Die türkischen Pläne für Südkurdistan – Teil 1

Die Angriffe der Türkei auf Südkurdistan haben in den letzten fünf Monaten eine neue Qualität bekommen. Das folgende Dossier soll die Hintergründe dieser Angriffe im historischen Kontext untersuchen.

Das türkische Militär weitete in den vergangenen fünf Monaten seine Angriffe auf Südkurdistan sukzessive aus. Auch wenn es seit 1992 Angriffe dieser Art gibt, haben sie in der letzten Zeit eine andere Qualität erreicht. Die kurdische Bevölkerung und die meisten ihrer politischen Organisationen sehen diese Angriffe als Besatzung und Verwüstung Kurdistans an. Die PKK wird als Grund vorgeschoben und es wird versucht den Anschein zu erwecken, als gehe es alleine gegen die PKK. Aufgrund der Bedeutung dieses Themas hat die Nachrichtenagentur RojNews ein Dossier dazu verfasst, auf dessen Grundlage wir ebenfalls eine Artikelserie veröffentlichen.

Durch das Dossier soll versucht werden, den historischen Faden der Angriffe heute zurückzuverfolgen und die Ziele der Türkei in der Region zu analysieren. Dabei soll auf die türkische Südkurdistanpolitik auf militärischer, politischer, ökonomischer und kultureller Ebene eingegangen werden.

Der Versuch, ein neues System in einem hundertjährigen Chaos zu errichten

Am Ende des 1. Weltkriegs schufen die Hegemonialmächte ein ihren Interessen entsprechendes System im Mittleren Osten, aus dem sich das nationalstaatliche Modell entwickelte. Die Grenzen der späteren Nationalstaaten wurden am Reißbrett nach Profitinteressen gezogen. Es wurde versucht, das nationalstaatliche Modell in der Region in den vergangenen hundert Jahren auf den Beinen zu halten.

Nach hundert Jahren wollen die Hegemonialmächte erneut das System ihren Interessen anzupassen. Das kapitalistische System hat auch den letzten Winkel der Welt erreicht und die Kapitalisten bestimmen die Politik. Das Kapital hat in Form der internationalen Konzerne die Grenzen des Nationalstaats überwunden. Sie sehen den Nationalismus und das familienbasierte „Königtum“ als ein Hindernis für ihre Profite. Aus diesem Grund haben die Regionalmächte in den 1990er Jahren begonnen, in der Region zu intervenieren, um eine Veränderung des Systems durchzusetzen. Das Greater Middle East Project der USA ist in diesem Kontext immer wieder betrachtet worden. Die Besatzung des Iraks, die Zerschlagung des Saddam-Regimes, die Intervention in Afghanistan und die seit 2010 in den arabischen Staaten an den Tag tretenden Ereignisse werden immer wieder als Interventionen im Sinne eines Systemwechsels angesehen.

Das Bewusstsein der Bevölkerung und der Freiheitskampf

Das Chaos im Mittleren Osten und der Krieg in Kurdistan haben ohne Zweifel nicht allein die Pläne der Kapitalisten und der Hegemonialmächte zur Ursache. Nach Analysen aus der Geschichts- und Sozialwissenschaft steht das hundertjährige System aufgrund der Konsequenzen, die es für die Bevölkerung verursacht hat, vor dem Zusammenbruch. Einerseits ist der ökonomische Reichtum der Region geplündert worden, andererseits sind die Sprache, die Kultur und die Tradition ausgelöscht worden. Aus diesem Grund ist die Bevölkerung mit der Vertiefung der Krise an den Punkt der Explosion gelangt. Bei den unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen wuchsen mit den Möglichkeiten, sich umfangreich zu informieren, auch die Zweifel an der aktuellen Lage und es wurde ein Aufstand gegen dieses nationalstaatliche System und ein Freiheitskampf geführt. Dieser Kampf findet weiterhin statt. Insbesondere der Freiheitskampf Kurdistans und seine Errungenschaften sind zu einer großen Hoffnung für die Völker der Region geworden. Die Kraft und der Organisierungsgrad von Nordkurdistan, die Revolution von Rojava, die als „Arabischer Frühling“ bezeichneten Aufstände der arabischen Bevölkerung und der Aufbau der Demokratischen Föderation Nordsyrien unter Beteiligung aller Völker Nordsyriens können als Ergebnisse dieses Freiheitskampfes betrachtet werden. Der Kampf für die Freiheit der Bevölkerung ist jetzt in der regionalen Politik und auf internationaler Ebene in einer Position, die nicht mehr zu ignorieren ist. Während das vor hundert Jahren eingerichtete System am Zusammenbrechen ist, hat sich das neue System demgegenüber noch nicht formieren können. Die internationalen und regionalen Kräfte bemühen sich intensiv darum, das neu zu bildende System zu beherrschen. Wenn man die aktuellen Entwicklungen betrachtet, versuchen die unterdrückerischen Kräfte untereinander die Form des neuen Systems zu bestimmen, so wie es auch die für Freiheit kämpfenden Bewegungen in der Region tun. Insofern beziehen sich alle Kräfte auf dieses neue System.

