Die NATO wird erneut von der Türkei erpresst

Am Dienstag und Mittwoch findet anlässlich des 70-jährigen Bestehens der NATO-Gipfel in London statt. Wie bereits vor zehn Jahren setzt die Türkei auf Erpressung, um ihren Vernichtungskrieg gegen die Kurden durchzusetzen.

Dass die kurdenfeindliche Haltung der Türkei keine Grenzen kennt, zeigt sich auf allen Ebenen jeden Tag aufs Neue. Serêkaniyê (Ras al-Ain) und Girê Spî (Tall Abyad) in Nordsyrien sind vom Erdoğan-Staat besetzt worden. Die gesamte Weltöffentlichkeit hat sich dagegen gestellt. Der im vergangenen Jahr von der Türkei besetzte Kanton Efrîn war eines der freiesten und sichersten Gebiete Syriens. Die Türkei hat dieses Gebiet nicht nur besetzt, sondern auch von den Kurden „gesäubert“. Jetzt sind mit der sogenannten „Operation Friedensquelle“ wieder Gebiete in Nordsyrien besetzt worden, die zuvor sicher waren und in der ein demokratisches Gesellschaftsmodell gelebt wurde. Wohngebiete wurden zerstört, Hunderttausende Menschen zu Flüchtlingen gemacht. Nach der letzten Sitzung des Nationalen Sicherheitsrates der Türkei wurde der Öffentlichkeit mitgeteilt, dass der Plan zur Besatzung und ethnischen Säuberung weiter umgesetzt wird.

Die Innen- und Außenpolitik des faschistischen türkischen Regimes ist darauf ausgerichtet, die Kurden zu vernichten und ihre Errungenschaften zu zerstören. Der türkische Staat kennt dabei keine Grenzen und Regeln. Aktuell versucht er, den Sicherheitsplan der NATO für das Baltikum zu blockieren. Die NATO soll dazu gezwungen werden, der Besatzung Nordsyriens zuzustimmen und so zu tun, als ob von Rojava eine Gefahr ausgehe. Ziel der Verhandlungen mit der NATO bzw. des Erpressungsversuch sind die Kurden. Da der türkische Staat die kurdische Existenz als den eigenen Niedergang betrachtet, soll die ganze Welt das Dasein der Kurden als Gefahr deklarieren. Der NATO wird gesagt, dass die Kurden als Terroristen bezeichnet werden müssen, da die Türkei ansonsten dem Baltikum-Plan nicht zustimmt. Die NATO, die EU und die USA haben der Türkei gegenüber Zugeständnisse eingeräumt und sich damit an der Vernichtung der Kurden beteiligt.

Dass die YPG und die Kurden nichts anderes getan haben, als gemeinsam mit der internationalen Koalition den IS zu bekämpfen, wissen die USA und die europäischen Staaten am besten, denn auch sie sind in Syrien präsent. Sie haben alle ihre Nachrichtendienste und Sicherheitseinheiten in der Region. In den vom IS befreiten Gebieten sind lokale Räte und Autonomieverwaltungen gegründet worden, mit denen sich die Bevölkerung selbst regiert. Es ist eine demokratische Kultur geschaffen worden, in der eine Zusammenarbeit mit den Verteidigungseinheiten YPG/YPJ und den Demokratischen Kräften Syriens (QSD) besteht. Die Türkei hingegen hat sich offen und geheim mit dem IS, der al-Qaida und anderen islamistischen Organisationen verbündet. In Idlib gilt sie als die Schutzmacht von al-Nusra und anderen Dschihadisten. Die Islamisten, die aus den vom IS befreiten Gebieten in die von der Türkei kontrollierten Regionen in Nordsyrien gegangen sind, werden von Erdoğan finanziert und organisiert. Unter der neuen Bezeichnung „Syrische Nationalarmee“ sind sie in den türkischen Besatzungsplan eingebunden und in Nordsyrien angesiedelt worden. Die Orte, an denen die Dschihadisten untergebracht werden, sind gleichzeitig die Gegenden, aus denen die Kurden vertrieben wurden. Das können Russland, Europa und die USA bezeugen.

Als Russland im vergangenen Jahr der Türkei den Weg nach Efrîn freigemacht hat, wusste die Staatsführung genau, was den Kurden damit angetan wird. Sie weiß auch jetzt, dass die Menschen aus Efrîn nicht mehr dorthin zurückkönnen. Genauso wusste Trump von der Katastrophe für die Kurden, als er die türkische Besatzung Nordsyriens zugelassen hat. Sie wussten, dass die Kurden getötet werden. Noch beim G20-Gipfel in Japan im vergangenen Juni hatte Trump behauptet, er hätte verhindert, dass Erdoğan die Kurden massakriert.

