leyla Güvens hatte die Regierung am 12. Januar 2019 zudem einen überraschenden Kurzbesuch von Mehmet Öcalan, dem Bruder Abdullah Öcalans, auf der Gefängnisinsel Imrali gestattet. Doch die HungerstreikaktivistInnen machten rasch deutlich, dass auch dieser Schritt der Regierung nicht für die Beendigung des Hungerstreiks ausreichen würde. Um keinen Raum für falsche Spekulationen zu bieten, ließen die hungerstreikenden Gefangenen über ihre AnwältInnen am 22. März eine Deklaration verkünden, in welcher sie die Bedingungen für eine Ende des Hungerstreiks klar ausformulierten. Neben den Forderungen nach der Gestattung von Besuchen und der Kommunikation mit seinen AnwältInnen und Angehörigen, hieß es darin auch: „Damit unser Vorsitzender seiner Rolle für eine demokratische und friedliche Lösung der kurdischen Frage und die Demokratisierung des Mittleren Ostens gerecht werden kann, müssen alle hierfür bestehenden Hindernisse aus dem Weg geräumt werden. Es müssen die Bedingungen für sein freies Leben und Arbeiten geschaffen werden.“

Entschlossenheit zeigt Wirkung, Freiheit hat gesiegt“ – Die Isolation ist durchbrochen

Das Ergebnis dieses kollektiven Widerstands war bedeutsam. Denn erstmals nach rund acht Jahren konnten die AnwältInnen des kurdischen Repräsentanten Abdullah Öcalan ihren Mandanten auf der türkischen Gefängnisinsel Imrali besuchen. Der erste Besuch auf der Insel im Marmarameer fand am 2. Mai statt. Nach diesem Besuch bei Öcalan verkündeten seine AnwältInnen auf einer Pressekonferenz am 6. Mai eine Botschaft aus der Gefängnisinsel Imrali, die sowohl von Öcalan selbst als auch seinen drei Mitinsassen unterzeichnet wurde. Die Botschaft stellt zusammengefasst ein Friedensangebot an den türkischen Staat dar. In der Erklärung wird unter anderem auf die dringende Notwendigkeit demokratischer Verhandlungen für die Lösung der gesellschaftlichen Fragen in der Türkei und im Mittleren Osten hingewiesen. Im Hinblick auf die Hungerstreikenden hieß es: „Für uns ist ihre geistige, körperliche und psychische Gesundheit wichtiger als alles andere.“ Die 7-Punke-Erklärung, die von Abdullah Öcalan und drei weiteren Gefangenen auf Imrali unterzeichnet wurde, lautet im Wortlaut:

  1. In diesem historischen Prozess, den wir durchlaufen, ist eine tiefgreifende gesellschaftliche Versöhnung erforderlich. Für die Lösung der Probleme besteht starker Bedarf an einer Methode demokratischer Verhandlungen, jenseits jeglicher Polarisierung und Konfliktkultur.

  2. Die Probleme in der Türkei und sogar in der gesamten Region, insbesondere den Krieg, können wir durch „Soft power”, also mit Intelligenz und politischer und kultureller Stärke lösen, statt mit physischer Gewalt.

  3. Wir glauben, dass die Demokratischen Kräfte Syriens (QSD) für die Problemlösung in Syrien auf die Konfliktkultur verzichten und einen Status erreichen sollten, der den Prinzipien der lokalen Demokratie entspricht und ihre Rechte auf der Grundlage eines vereinten Syriens verfassungsrechtlich garantiert. In diesem Sinne sollten auch Bedenken der Türkei berücksichtigt werden.

  4. Bei allem Respekt für den Widerstand der Freundinnen und Freunde innerhalb und außerhalb der Gefängnisse möchten wir betonen, dass sie ihre Aktion nicht an den Punkt bringen sollen, an dem ihr Leben in Gefahr gerät oder gar zum Tod führt. Für uns ist ihre geistige, körperliche und psychische Gesundheit wichtiger als alles andere. Wir glauben außerdem, dass der sinnvollste Ansatz mit der Entwicklung einer mentalen und spirituellen Haltung zusammenhängt.

