Die türkischen Pläne für Südkurdistan – Teil 3

Im 3. Teil des Dossiers geht es um die Angriffe auf Kerkûk und Şengal. In den letzten beiden Jahren haben die Milizen des türkischen Staates viele Angriffe auf die Şengal-Region und auf Kerkûk verübt. Bei diesen Angriffen wurden Dutzende ermordet.

Die AKP versucht das Klima des Chaos und der Unruhe im Irak und Südkurdistan zu nutzen und das existierende Durcheinander in der Region weiter zu vertiefen. So soll ein dauerhaftes Ungleichgewicht entstehen. In der Militärbasis von Başika (Baschiqa) wurden unter der Bezeichnung „oppositionelle Gruppen“ verschiedenste Milizen ausgebildet. Diese Milizen nehmen an vielen Angriffen auf die Ordnung der Region teil. Das Hauptziel dieser Angriff sind immer wieder Kerkûk und Şengal.

Şengal

Der zu Mossul gehörige Kreis Şengal befindet sich an der Grenze zu Westkurdistan (Nordsyrien/Rojava). Die Mehrheit der Bewohner*innen des Landkreises sind Ezid*innen, die in ihrer Geschichte schon 74 Massaker und Genozide erleben mussten. Als der Islamische Staat (IS) am 3. August 2014 einen Völkermord an der ezidischen Bevölkerung im Şengal begann, wurde die Region weltweit bekannt. Zehntausende Frauen, Kinder, Junge und Alte wurden von den Milizen grausam umgebracht, Tausende Frauen und Mädchen entführt und Hunderte Familien vertrieben. Die Guerilla der HPG/YJA-Star und die Kräfte der YPG und YPJ nahmen die Grausamkeiten dieser Milizen nicht hin und eilten den Ezid*innen zur Hilfe. Sie konnten Hunderttausenden das Leben retten.

Nach einem starken Widerstandskampf gegen den IS hat sich die ezidische Bevölkerung militärisch, politisch und kulturell auf allen Gebieten selbstorganisiert und eigene Institutionen aufgebaut. Der IS wurde aus der Region vertrieben und Ruhe und Sicherheit kehrten in den Şengal zurück. Das blieb jedoch nicht so, denn nun begann der türkische Staat die Region zu bedrohen. Die ezidische Bevölkerung war erneut mit Angriffen und Massakern konfrontiert.

Der türkische Republikpräsident Erdoğan hatte seine Drohungen an die irakische Regierung wiederholt: „Wenn ihr das nicht löst, werden wir in Şengal einmarschieren.“ Erdoğan wollte die Kurdische Regionalregierung dabei zu seinem Komplizen machen. Die ezidische Gesellschaft war auf diese Weise von einem neuen Massaker durch den NATO-Staat Türkei bedroht.

Sie griffen Xanêsor an

Den Drohungen Erdoğans folgten im Jahr 2017 Taten. Am 3. März griffen die sogenannten „Roj-Peschmerga“ die befreite Stadt Xanêsor an. Die „Roj-Peschmerga“ waren mit ihren Angriffen nicht erfolgreich, setzten diese aber dennoch fort. Als zwei unbewaffnete HPG-Guerillas die Angriffe zu stoppen versuchten, wurden sie von den Milizionären angegriffen und umgebracht. Auch Journalist*innen, welche die Situation in der Region beobachteten, wurden ins Visier genommen. So brachten die Milizen die Journalistin Nûjiyan Erhan um. Die Verteidigungseinheiten des Şengal YBŞ und die Asayisch-Kräfte von Êzidixan erwiderten die Angriffe und es kam zum Gefecht. Bei dem Gefecht wurden zwei HPG Guerillas und drei weitere Kämpfer*innen der YBŞ und der Êzidxan-Asayisch getötet.

Ein paar Tage nach den Angriffen fand eine Demonstration zur Verurteilung der Angriffe auf Şengal und Rojava statt. Die Bevölkerung marschierte bis zu den Stellungen der Milizen und wurde dort erneut angegriffen. Dabei wurden Dutzende verletzt und die junge Frau Nazê Qewal ermordet. Später wurde klar, dass sich unter den Angreifern in Başika ausgebildete Milizen und Mitglieder des MIT befanden. Als der Angriff stattfand berichtete ein Ladenbesitzer aus Sinunê, wo die Milizen stationiert waren, dass zwei Milizionäre in seinen Laden gekommen seien und Türkisch gesprochen hätten.

Die Bombardierung vom 25. April

Möglicherweise hat die Tatsache, dass die Angriffe auf Xanêsor ihr Ziel nicht erreicht hatte, die Türkei selbst auf den Plan gerufen. Türkische Kampfflugzeuge bombardierten am 25. April 2017 den Şengal-Berg, auf den sich Zehntausende Ezid*innen auf der Flucht vor dem IS zurückgezogen hatten. Bei der Bombardierung starben fünf PDK-Peschmerga.

