Einordnung der jüngsten Entwicklungen in Syrien
Das kurdische Frauenbüro Cenî in Berlin hat ein Informationsdossier zur Einordnung der jüngsten Entwicklungen in Syrien veröffentlicht und gibt Handlungsanregungen für Interessierte in Deutschland.
Das kurdische Frauenbüro Cenî in Berlin hat ein Informationsdossier zur Einordnung der jüngsten Entwicklungen in Syrien veröffentlicht und gibt Handlungsanregungen für Interessierte in Deutschland.
Seit 14 Monaten eskaliert der Krieg in Nahost. Schon längst geht er um den Krieg in Gaza hinaus, der allein innerhalb der ersten Monate zehntausende Menschen tötete und Hunderttausende in die Flucht trieb. Im Laufe der letzten Monate hat sich der Krieg zunehmend ausgeweitet. Noch im Oktober marschierte Israel etwa im Libanon ein, wo sich die israelische Armee und die mit dem Iran verbündete Hisbollah bekriegen, auch wenn es zwischenzeitlich Waffenruhen gab. Zur sogenannten „Achse des Widerstands“ gegen Israel, die vom Iran angeführt wird, gehört neben der Hisbollah im Libanon, den Huthis im Jemen und der Hamas auch das seit Jahren politisch und militärisch geschwächte syrische Regime, das sich bisher vor allem durch Unterstützung Russlands in Teilen Syriens an der Macht halten konnte. Doch nach der Einnahme der Städte Aleppo, Homs und Hama durch die islamistische Miliz Hayat Tahrir al-Sham (HTS) Anfang Dezember dauerte es nicht lang, bis Assad nach mehr als einem Jahrzehnt Aufständen und Bürgerkrieg gestürzt wurde – begünstigt von der Tatsache, dass sich der Fokus der Bündnispartner Iran und Russland durch den Krieg in Gaza und in der Ukraine verschoben hat. Für viele Syrer:innen, die unter dem seit über 50 Jahren bestehenden Baath-Regime gefoltert wurden und fliehen mussten, und auch für viele Kurd:innen aus Rojava/Nordsyrien, die unter dem Regime Unterdrückung und staatliche Gewalt erlebten, ist das ein Grund zu feiern. Doch die Freude über Assads Niedergang darf nicht die gefährliche Situation überschatten, die im Zuge der Machtübernahme verschiedener islamistischer Milizen entsteht. Auch regionale Mächte wie die Türkei oder Israel versuchen nun mehr denn je, von dieser Chaoslage zu profitieren. Die Lage ist unübersichtlich und nicht außerhalb der Machtinteressen verschiedener staatlicher und nicht-staatlicher Akteure zu verstehen, die dort seit Beginn des Bürgerkriegs 2011 operieren.
Hier sehen wir die dringende Notwendigkeit, die Geschehnisse in der Region aus der Perspektive von Frauen und Minderheiten einzuordnen. Das vorliegende Dokument ist ein Versuch, die Folgen der Ereignisse aus feministischer Perspektive zu einzuordnen. Das Augenmerk liegt dabei vor allem auf dem Norden Syriens und der Rolle der Türkei - eines NATO-Staats und einer regionalen Macht, die schon seit Jahren Macht- und Expansionsinteressen in Syrien verfolgt.
Als Frauen, die sich für Frieden und gegen patriarchale und staatliche Unterdrückung engagieren, sehen wir uns in der Pflicht, darüber zu informieren, wie sich diese Chaosmomente auf Frauen und Minderheiten auswirken. Wir sehen uns in der Pflicht, die Macht- und Profitinteressen verschiedener Akteure zu enttarnen. Ein freies Syrien kann nur ein Syrien sein, in dem auch Frauen frei sind und eine aktive Rolle in der Gestaltung des politischen und gesellschaftlichen Lebens haben. Die aktuellen Ereignisse stellen besonders die Selbstverwaltung in Rojava / Nord- und Ostsyrien vor neue Gefahren, deren Aufbau vor allem der Stärke von Frauen geschuldet ist.