  5. Unsere Haltung auf Imrali richtet sich nach der Newroz-Deklaration von 2013. Wir sind entschlossen, die darin erklärte Ausdrucksmethode zu vertiefen und diesen Weg fortzusetzen.

  6. Ein würdevoller Frieden und eine demokratische politische Lösung stehen für uns an erster Stelle.

  7. Wir grüßen alle, die sich aufgrund unserer Haltung besorgt gezeigt haben und aktiv wurden mit Respekt und sprechen unseren großen Dank aus.


Abdullah Öcalan, Hamili Yıldırım, Ömer Hayri Konar, Veysel Aktaş

Kurz nach der Pressekonferenz wandten sich die Hungerstreikenden an die Öffentlichkeit und erklärten, dass mit einer einmaligen Besuchserlaubnis auf Imrali die Isolationsbedingungen Öcalans nicht durchbrochen seien. Die Hungerstreikenden verwiesen auf ihre Deklaration und machten klar, dass sie ihre Aktion fortsetzen werden, bis alle Forderungen erfüllt sind. Die seit dem 3. März hungerstreikenden HDP-Abgeordneten Leyla Güven, Dersim Dağ, Murat Sarısaç und Tayip Temel riefen die türkische Regierung zu einer öffentlichen Stellungnahme auf, in welcher ein offizielles Ende der Isolationsbedingungen Öcalans verkündet wird. Daraufhin erklärte der türkische Justizminister Abdulhamit Gül am 16. Mai nach einem Gespräch mit dem Antifolterkomitee des Europarats (CPT), dass die „Einschränkung“ des anwaltlichen Kontakts mit Abdullah Öcalan aufgehoben worden sei. Das Rechtsanwaltsbüro Asrin, das Abdullah Öcalan seit seiner Verhaftung vor zwanzig Jahren vertritt, bewertete die Erklärung des Justizministers als „Ausdruck dafür, was juristisch zu tun ist“ und fordert alle involvierten Institutionen zum rechtlich angemessenen Handeln auf.

Der zweite Besuch der Anwälte fand am 22. Mai 2019 statt. Wie auch schon nach dem ersten Besuch auf Imrali, luden die AnwältInnen Öcalans auch nach dem Besuch zu einer Pressekonferenz ein. Auf dieser teilten diese eine erneute Erklärung Öcalans mit der Öffentlichkeit. In einem direkten Brief Abdullah Öcalans an die AktivistInnen, die sich bis zu diesem Zeitpunkt im Hungerstreik oder im Todesfasten befanden, rief er sie auf, ihre Aktion zu beenden: „Ich rufe alle FreundInnen, die sich im Hungerstreik und im Todesfasten befinden, dazu auf, ihre Aktion zu beenden. Ich kann mit Gewissheit sagen, dass der in Bezug auf meine Person gerichtete Zweck eurer Aktion ihr Ziel erreicht hat.“ Auf der Pressekonferenz machten die AnwältInnen allerdings auch klar, dass die erteilten Besuchsgenehmigungen bei Öcalan nicht gleichbedeutend mit einer Neuauflage der Friedensverhandlungen seien. Nach diesem Aufruf Öcalans beendete die Initiatorin der Hungserstreikaktionen Leyla Güven ihren Hungerstreik. Auch Deniz Kaya, Sprecher der politischen Gefangenen in den türkischen Gefängnissen, erklärte kurz darauf, dass die Hungerstreiks in den Gefängnissen beendet werden. Die zahlreichen Hungerstreikenden weltweit, darunter auch die 14 AktivistInnen in Straßburg, die Hungerstreikenden in Berlin und in den anderen Teilen der Welt erklärten ebenfalls ihre Aktion für beendet. Alle AktivistInnen erklärten in ihren Erklärungen zum Ende des Hungerstreiks, dass ihre Forderungen im Kontext internationaler Rechtsstandards stehen, zu denen sich auch die Türkei verpflichtet hat. Daher fordern sie auch weiterhin, dass die entsprechenden rechtlichen Kriterien auch im Falle Abdullah Öcalans eingehalten werden. Wie sehr sich die Türkei an ihre eigenen Regeln hält, wird sich in der kommenden Phase herauskristallisieren.

