Die kurdische Frage und die Demokratisierung der Türkei

Das Kurdische Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit e.V. in Berlin behandelt in seinem aktuellen Newsletter die zentrale Frage, ob die türkische Regierung bereit ist, den Weg einer politischen Lösung der kurdischen Frage und der Demokratisierung mitzugehen.

Ein neuer Weg für den Frieden

Der ungelöste Konflikt zwischen der kurdischen Freiheitsbewegung und dem türkischen Staat prägt nicht nur die politische Landschaft der Türkei, sondern hat Auswirkungen auf den gesamten Nahen Osten und darüber hinaus. Mit dem jüngsten Aufruf von Abdullah Öcalan, dem Begründer der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), könnte sich eine historische Wende abzeichnen. Seine Erklärung skizziert einen demokratischen Weg zur Lösung der kurdischen Frage und betont die Notwendigkeit eines strukturellen Wandels, um einen nachhaltigen Frieden zu ermöglichen. Cemil Bayık, Ko-Vorsitzender des Exekutivrats der Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK), unterstreicht in seiner Analyse die zentrale Bedeutung dieser Initiative und hebt hervor, dass die Umsetzung maßgeblich von der Haltung der türkischen Regierung abhängt. Die zentrale Frage bleibt jedoch, ob die türkische Regierung bereit ist, diesen Weg mitzugehen.

Demokratische Nation als Alternative zu Nationalstaat und Assimilation

Öcalans Konzept der „Demokratischen Nation“ stellt eine Alternative zu klassischen Nationalstaaten dar, die mit Unterdrückung ethnischer, religiöser und kultureller Minderheiten einhergehen. Während regionale und globale Mächte versuchen, die Krise im Nahen Osten für ihre eigenen geopolitischen Interessen zu nutzen und ethnische und religiöse Spannungen verschärfen, um ihre Kontrolle auszuweiten, verfolgt Öcalan einen dem diametral entgegengesetzten Ansatz: Sein Modell setzt auf eine gesellschaftlich getragene Lösung, die nicht von staatlicher Dominanz oder Machtkämpfen zwischen Großmächten bestimmt wird, sondern von den Menschen vor Ort. Die „Demokratische Nation“ soll nicht nur ethnische, kulturelle und religiöse Vielfalt anerkennen, sondern auch die Grundlage für eine gerechtere Gesellschaft bilden. Sie basiert auf Partizipation, Gleichberechtigung und Selbstverwaltung – Prinzipien, die für einen nachhaltigen Frieden entscheidend sind. Die Frauenbefreiung spielt in diesem Konzept die Schlüsselrolle, da eine wahrhaft demokratische Gesellschaft ohne die Freiheit der Frau nicht denkbar ist. Dieser Bruch mit traditionellen Staatsmodellen eröffnet neue Wege für den Frieden, da er auf einer gesellschaftlichen Mitbestimmung und einer tiefgreifenden Demokratisierung basiert.

Öcalans Friedensinitiative und die anhaltende Gewalt der Türkei

Am 27. Februar 2025 rief Öcalan die PKK zur Niederlegung der Waffen auf, um die kurdische Frage auf diplomatischem Wege zu lösen – ein Ansatz, den er bereits mehrfach verfolgt hat. Darüber hinaus rief Öcalan die PKK dazu auf, einen Kongress zu ihrer Auflösung einzuberufen, sofern die rechtlichen Rahmenbedingungen dafür geschaffen seien. Es gehe darum, dass die repressiven Verhältnisse, die Vernichtung und Verleugnung, auf die die Gründung der PKK die notwendige Antwort war, zu beseitigen und durch einen Demokratisierungsprozess bewaffnete Kräfte obsolet zu machen. Daraufhin erklärte die PKK einen einseitigen Waffenstillstand, während die Türkei ihre Angriffe auf kurdische Gebiete unvermindert fortsetzt. Diese Diskrepanz zwischen Öcalans Friedensinitiative und der militärischen Gewalt des türkischen Staates verdeutlicht nicht nur die Herausforderungen eines nachhaltigen Friedensprozesses, sondern wirft auch die zentrale Frage auf, ob die türkische Regierung überhaupt bereit ist, den Weg zum Frieden einzuschlagen.