Hintergrund: Syrien nach 2011
Nach Beginn des Bürgerkriegs 2011 und den Aufständen gegen das Baath-Regime sind Millionen Menschen aus Syrien geflohen. Der Krieg, die Gewalt des Regimes, aber auch die Entstehung und Stärkung islamistischer Milizen, trieb Millionen in die Flucht. Die Kräfteverhältnisse im Land änderten sich in jeder Region auf andere Weise. Mit der Vertreibung des Regimes im Norden Syriens durch kurdische Kräfte begann 2012 in der Stadt Kobanê die Rojava-Revolution und der Aufbau der Selbstverwaltung, heute Demokratische Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien (DAANES), mit einem rätedemokratischen System, in der sich Minderheiten und Frauen autonom organisieren. Der Bürgerkrieg und der Einfluss regionaler und internationaler Mächte ebnete aber auch reaktionären patriarchalen Kräften wie dem Islamischen Staat (IS) und der al-Nusra-Front den Weg, während im Süden Assad mit Unterstützung Russlands bis jüngst noch einige Gebiete unter seiner Kontrolle halten konnte.
Da, wo Gruppen wie der IS die Kontrolle übernahmen, kam es zu Zwangsislamisierung, Massakern an der Bevölkerung, insbesondere an Minderheiten, sowie Femiziden. In Shingal im Nordirak übte der IS 2014 einen Genozid aus, der vor allem ein Femizid und Angriff auf die Frauen war: Tausende Frauen und Mädchen wurden verschleppt und als „Sexsklavinnen“ verkauft. Auch große Teile Rojavas wurden vom IS belagert. Die Stadt Kobanê, wo die Rojava-Revolution begann, konnte 2015 nach einem 134 Tage anhaltenden Widerstand durch die Volksverteidigungseinheiten YPG und die Frauenverteidigungseinheiten YPJ von der IS-Herrschaft befreit werden. Der IS wurde durch die Verteidigungskräfte Rojavas, insbesondere durch den Widerstand der Frauen, mit der Zeit zum großen Teil zurückgedrängt und geschwächt. Wichtiger Unterstützer des IS ist und war die Türkei, deren Armee ab 2016 mit eigenen Operationen direkt militärisch intervenierte und die Selbstverwaltung angriff. Rojava muss sich seit Jahren gegen Angriffe der Türkei und mit ihr verbündeten Milizen zur Wehr setzen. Neben größeren Offensiven wie in Afrîn 2018 oder Gire Spî und Serêkaniyê 2019 führte die Türkei über längere Zeiträume einen Krieg niederer Intensität. Der IS ist seit einigen Jahren massiv geschwächt, es gibt jedoch immer wieder Versuche der Reorganisierung, die durch die Unterstützung der Türkei begünstigt werden. Daneben operieren zahlreiche weitere sunnitische und schiitische (Proxy-)Milizen in Syrien, die sich auch untereinander bekriegen.
Was ist in den vergangenen Tagen geschehen?
Das islamistische Bündnis Hayat Tahrir al-Sham (HTS) entstand 2017 und kann als eine Ablegerorganisation der al-Nusra-Front betrachtet werden. Sie dominiert die Grenzstadt Idlib und hat die jüngste Offensive gegen das syrische Regime angeführt. In der Nacht zum 8. Dezember 2024 verkündete sie, nachdem sie bereits Aleppo, Homs und Hama unter ihre Kontrolle gebracht hatte, ihre Einnahme der Hauptstadt Damaskus, dicht gefolgt von den Meldungen über Assads Sturz und seiner Flucht aus Syrien. HTS-Anführer Al-Jolani gibt sich derzeit gemäßigt und spricht davon, verschiedene politische Fraktionen und Gesellschaftsteile vereinen zu wollen. Besonders Frauen und Minderheiten in der Selbstverwaltung in Nord- und Ostsyrien stehen den Behauptungen des ehemaligen Al-Nusra-Führers jedoch skeptisch gegenüber.
