Die Journalistin Burcu Karakaş setzt sich intensiv mit der türkischen Religionsbehörde und der Diyanet-Stiftung auseinander und hat zuletzt ein Buch mit dem Titel „Biz Her Şeyiz- Diyanet’in İşleri” („Wir sind alles – die Angelegenheiten des Diyanet“), veröffentlicht. Die türkische Religionsbehörde, deren Ableger in Deutschland die DITIB ist, war zuletzt Gegenstand in Haushaltsdebatten im türkischen Parlament. Karakaş beschäftigt sich insbesondere mit der Ausweitung der Diyanet-Aktivitäten auf alle gesellschaftlichen Bereiche. Seit 2010 wurde dafür das Budget und die Mitarbeiterzahl der Behörde und ihrer Stiftung massiv aufgestockt. Karakaş sieht in der Rolle von Diyanet einen Versuch des Social-Engineerings durch die Schaffung „einer religiösen Generation und des Schutzes der Familie.“ Im ANF-Interview hat sie über ihre Recherchen gesprochen.
Diyanet setzt Schwerpunkt auf Arbeit außerhalb der Moscheen
In Ihrem Buch behandeln Sie speziell die letzten zehn Jahre von Diyanet. Was macht das letzte Jahrzehnt im Kontext dieser Behörde so besonders?
Als Journalistin befasse ich mich hauptsächlich mit Gender, Frauen, Kindern und Jugendlichen. Aber immer, wenn ich mich mit diesen Bereichen auseinandersetze, springt mir Diyanet ins Auge. Die Behörde arbeitet intensiv in diesen Bereichen. Ich beziehe mich vor allem auf die vergangenen zehn Jahre, da Diyanet mit einer Gesetzesänderung im Jahr 2010 seinen Schwerpunkt weit über die Moscheen hinaus verlagerte. Der Status hat sich ebenfalls geändert, die Behörde wächst seitdem ständig. Also habe ich dieses Datum als Ausgangspunkt genommen. Natürlich gibt es Bemühungen, soziale Gruppen wie Frauen, Kinder und Jugendliche in die Moschee zu locken. Aber was meine eigentliche Aufmerksamkeit geweckt hat, ist die Arbeit, die Diyanet außerhalb der Moschee leistet. Diyanet betont immer wieder, welch große Bedeutung die Aktivitäten außerhalb der Moschee hätten. Dabei geht es vor allem um die Jugend-, Kinder- und Familienarbeit. Ich sage hier bewusst nicht Frauen, sondern Familie.
Familienerhalt um jeden Preis
Warum?
Der Institution der Familie wird von konservativen Regierungen die größte Bedeutung beigemessen. Das gilt nicht nur für die Türkei, trifft hier aber besonders zu, da die Familie als wichtigste Institution für den Schutz des Überlebens der Gesellschaft gilt. Die Aufgabe des Schutzes der Familie wurde vor allem Diyanet übertragen. In diesem Rahmen versucht die Behörde, Scheidungen zu verhindern und Prävention gegen Gewalt gegen Frauen zu betreiben. Diyanet ist nur gegen Gewalt gegen Frauen, weil Diyanet die Auflösung von Familien zu verhindern versucht.
„Biz Her Şeyiz- Diyanet’in İşleri” erschien beim Verlag İletişim
Gesamte Gewaltprävention wurde Diyanet überlassen
In diesem Kontext gibt es beispielsweise Familienseminare. Das sind Veranstaltungen, die für frisch verheiratete, verlobte oder für bis zu fünf Jahren verheiratete Paare organisiert werden. Hier wird über Gewalt gegen Frauen gesprochen. Aber die Sache ist doch die, sicher sollte auch Diyanet einen Beitrag zur Behebung der chronischen Gewalt gegen Frauen in der Türkei leisten, jedoch wurde hier die gesamte Arbeit gegen Gewalt Diyanet überlassen.
Diyanet verhindert Strafverfolgung
Worum geht es dabei? Können Sie das bitte etwas genauer beschreiben?
Es gibt Familien- und Beratungseinrichtungen, die meisten werden von Frauen aufgesucht. Das zeigen die Zahlen von Diyanet selbst. Die meisten Frauen, die sich an diese Stellen wenden, haben familiäre Probleme. In einer meiner Feldstudien habe ich als eine Frau, die Gewalt erfahren hat, die verschiedenen Beratungsstellen der Religionsbehörde angerufen. Sie sagten mir, dass ich geduldig sein, beten und abwarten solle. Wenn ich die Polizei anriefe, würde es nur noch schlimmer werden, wenn mein Mann nach Haus käme. Wenn ich alle vorstellbaren Gewaltsituationen beschrieb und fragte, ob ich zur Polizei gehen solle, sagten sie, ich solle das nicht tun.
Ja, die Realität der türkischen Gesellschaft ist offensichtlich so, dass wir nicht erwarten können, dass alle zur Polizei oder zur Familienberatung gehen. Die Menschen holen sich Rat bei den religiösen Institutionen. Natürlich kann man zur Moschee oder zum Mufti gehen, das kann zu einer Lösung beitragen. Aber in diesem Zusammenhang ist es wichtig, was für Ratschläge die Institutionen abgeben. Wenn im Fall von Gewalt gesagt wird, die Frau solle nicht zur Polizei gehen, dann wird hier die Strafverfolgung verhindert. Wenn wir es so betrachten, werden Justiz und Sicherheitskräfte an der Erfüllung ihrer Aufgabe gehindert.