Die Drohungen gegen das Referendum und die Angriffe auf die Errungenschaften in Südkurdistan

Ein anderer Anlass, der zur Legitimierung türkischer Angriffe diente, war das südkurdische „Unabhängigkeitsreferendum“ vom 25. September 2017. Die Entscheidung der südkurdischen Regierung für das Referendum hatte bei den Regionalmächten, wie auch den internationalen Mächten, teilweise heftige Reaktionen hervorgerufen. Am schärfsten reagierte die Türkei.

Die Türkei zog ihre für den 27. September 2017 vorgesehene Sitzung des Nationalen Sicherheitsrats (MGK) auf den 22. September vor. Auf diesem Treffen wurde die Entscheidung für Angriffsdrohungen und eine Besetzung der Region getroffen. Obwohl die ökonomischen Abkommen zwischen der Türkei und der Kurdistan Regionalregierung und die Beziehungen sehr eng waren, änderte das Thema des „Kurdentums“ alles.

Tatsächlich hatte der türkische Republikpräsident Vertreter der Regionalregierung viele Male in die Türkei eingeladen und es fanden sogar gemeinsame Kundgebungen in Amed statt. Aber diesmal beleidigte und bedrohte Erdoğan dieselbe Regierung. Erdoğan beleidigte den Vorsitzenden der PDK Mesûd Barzanî und warf ihm Verrat vor: „Setz Dich auf Deinen Platz. Was willst Du noch. Wir werden jetzt eingreifen. Glaubst Du, Du kannst dortbleiben? Wir werden Dir die Wasserquellen abschneiden. Wir werden Dir alle Einkommensquellen abschneiden. Ihr werdet kein Trinkwasser mehr finden. Wir haben nicht geglaubt, dass Barzanî so einen Fehler machen würde. In einer Zeit, in der unsere Beziehungen sehr gut sind, ist so etwas Verrat.“

Militärmanöver und Grenzschließungen

Nach dem Referendum entwickelten die Türkei, der Iran und der Irak gemeinsame Pläne gegen die Errungenschaften Südkurdistans. Die Flugrouten von den Flughäfen von Hewlêr (Erbil) und Silêmanî (Sulaimaniyya) wurden gesperrt. Das türkische und das irakische Heer führten an der Grenze zu Südkurdistan Manöver durch und die irakische Regierung setzte die Kurdistan Regionalregierung unter Druck ihr die Kontrolle und Verteidigung der Grenzübergänge zu überlassen. In Folge des Drucks wurden alle Forderungen, eine nach der anderen, erfüllt. Erdoğan sagte in dieser Phase ganz deutlich: „Die Zusammenarbeit mit Irak und Iran hat das Spiel im Nordirak scheitern lassen.“

Im fünften Teil unseres Dossiers wird es um die ökonomischen Druckmittel der Türkei gegen Südkurdistan gehen.

Kerkûk und die Angriffe vom 16. Oktober

Die Angriffe auf die Region Kerkûk nahmen seit dem Jahr 2016 massiv an Intensität zu. Das eigentlich Interessante daran ist, dass diese Angriffe mit der Besetzung vieler Regionen durch den IS zusammenfallen. Mit Hilfe dieser Milizen wollte man auch Kerkûk besetzen. So wurden, damit nicht immer der Name „IS“ fiel, Angriffe unter dem Namen der „Turkmenen“ und vielen anderen Bezeichnungen unternommen. Diese Milizen sind vor allem in Başîqa ausgebildet worden.

Im Jahr 2016 wurden neun Angreifer bei einem Gefecht in Kerkûk getötet, ein Milizionär wurde lebend gefangen genommen und hat sehr interessante Aussagen gemacht. Seine Aussagen wurden von der arabischsprachigen Nachrichtenagentur Bedir News veröffentlicht. In der Meldung sagt der Milizionär folgendes: „Hinter diesen Angriffen steht die Türkei. Wir wurden mit türkischen Hubschraubern in der Dorf Serêtepe im Norden von Kerkûk gebracht. Von dort aus brachte man uns in Stadtzentrum. Unser Ziel war es, das Gouverneursamt und andere offizielle zu besetzen.“

Die wichtigsten Ereignisse des Jahres 2017 in diesem Zusammenhang fanden im Oktober statt. Nach dem Unabhängigkeitsreferendum übernahmen die Heşdî-Şabî-Gruppen gemeinsam mit dem irakischen Militär die Kontrolle über Kerkûk, Xurmatû, Germiyan, Mexmûr und Şengal während sich die Peschmerga zurückzogen. Auf diese Weise verlor Südkurdistan einen großen Teil seines Territoriums. Von allen Seiten wurde festgestellt, dass der entscheidende Akteur im Hintergrund der türkische Staat war. Erdoğans Aussagen belegen diese Analysen. Im Rahmen der selben Ereignisse wurden in Kerkûk, Xurmatû und den anderen Regionen viele Häuser von Kurd*innen beschlagnahmt.