Die Rolle der Türkei und internationale Verantwortung

Trotz zahlreicher Friedensinitiativen bleibt der türkische Staat in seiner Politik der Assimilation und Repression gefangen. Der bewaffnete Kampf der kurdischen Bewegung entstand aus der Notwendigkeit, das Überleben der Kurd:innen zu sichern, doch Öcalan betont, dass eine politische Lösung die einzige nachhaltige Option ist. Eine Vorbedingung für den Fortschritt des Friedensprozesses ist die Schaffung von Bedingungen, unter denen Abdullah Öcalan frei arbeiten kann. Die gegenwärtige Isolation auf der Gefängnisinsel Imrali verhindert nicht nur seine persönliche Freiheit, sondern blockiert auch politische Fortschritte. Damit der Friedensprozess vorankommt, muss das Imrali-System abgeschafft werden. Außerdem muss eine parlamentarische Kommission gegründet werden, die einen politischen Prozess für die verfassungsrechtliche Anerkennung der Rechte der Kurd:innen und anderer Minderheiten sowie die Demokratisierung der Türkei einleitet. Nur so kann die Grundlage dafür geschaffen werden, die Waffen zum Schweigen zu bringen und den Raum für die demokratische Politik zu öffnen.

Auch die internationale Gemeinschaft spielt hierbei eine entscheidende Rolle. Während westliche Staaten öffentlich Demokratisierung und Menschenrechte fordern, unterstützen sie gleichzeitig den türkischen Staat, indem sie die PKK als terroristische Organisation einstufen. Eine Neubewertung dieser Haltung und aktiver Druck auf Ankara könnten den Friedensprozess positiv beeinflussen.

Politische Handlungsempfehlungen für die deutsche Bundesregierung

Als einflussreicher Partner der Türkei sollte Deutschland eine vermittelnde Rolle im Friedensprozess übernehmen. Dazu gehört die Forderung nach einem Ende der Isolation Öcalans sowie die Unterstützung eines inklusiven Dialogs zwischen der türkischen Regierung und der kurdischen Bewegung. Wie auch der kurdische Rechtshilfefonds Azadî fordert, muss Deutschland seine innenpolitische Haltung überdenken und die PKK von der Terrorliste streichen. Dies würde nicht nur die Repressionen gegenüber Kurd:innen in Deutschland beenden, sondern auch einen konstruktiven Beitrag zur Lösung des Konflikts leisten.

Appell an die Zivilgesellschaft und demokratische Kräfte

Neben den staatlichen Akteuren sind auch die Zivilgesellschaft und demokratische Kräfte weltweit gefordert, sich aktiv für eine politische Lösung der kurdischen Frage einzusetzen. Die internationale Solidarität und die anhaltenden Proteste haben bereits dazu beigetragen, die Totalisolation Öcalans zumindest teilweise zu durchbrechen. Erklärungen allein reichen jedoch nicht aus – es bedarf konkreter Schritte, um politischen Druck auf die türkische Regierung auszuüben. Die Lösung der kurdischen Frage ist nicht nur für die Kurd:innen von Bedeutung, sondern auch für die Stabilität und den Frieden im Nahen Osten und darüber hinaus. Deshalb ist die internationale Gemeinschaft gefordert, sich für die Umsetzung von Öcalans Friedensaufruf einzusetzen und an einer gerechten, demokratischen Zukunft mitzuarbeiten.

Demokratisierung als Schlüssel zum Frieden

Ein nachhaltiger Frieden im Nahen Osten kann nur durch eine umfassende Demokratisierung erreicht werden. Öcalans Ansatz einer demokratischen Gesellschaft bietet einen Ausweg aus dem jahrzehntelangen Konflikt, doch ihre Umsetzung hängt von politischen Entscheidungen auf nationaler und internationaler Ebene ab.


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Titelbild: Jugenddemonstration im November 2023 im Rahmen der Kampagne für die Freilassung von Abdullah Öcalan und eine politische Lösung der kurdischen Frage