Zeitgleich mit der Nachricht über den Sturz des Regimes kamen Meldungen über Angriffe der SNA, einer von der Türkei unterstützten Miliz, die an der Invasion in Afrîn und an der Ermordung der kurdischen Politikerin Hevrîn Xelef beteiligt war, auf die Selbstverwaltung in Rojava. Schon jetzt kursieren Bilder von Frauen, die in der Stadt Minbic, die 2016 von der IS-Herrschaft befreit wurde, von der SNA entführt werden, bei der auch ehemalige IS-Mitglieder aktiv sind. Sie zerstören Symbole der Selbstverwaltung und zünden Flaggen an, auf denen das Gesicht von Abdullah Öcalan zu sehen ist, dem seit 1999 inhaftierten Vorsitzenden der kurdischen Arbeiterpartei PKK, der sich besonders für die Organisierung von Frauen in der kurdischen Bewegung stark machte.
Parallel dazu setzt die Türkei ihre Angriffe in Nordsyrien fort, die darauf abzielen, die Selbstverwaltung in Rojava zu vernichten. Am 8. Dezember etwa attackierten türkische Drohnen ein von Christ:innen bewohntes Dorf nahe Til Temir. Am 9. Dezember führte die türkische Armee einen Drohnenangriff auf ein Dorf bei Ain Issa durch, bei dem zwölf Menschen, darunter Kinder, getötet wurden.
Inwiefern beziehungsweise wie lange die HTS die Selbstverwaltung in Rojava tolerieren wird, deren politischen Werte und Interessen den ihren komplett entgegensteht, und ob sie sich auf einen Dialog mit den Vertreter:innen der Selbstverwaltung einlassen oder sie in Kooperation mit der Türkei bekämpfen wird, bleibt derzeit abzuwarten. Fest steht, dass der Norden Syriens als Region strategisch wie wirtschaftlich wichtig ist und gleich mehrere Akteure ein Interesse daran haben, die Selbstverwaltung zu bekämpfen. Besonders die Türkei und ihr nahestehende dschihadistische Milizen verfolgen mit aller Härte ihr Ziel, die Frauenrevolution in Rojava anzugreifen und breite Flächen Syriens unter ihre Kontrolle zu bringen, zu türkisieren und zu islamisieren.
In anderen Teilen Syriens wird der Sturz des Regimes und die Befreiung politischer Gefangener gefeiert. Mehr als 50 Jahre Unterdrückung und Herrschaft durch das Baath-Regime sind vorbei. Für viele Menschen in und aus Syrien ist das eine Erleichterung. Doch die Frage ist, wie es jetzt weitergeht - vor allem für dortige demokratische und progressive Kräfte, für Frauen und für Minderheiten.
Vertreibung, Kämpfe, Abschiebungen – wie geht es weiter?
Jetzt schon zeichnet sich ab, dass regionale und internationale Mächte versuchen, aus der Lage in Syrien politische und militärische Vorteile herauszuschlagen und ihre geopolitischen Interessen durchzusetzen. Syrien ist seit mehr als einem Jahrzehnt der Präsenz ausländischer Mächte, Besatzung und Stellvertreterkriegen ausgeliefert. Es wird von der „Befreiung“ Syriens gesprochen, während auf der einen Seite islamistische Kräfte an Macht gewinnen, Israel Syrien aus der Luft angreift und die Türkei Gebiete in Syrien besetzt hält und mit ihren dschihadistischen Verbündeten Rojava angreift. In Europa wiederum sprachen die Regierungen keinen Tag nach Assads Sturz schon davon, syrische Staatsbürger:innen möglichst schnell abzuschieben - und das trotz der weiterhin unsicheren Lage.
Trotz militärischer Angriffe und Versuchen, die Selbstverwaltung politisch und wirtschaftlich zu isolieren, konnte Rojava bisher nicht besiegt werden. Seit Beginn der Revolution ist Rojava zu einer Hoffnung für Menschen in der Region und in der gesamten Welt geworden. Das konföderale System mit seinen autonomen Frauenstrukturen und der Selbstorganisierung der ethnischen und religiösen Minderheiten ist ein Modell, das im gesamten Land Frieden und Gleichheit schaffen könnte. Doch es ist permanent unter Beschuss. Eine wesentliche Bedrohung für Demokratie und Freiheit in Syrien und Rojava geht, jetzt noch stärker als zuvor, vom türkischen Staat und seinen dschihadistischen Verbündeten aus. Des Weiteren stellen sie eine Gefahr für andere in Syrien lebende Minderheiten dar.