Am 5. Juni 2019 wurde dem Bruder von Abdullah Öcalan, Mehmet Öcalan, sowie den Angehörigen der weiteren Insassen des Imrali-Gefängnisses der Besuchsantrag von der Generalstaatsanwaltschaft in Bursa stattgegeben. Mehmet Öcalan berichtete über das Treffen mit seinem Bruder, dass dieser unter anderem erklärte: „Der türkische Staat könne mit seiner Kriegs- und Vernichtungspolitik nichts erreichen, aus diesem Grund seien neue Methoden notwendig. Es müssen Methoden, die in den Frieden führen und ihren Fokus auf die Lösung des Problems richten, entwickelt werden. Wir brauchen Methoden, die zu einem würdigen Frieden führen. Auf die Frage, ob die Isolation nun aufgehoben sei, soll Abdullah Öcalan geantwortet haben: „Ich kann weder sagen, dass die Besuchswege vollständig geöffnet sind, noch, dass sie geschlossen sind. Es bleibt abzuwarten. Wenn diese Wege vollständig geöffnet werden, dann ist das für alle gut. Wenn sie allerdings verschlossen werden, dann wird das für alle Zerstörung bringen.“

(Noch) Kein neuer Friedensprozess“ – Was die Besuche bei Öcalan bedeuten und wie es weitergehen könnte

„Wie bei dem vorherigen Besuch (am 2. Mai) erinnerte Öcalan daran, dass diese Mandantenbesuche nicht zu bedeuten haben, dass wir einen Verhandlungsprozess durchlaufen. Er sagte, seine Botschaften richteten sich an alle demokratischen Kräfte, die politischen Strukturen aller Bereiche in der Türkei und an den türkischen Staat. Die Isolation auf Imrali ist nicht nur ein ernstzunehmendes juristisches Problem, sondern auch in politischer Hinsicht ein Phänomen, das das Klima des Friedens in der Türkei untergräbt. Das Land hat die positiven Auswirkungen Öcalans miterlebt, als er seine Rolle als politisches Subjekt teilweise wahrnehmen und seine Lösungen für grundlegende Probleme vorstellen konnte. In den letzten vier Jahren der verschärften Isolation gegenüber Öcalan haben Krieg, Chaos und Krise in der Türkei und in der Region zugenommen, und der Pessimismus hat über alle sozialen Strukturen geherrscht. Obwohl Abdullah Öcalan seine Meinung nur in begrenztem Umfang mitteilen konnte, haben wir in den vergangenen 20 Tagen erkennen können, dass die Hoffnung für eine andere und neue Perspektive hinsichtlich der Problemlösung aufkeimt.“

Mit diesem Statement nahm das Verteidigerteam Abdullah Öcalans zu ihrem bislang letzten Mandantengespräch am 22. Mai 2019 Stellung. Durch einen langatmigen, fast halbjährigen Protest hat es die kurdische Gesellschaft zusammen internationaler Unterstützung geschafft, einen solchen politischen Druck zu erzeugen, dass die Anwälte ihren Mandanten am 2. und 22. Mai 2019 besuchen konnten. Der türkische Justizminister gab mit seiner Äußerung, dass die „Einschränkung“ des anwaltlichen Kontakts mit Öcalan aufgehoben sei, öffentlich preis, dass die Maßnahmen gegen Öcalan gesetzeswidrig waren und sind. Nicht zu unterschätzen sind hierbei die internationalen Solidaritätsbekundungen mit den Forderungen der Hungerstreikenden. Insgesamt 50 Nobelpreisträger forderten in einem gemeinsamen offenen Brief das Ende der Isolationshaftbedingungen von Öcalan und allen politischen Gefangenen. Auch bekannte Persönlichkeiten wie der slowenische Philosoph Slavoj Žižek, der britische Filmregisseur Ken Loach, die Auschwitz-Überlebende Esther Bejarano, der Hamburger Völkerrechtler Norman Paech, der Schauspieler Rolf Becker oder auch die US-amerikanische Bürgerrechtlerin Angela Davis schlossen sich der Forderung nach einem Ende der Isolation Abdullah Öcalans an.