Braucht die Gesellschaft denn zu jedem Thema eine religiöse Stellungnahme?
Diyanet soll zu jedem Thema eine Meinung haben und diese an die Öffentlichkeit bringen. Aber es stellt sich die Frage: braucht die Gesellschaft denn zu jedem Thema eine solche Erklärung von Diyanet? Zum Beispiel steigt die Zahl des Personals von Diyanet jedes Jahr. Diyanet sagt vor dem Hintergrund dieser Daten, es bestehe ein gesellschaftlicher Bedarf dafür. Aber das ist sehr schwammig, um welchen Bedarf soll es denn dabei gehen? So wurden zum Beispiel an allen Universitäten in der Türkei Moscheen und religiöse Einrichtungen gebaut, aber es war vorher nicht so, als hätte es an den Universitäten keine Gebetsstätten oder Moscheen gegeben. Also wessen Bedarf sollte hiermit abgedeckt werden? Ich meine, dass Diyanet hier instrumentalisiert wird.
Diyanet mit Gegnern der Istanbul-Konvention auf einer Linie
Stellt die von Ihnen beschriebene Praxis auch ein Hindernis für die Umsetzung der Istanbul-Konvention dar?
Vor etwa zehn Jahren wurde in der Türkei eine sogenannte Plattform der geschiedenen Väter gegründet. Über diese Plattform stellten sich die Männer bis ins Parlament hinein als Opfer dar. Das gleiche gilt für die Frage des Unterhalts. Es ist Tatsache, dass Frauen sich scheiden lassen, weil sie Gewalt erfahren und nicht mehr leiden wollen. Nun sollen Scheidungen verhindert werden. Die Istanbul-Konvention ist ein sehr wichtiger Text, der Frauen vor Gewalt Sinne schützt, sie ist immer noch in Kraft, aber der Austritt soll am 1. Juli stattfinden. Tatsächlich ist die Arbeit von Diyanet hier auch nicht anders (als die der Gegner der Istanbul-Konvention). Es geht darum, dass sich die Familien nicht auflösen. Das gilt auch für Fälle von Gewalt. Auch wenn sexualisierte Gewalt verübt wird, wollen sie dafür sorgen, dass die Institution Familie weiterbesteht.
Die Istanbul-Konvention richtet sich nicht nur an säkulare Frauen und schützt diese. Sie gilt für alle Frauen. Es sind heute ohnehin nicht nur säkulare Frauen, es sind auch konservative Frauen, die dies zur Sprache bringen. Auch wenn das vielleicht nicht so in den Medien sichtbar ist. Aber das ist ja genau das, wovor dieses Lager Angst hat, und das ist die Grundlage der Arbeit von Diyanet.
Staatlich-religiöser Komplex
Sie haben immer wieder den Begriff der Instrumentalisierung von Diyanet aufgebracht. Was meinen Sie damit?
Diyanet verfügt über Vereinbarungen mit öffentlichen Institutionen wie dem Ministerium für Familie, dem Ministerium für Jugend und Sport und Ministerium für nationale Bildung und führt in diesem Rahmen Aktivitäten durch. So wird beispielsweise gemäß der Vereinbarung mit dem Ministerium für Jugend und Sport jeden Sommer ein Jugendcamp von Diyanet organisiert. In anderen vom selben Ressort organisierten Camps hat Diyanet immer einen Stand. Diyanet organisiert sich auch an den Universitäten. Diyanet ist keine Nichtregierungsorganisation, aber es gibt Vereine an einigen Universitäten namens Diyanet-Jugend.
Wie sollen wir das interpretieren, wenn eine Organisation, die aus Steuergeldern finanziert wird, Studentenvereine gründet? Natürlich ist Organisierungsfreiheit ein Recht, aber man muss sich eben auch ansehen, was sie organisieren.
Diyanet greift schon im Kindesalter zu
Eine der wichtigsten Vereinbarungen wurde mit dem Bildungsministerium in Bezug auf Werteerziehung für Kinder im Alter von vier bis sechs Jahren geschlossen. Eigentlich handelt es sich um kein Pflichtfach, aber es wird faktisch als solches umgesetzt. In diesem Zusammenhang hält ein Vertreter von Diyanet an einem Tag in der Woche eine Stunde Unterricht. Da es sich aber offiziell um einen Wahlkurs handelt, müssen von den Lehrern die Unterschriften der Eltern eingeholt werden. Bei der Feldforschung für mein Buch habe ich mit Vertreter:innen der Bildungsgewerkschaft Eğitim-Sen, den Schulen und vielen anderen Stellen gesprochen. Eine dieser Personen arbeitet an einer Vorschule in Yalova. Es handelt sich um eine konservative Person. Aber selbst für diese Person war diese Form der Bildung inakzeptabel. Vor allem betonte sie, dass Kinder im Alter zwischen vier und sechs Jahren nicht in der Lage seien, abstrakte Begriffe zu verstehen. Den Eltern riet diese Person, ihre Kinder nicht zu diesen Kursen anzumelden. Später wurde ein Verfahren gegen diese Lehrkraft eingeleitet. Denn die Person hatte auf der Grundlage einer im Internet verfügbaren Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte einen Brief der Eltern beim Rektorat eingereicht, in dem sie sich gegen die Teilnahme am Werteunterricht stellten. Wenn es sich um einen Wahlkurs handelt, ist dies nichts Illegales. Die Lehrkraft hat Gesetzestexte zusammengestellt. Aber dennoch wurde eine Ermittlung eingeleitet. Das ist eine Methode der Einschüchterung.
