Durch widerständiges Gedenken zu gemeinsamen Kämpfen
Heute vor 25 Jahren wurde der kurdische Jugendliche Halim Dener von einem deutschen Polizisten in Hannover erschossen. Um 21.00 Uhr findet eine Gedenkkundgebung am Steintorplatz statt.
Heute vor 25 Jahren wurde der kurdische Jugendliche Halim Dener von einem deutschen Polizisten in Hannover erschossen. Um 21.00 Uhr findet eine Gedenkkundgebung am Steintorplatz statt.
„Nilgün Yıldırım, Bedriye Taş, Halim Dener, Seyfettin Kalan, Gülnaz Bağistani, Ercan Alkaya, Eser Altınok, Hasan Akdağ, Çebeli Haco, Taylan Kahraman, Barzan Öztürk, Sinan Karakuş, Sema Alp, Mustafa Kurt, Ahmet Açar, Orhan Aykan, Hamza Polat, Ümit Açar – 18 Tote”, mit dieser Aufzählung begann ein Mitglied des Rechtshilfefonds Azadî seinen Redebeitrag auf einer Konferenz zum 25. Jahrestag des PKK-Verbots im vergangenen Herbst. Bereits 18 Menschen hat das PKK-Betätigungsverbot seit 1993 in der Bundesrepublik Deutschland das Leben gekostet.
Halim Dener war 1994 als sogenannter „unbegleiteter minderjähriger Flüchtling” aus Nordkurdistan in die Region Hannover gekommen. Seine Heimat Çewlîg (Bingöl) hatte er verlassen müssen, weil er aufgrund seiner kulturellen Identität und politischen Überzeugungen in Polizeihaft gefoltert und das Dorf in Dara Hênê (Genç), in dem er aufgewachsen war, während seiner Haft vom Militär zerstört wurde.
In Hannover angekommen, fand der 16-Jährige schnell Kontakt zur kurdischen Community, engagierte sich dort politisch, knüpfte aber auch Freundschaften mit deutschen Jugendlichen. Das Betätigungsverbot der PKK und ihrer vermeintlichen Teilorganisationen war erst ein paar Monate zuvor erlassen worden, als Halim am 30. Juni 1994 gemeinsam mit Freund*innen Plakate mit der Fahne der ERNK (Eniya Rizgariya Neteweyî ya Kurdistanê – Nationale Befreiungsfront Kurdistans) in der Innenstadt klebte.
Dabei wurde er am Steintor von einem SEK-Polizisten in Zivil getötet. Ein Schuss aus der Waffe des Beamten traf Halim aus nächster Nähe in den Rücken, wobei die genauen Umstände später nie aufgeklärt wurden. Der Polizist wurde von seinen Kolleg*innen gedeckt und die Spuren der Tat wurden verwischt, indem viel zu spät und in sich widersprüchlich dokumentiert wurde. In zwei Anläufen – das erste Verfahren war wegen Krankheit der Richter*innen abgebrochen worden – wurde der Polizist freigesprochen, weil ihm keine Fahrlässigkeit nachgewiesen werden konnte. Ohnehin war er bloß wegen fahrlässiger Tötung angeklagt worden.
Halims Geschichte ist kein Einzelfall. Sie ist ein Beispiel für die Gefangenschaft Tausender, die wegen ihrer Identität und Weltanschauung inhaftiert sind. Sie ist ein Beispiel für die Flucht hunderttausender Jugendlicher vor Krieg und Unterdrückung und ihre Suche nach Sicherheit in der Fremde. Sie ist ein Beispiel für die politische Repression in der Bundesrepublik, die unter anderem durch das PKK-Verbot ausgeübt wird und Zehntausende direkt trifft, eine Million Kurd*innen in der BRD stigmatisiert und 18 Menschen das Leben gekostet hat. Sie ist ein Beispiel für 262 Opfer tödlicher Polizeigewalt allein zwischen 1990 und 2016, die Betroffenen rassistischer und anderweitig illegaler Polizeigewalt sind gar nicht zu zählen. Halim Dener ist einer von ihnen.
Kampagne Halim Dener (2014–2019)
Die Erinnerung an Halim wurde insbesondere in der kurdischen Community die letzten 25 Jahre über aufrechterhalten. Aber auch innerhalb der radikalen Linken in Hannover und Norddeutschland hat der Tod Halims Viele nachhaltig geprägt und nicht losgelassen. Das gemeinsame Plakatieren mit hundert solidarischen Menschen in der Innenstadt am Tag nach dem Tod, oder die Rede des damaligen Oberbürgermeisters Herbert Schmalstieg (SPD) auf der Trauerdemonstration eine Woche nach dem 30. Juni sind vielen im Gedächtnis geblieben, ganz zu schweigen von den persönlichen Bekanntschaften.