Die Pläne der Türkei

Vor dem ersten Weltkrieg waren Kurdistan und der Mittlere Osten vom Osmanischen Reich besetzt. Als die Osmanen im Krieg besiegt wurden und das System zerfiel, fanden Versuche statt, an Stelle des Osmanischen Reiches in Anatolien einen türkischen Staat zu bilden. Die Grenzen dieses Staates wurden als Misak-i-Milli – Nationalpakt – bezeichnet. Der türkische Staat sollte auf Gebieten, in denen eine kurdische, arabische, armenische Bevölkerung sowie Menschen vom Balkan lebten, errichtet werden.

Nach dieser Karte wurden die folgenden Städte als Teil türkischen Territoriums definiert: Raqqa, Dêra Zor, Aleppo, Idlib, Iskenderun, Belen, Reyhaniye, Cisr-i Şugur, Bab-i Cebbul, Minbic, Serêkaniya Binxetê (Rojava), Aşare, Mesice, Ogmer, Ane, die Provinz Silêmanî (Gulanber, Baziyan, Şehrezor), die Provinz Mûsil (Îmadiye, Zaxo, Duhok, Akre, Şengal), die Provinz Kerkûk (Rewanduz, Koyê, Ranya, Selahiye, Hewlêr), Selanîk (Bulgarien), Batum (Georgien), Nahçivan (Armenien), Varna (Rumänien).

Der Vertrag von Lausanne

Nach dem ersten Weltkrieg wurde der türkische Staat, wie viele andere Staaten auch, auf dem Territorium des Osmanischen Reiches gebildet. Allerdings konnte die Türkei die im Nationalpakt vorgesehenen Grenzen nicht wie gewünscht realisieren. Am 24. Juli 1923 wurde in der Schweiz der Vertrag von Lausanne unterzeichnet und die Republik Türkei offiziell anerkannt. In diesem Abkommen zwischen der Türkei und Großbritannien wurde Kurdistan in vier Teile zwischen Iran, Irak, der Türkei und Syrien aufgeteilt.

Der osmanische Traum

Von der Gründung der Republik an bis heute hat die türkische Regierung nie Abstand von Plänen genommen, die genannten Gebiete zu besetzen. 1939 wurde die in den Grenzen Syriens liegende Stadt Iskenderun unter türkische Herrschaft gebracht. Iskenderun war nach dem Krieg als umstrittenes Gebiet aufgeführt worden, dessen Situation mit einem Referendum geklärt werden müsste. Die Türkei hat die Demografie der Region bis 1939 aktiv verändert und mit dem Referendum die Herrschaft über die Region Iskenderun – von nun an Hatay – errungen.