Die Türkei hat Europa und die USA dazu gebracht, bezüglich der kurdischen Frage die von ihr gewünschten Entscheidungen zu treffen. Dafür hat sie ihre NATO-Mitgliedschaft, wirtschaftliche Aspekte und ihre Stärke als Staat benutzt. Die Kurden saßen nicht mit am Verhandlungstisch. Es gab niemanden, der sie verteidigt und die mörderische Politik der Türkei angeprangert hätte. Die westlichen Staaten haben sich nur um ihren eigenen Profit gekümmert. Auf diese Weise ist die PKK als terroristische Organisation gebrandmarkt worden. Die tägliche Bombardierung Südkurdistans durch die türkische Luftwaffe, die Zerstörung Tausender Dörfer innerhalb der türkischen Staatsgrenzen, die Vertreibung von Millionen Menschen und heute die Inhaftierung gewählter kurdischer Politikerinnen und Politiker in der Türkei – alles geschah und geschieht mit westlicher Zustimmung und Unterstützung. Wäre die kurdische Frage in der Türkei gelöst worden, wären die kurdische Identität und die Rechte der kurdischen Bevölkerung anerkannt worden, wäre es nicht zu einem Einmarsch des türkischen Militärs in Syrien gekommen. Die westlichen Staaten hätten auch nicht ihre vermeintlichen eigenen Werte verletzt und sich von der Türkei erpressen lassen. Wenn die USA und Europa wirklich Frieden und Stabilität im Mittleren Osten anstreben würden, müssten sie sich für eine friedliche und demokratische Lösung der kurdischen Frage einsetzen und der Türkei das wirkliche Problem vor Augen führen.

Beim NATO-Gipfel vor zehn Jahren drohte die Türkei mit einem Veto die Wahl des designierten Generalsekretärs Rasmussen zu verhindern. Europa und die USA hatten sich auf den dänischen Kandidaten geeignet. Auch 2009 gelang es der Türkei, mit ihrer Erpressung durchzukommen. Für ihre Zustimmung forderte sie das Verbot des kurdischen Fernsehsenders Roj TV, der in Dänemark ansässig war. Nach einem Telefonat mit dem damaligen US-Präsidenten Barack Obama erklärte Erdoğan, er habe von Obama Garantien erhalten. Und so beschlossen die mächtigen USA und die europäischen Staaten, einen TV-Sender, der als Stimme der Kurden in Europa galt, auf rechtlich fragwürdige Weise zu verbieten. Heute verhält sich die Türkei ähnlich.

Erdoğan regiert die Türkei, indem er das Land in einer ständigen Krise hält. Er hebelt Gesetze, Institutionen und demokratische Funktionen aus. Dasselbe tut er auch auf internationaler Ebene. Parlamente, internationale Einrichtungen und Traditionen werden umgangen, um Krisen entstehen zu lassen, die im Geheimen mit Putin oder Trump gelöst werden. Bei dem am Rande des NATO-Gipfels in London geplanten Vierergipfel zwischen Erdoğan, Merkel, Macron und Johnson soll die Zustimmung Europas für die türkischen Pläne in Nordsyrien erwirkt werden. Die syrischen Flüchtlinge in der Türkei werden vor den Augen der Weltöffentlichkeit als Druckmittel gegen Europa eingesetzt. Der Umgang mit Flüchtlingen ist im internationalen Recht festgelegt. Im Wesentlichen geht es dabei um eine humanitäre Frage. Die Türkei übt damit jedoch Druck auf Merkel, Johnson und Macron aus, um ihre Zustimmung für eine ethnische Säuberung und einen demografischen Wandel in Syrien zu bekommen. Bisher sind zwar noch keine konkreten Schritte gegen die türkische Besatzung Nordsyriens gesetzt worden, aber immerhin haben die europäischen Länder keine offene Zustimmung für einen kurdischen Völkermord und eine Besatzung Syriens gegeben. In der eigenen Öffentlichkeit haben sich die Regierungen gegen die türkische Invasion ausgesprochen.

Da die Türkei nicht von ihrem gegen die Kurden gerichteten Vernichtungsplan abweicht, will sie die anderen Staaten dazu bringen, ihre Haltung zu ändern und Unterstützung zu leisten. Sie weiß nur zu gut, dass es in den zwischenstaatlichen Beziehungen nicht um Recht und Gerechtigkeit geht, sondern die eigenen Interessen immer Vorrang haben. Bei den bevorstehenden Verhandlungen, in denen es um das kurdische Schicksal geht, sind die Kurden nicht vertreten. Auf grausame Weise werden andere über das Schicksal des kurdischen Volkes entscheiden.

*Der Kommentar von Zeki Akil erschien im Original in der Tageszeitung Yeni Özgür Politika