An dieses Gedenken knüpften 2014 kurdische Jugendliche und Aktivist*innen aus der radikalen Linken an, als sie zum 20. Todestag die „Kampagne Halim Dener” ins Leben riefen. Ziel der Kampagne war nicht nur ein aktives und kämpferisches Gedenken, sondern das bewusste Verbinden der verschiedenen aktuellen Kämpfe um den Kurdistan-Konflikt, Flucht und Asyl, PKK-Verbot und Polizeigewalt. Diese vier Aspekte drücken sich im Slogan der Kampagne aus: „gefoltert. geflüchtet. verboten. erschossen.”
Über die Jahre forderte die Kampagne einen öffentlichen Ort des Gedenkens sowie einen selbstbewussten und kritischen Umgang der Stadt Hannover mit dem Kapitel Halim Dener in ihrer eigenen Geschichte. Sie (oder ihr Umfeld) organisierte Demos und Kundgebungen, nahm Teil am Protestcamp Geflüchteter aus dem Sudan am Weiße-Kreuz-Platz, malte Wandbilder, gab Interviews, vernetzte sich mit Jugendorganisationen, Aktionen von Opfern rassistischer Polizeigewalt oder der Initiative im Gedenken an Oury Jalloh, drehte Videos, verlegte zwei Gedenksteine am Steintor, schrieb ein Lied, klebte tausende Sticker und Plakate, produzierte ein Radiofeature, entwarf einen Teil einer Ausstellung zur Bürger*innenrechtsbewegung in Hannover, benannte Straßen um, gab oder veranstaltete Konzerte, Filmabende und Diskussionen, besuchte den OB in seiner Bürger*innensprechstunde und ging mit ihm zum Fußball, sprach mit der Presse, druckte T-Shirts. Vor allem aber sprach sie mit vielen Menschen und Zusammenhängen darüber, wer Halim war, was wir aus dem Gedenken an ihn heute ziehen können und wie wir zusammen aktiv sein wollen.
Einer der Höhepunkte der Kampagne war sicherlich die Benennung des Halim-Dener-Platzes im hannoverschen Stadtteil Linden 2017. Eigentlich waren es Benennungen, denn der Bezirksrat Linden-Limmer hatte gleich zweimal mit Stimmen der Grünen, der Linken, eines Piraten und der Partei gegen den Protest türkischer Nationalist*innen sowie der CDU und der FDP entschieden, den Platz nach Halim zu benennen. Die erste Benennung scheiterte am Einspruch des OBs, Stefan Schostok (SPD), der erneute Beschluss wurde von der Kommunalaufsicht beim Innenministerium Niedersachsen für rechtswidrig erklärt, nachdem Schostok sich an das Ministerium gewandt hatte. Infolgedessen trug 2018 die jährliche Demo zum Todestag von Halim den Protest symbolisch wieder von Linden zurück in die Innenstadt.
Neue Bedingungen, Altes zu Ende bringen
Während der letzten fünf Jahre ist nicht nur in Hannover einiges geschehen. Gerade in Kurdistan und um die Freiheitsbewegung Kurdistans haben sich ganz neue Räume aufgetan: Die Guerilla der PKK und die YPG haben noch schlimmere Folgen des Genozids an den Êzîd*innen im Şengal verhindern können, was nicht wegzureden ist. Der Widerstand von Kobanê hat die kurdische Frage und die Revolution in Rojava weltweit bekannt gemacht. Das AKP-MHP-Regime hat international massiv an Glaubwürdigkeit eingebüßt und sein autoritärer, kriegstreibender Charakter kann nicht länger geleugnet werden. Auf der ganzen Welt haben Menschen die Freiheitsbewegung und ihren Kampf für sich (wieder-) entdeckt und lassen sich auch von der Verschärfung des PKK-Verbots in der BRD nicht aufhalten, mit dieser Bewegung zusammenzukommen und über gemeinsame Perspektiven zu diskutieren.
Die anhaltende Kriminalisierung hat einen offiziellen Gedenkort in der Stadt Hannover zwar verhindert – trotzdem hat die Kampagne Halim Dener einen Beitrag dazu geleistet, die Isolation gegenüber der kurdischen Bewegung aufzulockern und eine Grundlage für verschiedene Linke, ob kurdischen, türkischen oder deutschen Hintergrunds, gelegt, um zusammenzukommen, sich kennenzulernen und Gemeinsamkeiten zu entdecken.
Da die Kampagne damit zumindest teilweise erfolgreich war, ruft sie zum 25. Todestag ein letztes Mal dazu auf, zusammen auf die Straße zu gehen, massenhaft, kraftvoll und laut: am Todestag, dem 30. Juni 2019, um 21.00 Uhr zu einer Gedenkkundgebung am Steintorplatz sowie am 6. Juli 2019 zu einer Demonstration ab 14.00 Uhr vom Hauptbahnhof aus. In ihrem Aufruf formuliert sie klar ihre Perspektive widerständigen Gedenkens: „Wir erwarten nichts mehr von der Stadtpolitik. Wir werden deshalb die Kampagne am Ende dieses Jahres beenden. Das würdevolle Gedenken an Halim Dener aber wird in unseren gemeinsamen Kämpfen bestehen und entstehen! Nichts und niemand wird vergessen!”
Der Text erschien im Original in der Mai/Juni-Ausgabe des Kurdistan Reports