Das Chaos wird als Gelegenheit angesehen

Als der Westen unter Führung der USA 1991 im Irak intervenierte, wollte die Türkei auch dabei sein. Sie wollte die Regionen besetzen, die sie als ihre eigenen betrachtete. Dieser Besatzungsplan konnte nicht realisiert werden, aber es waren bestimmte Schritte in diese Richtung unternommen worden. So begann man in Südkurdistan türkische Militärstützpunkte zu etablieren und Truppenkontingente zu stationieren. Als 2010 die Aufstände in den arabischen Ländern begannen, wollten die internationalen Kräfte mit Hilfe bewaffneter Gruppen in der Region dabei sein. So wollten sie über die Schaffung der neuen Ordnung bestimmen. Insbesondere wenn man den siebenjährigen Krieg in Syrien – auch bekannt als dritter Weltkrieg – betrachtet, wird dies in aller Deutlichkeit sichtbar. Die Türkei unterstützte ebenfalls bewaffnete Gruppen, al-Nusra, al-Qaida, Dschabat Şamiya, den IS und andere Milizen. Als die von der Türkei gestützten Gruppen am Widerstand der Völker der Region scheiterten, begannen sie die Region selbst anzugreifen. Es liegen viele Dokumente vor, welche die Unterstützung für den ins Wasser gefallenen Besatzungsplan durch von der Türkei unterstützte Milizen belegen. Auch die Aussagen inhaftierter Milizionäre belegen, dass die Türkei die Milizen einschließlich des IS unterstützt hat. Als Europa kritisierte, dass die Türkei Terroristen unterstütze, antwortete Erdoğan: „Al-Nusra kämpft gegen das syrische Regime. Warum unterstützt ihr sie nicht?“ Der Al-Qaida-Ableger befand sich zu dieser Zeit schon auf internationalen „Terrorlisten“.

Die Zerschlagung des Friedensprozesses

Der vom Vorsitzenden der PKK, Abdullah Öcalan, eingeleitete Friedensprozess stellte einen wichtigen Schritt zur Lösung der Probleme des Mittleren Ostens dar – dennoch war der Friedensprozess inoffiziell von Seiten der Türkei offensichtlich von Anfang an nur eine taktische Frage. Am 30. Oktober 2014 traf sich der Nationale Sicherheitsrat und entschied die Beendigung des Friedensprozesses. Dennoch fand danach am 28. Februar 2015 im Dolmabahçe-Palast in Istanbul ein Treffen zwischen der Imralı-Delegation und einer Delegation des Staates statt, auf der eine Roadmap für eine Lösung verkündet wurde. Das Treffen fand auf Vorschlag Öcalans statt und sollte zur Lösung beitragen. Deshalb war das Treffen auch als „Versöhnung von Dolmabahçe“ bekannt geworden. Aber Erdoğan, der selbst nicht anwesend war, behauptete, es habe keine Aussöhnung gegeben, das Treffen bedeute nichts. Daraufhin begannen Militäroperationen, Morde und Inhaftierungen in Nordkurdistan.

Kobanê

Neben den Angriffen auf Nordkurdistan versuchte die Türkei ebenfalls mit Hilfe von Milizen die Entwicklung der Revolution von Rojava zu verhindern. Als der Islamische Staat (IS) 2014 Kobanê angriff, stand die Türkei nicht zurück, sie unterstützte den IS und Erdoğan verkündete „Kobanê ist gefallen“. Auch als der IS 2015 Girê Spî angriff und ein Massaker verübte, erklärte Erdoğan: „Meine Freunde haben mich gerade informiert. Die FSA rückt auf Tell Abyad (Girê Spî) vor. Sie haben einen großen Teil der Stadt zurückerobert.“

Massaker gegen den Widerstand für Selbstverwaltung

In den letzten Monaten des Jahres 2015 und Anfang 2016 rief die Bevölkerung der nordkurdischen Städte wie Sûr, Cizîra Botan, Silopî, Nisêbîn und Gever die Selbstverwaltung aus. Der Staat griff diese Selbstverwaltungen militärisch an und verübte eine Serie von Massakern. Hunderte wurden grausam ermordet.