Obwohl glücklicherweise dieser Person im Rahmen der Ermittliungen nichts passiert ist, heißt das nicht, dass das überall so ist. Wie gesagt, der Religionsunterricht ist de facto nicht wählbar. Jetzt, da der Präsenzunterricht gerade unterbrochen ist, wissen wir natürlich nicht, auf welche Weise diese Probleme aktuell weiterbestehen.
Diyanet fühlt sich von sozialen Medien gestört
Immer wieder wird verbreitet, in der Jugend müsse Deismus oder Atheismus bekämpft werden. Welche Rolle spielt Diyanet in dieser Propagandakampagne?
Einer der Hauptgründe für die Zunahme der Propagandaaktivitäten, die sich an junge Menschen richten, ist die Behauptung, dass Atheismus und Deismus in dieser neuen Generation viel Raum einnehmen würden. Um der angeblichen Verbreitung von Deismus und Atheismus entgegenzuwirken, finden Jugendlager statt, führt Diyanet Organisierungsarbeit an den Universitäten durch und setzt in den Studierendenwohnheimen „spirituelle Berater“ ein. Diyanet sieht sich insbesondere durch soziale Medien gestört und vertritt die Auffassung, dass diese großen Einfluss auf junge Menschen, Kinder und Familien haben. Deshalb wurde als Gegenprogramm 2010 Diyanet TV geschaffen. Es gibt im religiösen Fernsehen viele Programme in Bezug auf Jugendliche, Kinder und Familie. Es ist bekannt, dass Diyanet den Aufbau einer religiösen Generation von Jugendlichen proklamiert hat.
Diyanet-Stiftung: Finanzielle Blackbox der Behörde für religiöse Angelegenheiten
Könnten Sie noch einmal auf die vieldiskutierte Frage des ständig wachsenden Budgets von Diyanet eingehen?
Jedes Jahr steigt die Zahl der Mitarbeiter von Diyanet. Dies ist einer der Gründe, warum das Budget der Behörde immer weiterwächst. Wie ich eben gesagt habe, stellt sich die Frage, wofür sie das ganze Personal brauchen. Diyanet spricht immer von Transparenz, aber das trifft auf die Behörde in keiner Weise zu. Die Direktion für religiöse Angelegenheiten unterliegt der finanziellen Aufsicht, aber die Diyanet-Stiftung ist von dieser Prüfung ausgenommen. Da es keine solche Kontrolle gibt, wird die Stiftung auch als Black Box der Direktion für religiöse Angelegenheiten bezeichnet. Die Moscheen im Ausland und ein Großteil der Jugendarbeit der Direktion werden über die Stiftung abgewickelt. Zum Beispiel wurde eine Moschee in Moskau gebaut. Wir können einsehen, was der Bau gekostet hat, wir erfahren aber nicht, in welcher Höhe Spenden gesammelt wurden. Dies ist nur ein Beispiel – die Stiftung errichtet Moscheen in vielen Teilen der Welt auf diese Weise. Da es keinen Kontrollmechanismus gibt, können wir nicht herausfinden, woher das Geld kommt. Wir sprechen hier über unglaubliche Geldbeträge. Die Öffentlichkeit nimmt den Bau dieser Moscheen zur Kenntnis und es kommt zu Protesten.
Diyanet versucht in jeden Bereich der Gesellschaft vorzudringen
Es wird offensichtlich angenommen, dass Diyanet eine Antwort auf jeden Bedarf der Gesellschaft darstellt. Diyanet ist ein Werkzeug des Social Engineering. Aber ich denke nicht, dass dieses Social Engineering in der Türkei im Jahr 2021 großen Erfolg hat. Natürlich müsste der Grad des Erfolgs von Diyanet der Gegenstand einer weiteren Untersuchung sein. Das Problem der Vermischung von Staat und Religion besteht schon seit Gründung der Republik. So dringt Diyanet heute in den Bildungsbereich ein, dagegen klagen immer wieder Eğitim-Sen und die Anwaltskammer von Ankara. Manchmal wird ihnen Recht gegeben, manchmal wird kein Problem mit den Aktivitäten von Diyanet wahrgenommen. In gewisser Weise zeigt das auch, wie kompliziert die Verzahnung von Religion und Staatsangelegenheiten ist. Ich meine, dass es hier eine widersprüchliche Situation gibt. Wir werden sehen, wie es weitergeht.