Die Angriffe nehmen im Jahr 2018 noch weiter zu

Diese Angriffe gingen auf andere Weise im Jahr 2018 weiter. Als der türkische Staat den westkurdischen Kanton Efrîn angriff, haben politische Kreise davon gesprochen, dass dies mit dem Ziel erfolgte, „dem IS neues Leben einzuhauchen“ und alle kurdischen Errungenschaften zu vernichten. Erdoğan sagte: „Wir werden von Efrîn nach Minbic, Kobanê, Qamişlo, Şengal und bis in den Qendîl vorrücken“, und machte damit das bevorstehende Szenario deutlich. Nach den Angriffen auf Efrîn erfolgte ein deutlicher Anstieg der Angriffe der Milizen in Kerkûk.

Schlag auf Schlag wurden Angriffe auf die Städte Kerkûk, Selehedîn und Diyala von Milizen verübt. Nach Informationen der Verteidigungskräfte haben die Milizen Xaneqîn in der Provinz Selehedîn 13 mal und die zur Provinz Diyala gehörigen Gemeinden Gulale, Qeretepe und Sediye 31mal angegriffen. Der Leiter der Stadtverwaltung von Gulale, Yaqub Yusuf, sagte zu diesem Thema: „Die IS-Banden und ihre Kollaborateure kommen jetzt offen in diese Region und versuchen sie zu besetzen.“

Bei Angriffen der Milizen wurden im Februar 27 Mitglieder der Heşdî-Heşhî-Miliz getötet und sehr viele verletzt. Bei einem Angriff auf einen Reisebus am 20. März wurden sechs Personen getötet, von den Insass*innen, mehrheitlich Frauen und Kinder, wurden 21 Personen schwer verletzt. Am 23. März verbreiteten die Milizen Bilder von acht hingerichteten irakischen Polizisten.

Die Angriffe der Milizen zielen vor allem auf Kerkûk und Daquq ab. Der ehemalige Landrat des Kreises Daquq, Emîr Xwakerem, erklärte, dass es in der Region eine große Lücke gebe und dass die Milizen sich an diesen Orten niederließen und von dort aus angriffen: „Im Kreis Beşîri in der Nähe der Grenze von Zerhe befanden sich 12 Zentren der Peschmerga. Aber nach dem 16. Oktober blieben nicht mal 12 Personen hier. In Hêftexar, Talebanî und Kakeyî gab es auf einem 30 Kilometer langen Streifen Basen der Peschmerga, aber jetzt ist da niemand mehr.“ Er berichtet, dass die Angriffe der Milizen jeden Tag zu nehmen und dass diese in Städten entlang der Grenze in 40 Dörfern aktiv seien. Nach regionalen Quellen ziehen sie in Gruppen von 60–70 Personen herum und stellen eine ernsthafte Bedrohung dar.

Milizen unter türkischer Fahne

Im Kreis Hewîce an der Grenze der Provinz Kerkûk im Dorf Humerî Beşardê Reşadî war es am 8. April zu Kämpfen zwischen Heşdî Şabî und dem IS gekommen. In diesem Gefecht wurden fünf Angreifer getötet und einer lebend gefangen genommen. Auf Bildern ist zu sehen, dass der Milizionär eine türkische Fahne trägt. Neben diesen Angriffen fanden in Kerkûk sehr viele Selbstmordanschläge statt, bei denen die Zivilbevölkerung ins Visier genommen wurde. Bei diesen Angriff starben sehr viele Menschen.

Das Heftêxar-Gebiet wird geräumt“

Insbesondere in Heftêxar im Kreis Daquq in der Provinz Kerkûk gab es einen bedrohlichen Anstieg der Angriffe. Die Mehrheit der Bewohner*innen ist kurdisch und lebt in 4–5 Dörfern. Als das irakische Militär und Heşdî Şabî die Region am 16. Oktober angriffen, zogen die Peschmerga aus der Region ab. Die vom türkischen Staat organisierten Milizen steigerten in Folge dessen ihre Aktivität in der Region. Ein Dorfbewohner, der aus Sicherheitsgründen seinen Namen nicht nennen will berichtet, dass die Milizen nachts in die Dörfer eindringen und diese bedrohen nicht an den irakischen Parlamentswahlen teilzunehmen. Andererseits heißt es, die irakische Regierung wolle die Region Heftêxar räumen und die Dörfer niederreißen. Nach Informationen aus glaubwürdigen Quellen fordert die irakische Regierung, dass die Dorfbewohner*innen der Dörfer Mansur, Ferîq, Away und Albu Necim ihre Dörfer räumen.