Die Türkei steht jetzt direkt im Feld

Als der türkische Staat seine Ziele mit den Milizen nicht erreichen konnten, setzte er die zweite Phase seiner Invasions- und Vernichtungspläne in Gang. Der Stellvertreterkrieg ging zu Ende und die eigentlichen Akteure betraten das Feld. Auf einem Treffen mit Dorfvorstehern hatte Erdoğan folgendes erklärt: „Schaut, was sie uns in unserer Geschichte angetan haben. 1920 haben sie uns Sèvres aufgezwungen. 1923 haben sie uns den Vertrag von Lausanne aufgenötigt. Manche stellen Lausanne als einen Erfolg dar, sie versuchen dafür zu sorgen, dass er akzeptiert wird. Aber es liegt alles offen.“ Erdoğan erklärte in einer anderen Ansprache ebenfalls, dass Lausanne wieder auf die Tagesordnung kommen müsse. Nach dieser Rede drang das türkische Militär mit den Gruppen, denen es den Namen „FSA“ gegeben hatte, in Cerablus ein und besetzte ein Gebiet bis nach al-Bab.

Das Ziel wurde vergrößert

Mit diesen Angriffen wuchs auch das Ziel der Türkei, Misak-i Milli stand nun wieder auf der Tagesordnung. Erdoğan erklärte in einer Ansprache im Oktober 2016: „Wenn wir Misak-i Milli verstehen, dann verstehen wir auch unsere Verantwortung für Syrien und den Irak. Wenn wir heute sagen, dass wir eine Verantwortung für Mossul haben, dann müssen wir diese sowohl im Feld als auch am Verhandlungstisch tragen. Dafür gibt es einen Grund.“

Erdoğan gab in einer anderen Rede seine Pläne für Syrien, Rojava und Südkurdistan ganz offen zu, indem er sagte: „Bald werden wir nach Damaskus gehen. Dieser Tag ist nah. Wir werden in der Umayyaden-Moschee beten. Wir werden bis zu den Gräbern von Bilali Habeş, ibn-i Arabi, zur Suleymani-Moschee und bis zum Hedschaz-Bahnhof ziehen. Wir sind schon in 780.000 Quadratmeter von einem 20 Millionen Quadratkilometer großen Gebiet einmarschiert.“

Mossul, Kerkûk

In dieser Phase wurde die Herrschaft in der Türkei erneuert. Die AKP und die MHP bildeten eine Allianz der rassistischen Hetze. Der Generalsekretär der MHP, Devlet Bahçeli, sagte in einer Rede: „Kerkûk ist die 82. und Mossul die 83. Stadt der Türkei.“ Die Ausbildung von Gruppen im Kampf gegen den IS wurde als Vorwand genutzt, um in Başîka (Baschiqa) bei Mossul eine Militärbasis zu errichten und dort türkeitreue Milizen auszubilden. Unter den Milizen, die am 3. März 2017 Xanêsor in Şengal angriffen, waren türkisch sprechende Kämpfer.

Efrîn, Şengal

Die rassistische Kriegsallianz setzte ihre Angriffspläne auf Rojava und Şengal fort. Am 25. April 2017 griffen türkische Kampfflugzeuge Şengal und den Qaraçox-Gipfel in Rojava an. Das türkische Militär griff am 20. Januar 2018 gemeinsam mit seinen Milizen den Kanton Efrîn an. Der Widerstand gegen die Besatzung des Kantons durch die YPG/YPJ und die Revolutionären Kräfte gegen die Türkei und ihre dschihadistischen Milizen geht weiter. Gleichzeitig verbreitet die Türkei Drohungen gegen Şengal und hat auch diese Region ins Visier genommen.

Die Pläne haben an Geschwindigkeit gewonnen

Andererseits wäre es unter normalen Bedingungen zu Parlamentswahlen und der Wahl des Präsidenten im November 2019 gekommen. Aber aufgrund der Entwicklungen im Mitteren Osten haben die Pläne der Türkei Tempo aufgenommen und die faschistische Allianz der AKP und MHP hat sich für die Vorverlegung des Wahldatums entschieden. Nach einem Treffen mit Devlet Bahçeli hatte Erdoğan vor wenigen Tagen die Vorverlegung des Wahldatums verkündet und folgendes erklärt: „Es gibt viele Entwicklungen in der Syrienfrage, deswegen sollten wir die Wahlen von unserer Tagesordnung herunterholen.“

Südkurdistan

In den folgenden Teilen des Dossiers wird es um die neue Qualität der Angriffe auf Südkurdistan im geschilderten Kontext gehen. Der nächste Teil dreht sich um die 23-jährige türkische Besatzung in Südkurdistan.