Besonders zu betonen ist auch die Lage, in der sich Binnenvertriebene in Syrien befinden. Hunderttausende, die bereits vor sechs Jahren aufgrund der türkischen Invasion in Afrîn geflohen waren, sind jetzt aus der Region Shehba vor den islamistischen Gruppen nach Rojava geflohen und sind auf die Nothilfe dortiger Organisationen angewiesen.
Rojava kann Schlüssel zum Frieden sein
Trotz der anhaltenden Bedrohungen und Schwierigkeiten, denen sie jetzt gegenübersteht, sieht die autonome Verwaltung von Nord- und Ostsyrien im Zusammenbruch des Assad-Regimes aber auch eine Möglichkeit für eine demokratische Neuordnung. Die Zuspitzung der Gewalt trifft insbesondere die Zivilbevölkerung, die bereits unter der wirtschaftlich und politisch unstabilen Lage im Land leidet. Eine demokratische Neuordnung kann nur dann erfolgreich umgesetzt werden, wenn alle Minderheiten einbezogen werden und eine tatsächlich demokratische Struktur etabliert wird, die alle Bevölkerungsgruppen gleichstellt. In diesem Kontext könnte die Selbstverwaltung eine zentrale Rolle spielen. Frauen nehmen hier eine Schlüsselrolle in der politischen, wirtschaftlichen und militärischen Struktur der Selbstverwaltung ein. Sie besetzen wichtige Positionen, insbesondere in der autonomen Verwaltung und den Frauenverteidigungseinheiten (YPJ). Gleichberechtigung und Frauenrechte sind zentrale Prinzipien in Rojavas Gesellschaftsmodell, genauso wie Gerechtigkeit und Geschwisterlichkeit unter den Völkern.
Die Situation und die Entwicklungen vor Ort sollten von allen demokratischen, linken und feministischen Kräften mit großer Aufmerksamkeit und Solidarität verfolgt werden. Ein freies Syrien muss auch Freiheit für Frauen, Minderheiten, und alle unterdrückten Völker und Klassen einschließen. Die Gesellschaft allein sollte entscheiden, wie es mit Syrien weitergeht, und nicht Staaten und islamistische Milizen, die die Gesellschaft gegeneinander aufbringen und Hass, Gewalt und Krieg schüren. Dafür müssen auch wir aktiv werden.
Was können wir tun?
→ Aktiv werden: In vielen Städten finden derzeit Proteste gegen die Angriffe auf Rojava statt. Über die Initiativen Defend Kurdistan und Women Defend Kurdistan sowie auf den Kanälen der kurdischen Gemeinden KCDK-E findet ihr Infos zu den nächsten Terminen. Ihr könnt euch auch über Solidaritätskreise und offene Treffen informieren und in diesen aktiv werden. Darüber hinaus könnt ihr euch an die lokale Presse, Journalist:innen und Politiker:innen wenden - wir können Druck aufbauen, damit die Lage in Rojava in der Berichterstattung und in der Politik diskutiert wird.
→ Spenden: Die Selbstverwaltung in Rojava steht unter Beschuss und hat gleichzeitig die wichtige Aufgabe, Mehrfachvertriebene, die dort Zuflucht gefunden haben, zu versorgen. Hier sind vertrauenswürdige Organisationen, an die ihr spenden könnt:
Stiftung der Freien Frauen in Syrien (WJAS)
Spendenkonto: Kurdistanhilfe e.V.
Stichwort: NOTHILFE
IBAN: DE40 2005 0550 1049 2227 04
Kurdischer Roter Halbmond Heyva Sor
Spendenkonto: Heyva Sor a Kurdistane e.V.
Stichwort: Rojava
IBAN: DE49 3705 0299 0004 0104 81
oder per Paypal an [email protected]
→ Informieren: Auf diesen Kanälen findet ihr weitere aktuelle Informationen zur Lage in Rojava:
Rojava Information Center (englisch)
Civaka Azad - Kurdisches Büro für Öffentlichkeitsarbeit (deutsch)
Nachrichtenagentur ANF (deutsch und weitere Sprachen)
Cenî – Kurdisches Frauenbüro für Frieden e.V.
Franz-Mehring-Platz 1, 10243 Berlin
www.ceni-frauen.org
Kontakt: [email protected]