Die Protestwelle hat einmal mehr den Einfluss von Öcalan zur Schau gestellt. Er wird weiterhin als die Stimme des Friedens anerkannt und gilt als legitimer Sprecher für die kurdische Gesellschaft. „Ein würdevoller Frieden und eine demokratische politische Lösung stehen für uns an erster Stelle“, hieß es in seiner jüngsten Botschaft aus dem Imrali Gefängnis. Wie dringend die Forderung nach Frieden und Demokratie in der Türkei ist, wurde angesichts der Vorgänge rund um die Kommunalwahlen in Istanbul nochmals eindrucksvoll unter Beweis gestellt. Der Wunsch nach Demokratie und Frieden in der Türkei bewegt auch in Deutschland den größten Teil der kurdischen Community und weite Teile der türkischstämmigen MigrantInnen. Die Forderung der Hungerstreikenden nach einem Ende der Isolationsbedingungen Öcalans steht im unmittelbaren Zusammenhang mit diesem Wunsch. Wir sind davon überzeugt, dass auch aus Europa und Deutschland ein positiver Impuls für die Demokratie und einen würdevollen Frieden in der Türkei gesetzt werden kann.

Die kurdische Seite hat mit dem Sieben-Punkte-Plan von Abdullah Öcalan nochmals ihren Willen für eine demokratische Lösung der gesellschaftlichen Fragen in der Türkei, vor allem der kurdischen Frage dargelegte. Dies ist nicht neu. Seit den 1990er Jahren erneuerte Öcalan immer wieder seine Verhandlungsangebote, die auf Seiten des türkischen Staates jedoch auf taube Ohren stießen. Seine permanente Suche nach einem Ansprechpartner stellte damals sogar den Titel eines seiner Bücher dar: „Bir muhatap arıyorum“ (Zu Deutsch: Ich suche einen Gesprächspartner). Die neuste Erklärung Öcalans und der anderen Imrali-Gefangenen bekräftigt dies mit den Worten „Für die Lösung der Probleme besteht starker Bedarf nach der Methode demokratischer Verhandlungen, jenseits jeglicher Polarisierung und Konfliktkultur.“

Die Türkei muss in diesem Sinne sowohl von innen, als auch von außen zur Demokratisierung bewegt werden. Während im Inneren an die demokratische Öffentlichkeit appelliert wird, Verantwortung zu übernehmen und an eine möglichen Verhandlungsprozess zu partizipieren, können Europa und die Bundesrepublik eine konstruktive Rolle dabei spielen, die Türkei von außen zur Überwindung ihres Demokratiedefizit zu ermutigen. Ein weiteres Schweigen hingegen wird das autoritäre Regime Erdogans und die antidemokratische Politik nur weiterhin vertiefen. Die Forderung der Kurdinnen nach Freiheit für Abdullah Öcalan, für Frieden in Kurdistan und Demokratie in der Türkei ist in diesem Sinne mehr als berechtigt.

Bereits im Verlauf des Hungerstreiks hatten wir mit zwei Factsheets die wichtigsten Informationen zu der Aktion zusammengetragen, deren Links wir nachfolgend nochmals teilen möchten: Factsheet I, Factsheet II.