Die Grüne Linkspartei hat ein politisches Kampffeld gewonnen

Dass sich der Enthusiasmus der Wahlkampagne der Grünen Linkspartei (YSP) nicht vollständig in den Wahlurnen widerspiegelte, gibt zu denken und muss als ernstes Problem gewertet werden. Trotzdem hat die YSP ein neues politisches Kampffeld gewonnen.

Die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen am 14. Mai in der Türkei fanden im Schatten des Verbotsverfahrens gegen die Demokratische Partei der Völker (HDP) und der Massenfestnahmen von Oppositionellen statt. Das Ziel der AKP/MHP-Regierung war es, die HDP bei den Wahlen zu schwächen oder sie vollständig zu verdrängen. Um diesem Plan zu entgehen, nahm die HDP mit ihrer Komponente, der Grünen Linkspartei (YSP), an den Wahlen teil. Die Grüne Linkspartei trat unter dem Dach des Bündnisses für Arbeit und Freiheit zu den Wahlen an.

Die Tatsache, dass sich der Enthusiasmus der Wahlkampagne der Grünen Linkspartei nicht vollständig in den Wahlurnen widerspiegelte, gibt zu denken und wird als Problem gewertet. Während ein weiterer Erfolg erwartet wurde, zeigten die Zahlen das Gegenteil. Es ist eine allgemein anerkannte Tatsache, dass die Wähler:innen der HDP/YSP so politisch und organisiert sind, dass sie unter normalen Bedingungen für keine andere Partei stimmen würden. Sie haben jedoch nicht gezögert, ihr Verhalten entsprechend den politischen Ansätzen ihrer Partei zu ändern.

Beim Vergleich der Stimmzettelprotokolle aus den Wahllokalen mit den offiziellen Zahlen des Obersten Wahlausschusses (YSK) stellte sich heraus, dass viele Stimmen für die Grüne Linkspartei fälschlicherweise der faschistischen MHP und anderen Parteien aus dem Regierungsbündnis zugeschrieben wurden. Aktuell finden aufgrund der zahlreichen Einsprüche Teilnachzählungen statt.

Mehr als eine Million Stimmzettel wurden für ungültig erklärt. Bei der Analyse wurde festgestellt, dass ungültige Stimmen vor allem in den Regionen gezählt wurden, in denen die Grüne Linkspartei stark ist. Es wird geschätzt, dass 400.000 ungültige Stimmen auf die Grüne Linkspartei entfallen.

Strategie der Feindschaft gegen die HDP

Die Politik der AKP gegenüber der HDP, die bei den Wahlen vom 7. Juni 2015 für einen Machtverlust der Erdogan-Regierung gesorgt hatte, war eine Strategie der Feindschaft. Sie zielte darauf ab, die HDP, die über ein System und Kontinuität verfügt, zu isolieren und zurückzudrängen. Die HDP wurde ständig kriminalisiert und angefeindet, die von ihr regierten Gemeinden wurden unter Zwangsverwaltung gestellt. Tausende Mitglieder, darunter Parteivorsitzende, Abgeordnete und Bürgermeister:innen, wurden in politische Geiselhaft genommen. Jeder Kontakt mit der HDP und die Aufnahme politischer Beziehungen wurde als Feindseligkeit dargestellt und diese Auffassung wurde der gesamten Gesellschaft und den institutionellen Strukturen aufgezwungen.

Die HDP trat unter diesen schweren Bedingungen in den Wahlprozess ein. Infolge des von der AKP/MHP-Regierung eingeleiteten Schließungsverfahren ging die HDP mit der Grünen Linkspartei in die Wahlen.

Im Wahlkampf war dann die Grüne Linkspartei das Ziel geplanter Angriffe durch die AKP/MHP. Die Justiz wurde eingesetzt, um politische Aktivitäten der Grünen Linkspartei zu verhindern. Der politische Vernichtungsfeldzug wurde fortgesetzt, um eine Atmosphäre der Angst zu schaffen und die Menschen von den Wahlen fernzuhalten. Außerdem verfügte die Grüne Linkspartei, die zum ersten Mal an Wahlen teilnahm, nicht über offizielle Vertreter:innen, die befugt waren, bei der Stimmabgabe und der Auszählung Einwände zu erheben. Die AKP/MHP-Regierung machte sich dies zunutze, indem sie die Stimmen der Grünen Linkspartei der MHP und der Yeniden Refah Partisi zuschrieb.

Wahlbetrug führt zu Parlamentsmehrheit des Regierungsblocks

Nach Informationen aus den Wahllokalen in Kurdistan wurden Wahlhelfer:innen vielerorts zu spät zur Stimmenauszählung zugelassen. Unter verschiedenen Vorwänden mussten sie stundenlang draußen warten. Diese Praxis wurde an vielen Orten angewandt. Ein Wahllokalbetreuer, der darüber Auskunft gab, sagte: „Sie haben uns anderthalb Stunden lang draußen warten lassen, obwohl unsere Namen aufgeschrieben waren. Auf diese Weise änderten sie die Stimmen. Bei der Auszählung haben sie die Stimmen auf andere Parteien übertragen, während die Beobachter nicht anwesend waren. Wir haben festgestellt, dass viele Stimmen auf diese Weise der MHP zugeschrieben wurden. Allein in Amed [tr. Diyarbakir] wurde festgestellt, dass 4.500 Stimmen der Grünen Linkspartei auf diese Weise als MHP-Stimmen verzeichnet wurden.“

Dass in vielen Provinzen und Bezirken Kurdistans derartige Stimmabschöpfungen stattgefunden haben, ist eine Tatsache, und die Zahlen sind beträchtlich. In Provinzen wie Aydın, Izmir, Manisa, Ankara und Istanbul, wo das Stimmenpotenzial der Grünen Linkspartei relativ stark ist, wurden ihr ebenfalls Stimmen entzogen. In vielen Wahllokalen in diesen Provinzen wurde anhand der Urnenprotokolle festgestellt, dass die Stimmen der Grünen Linkspartei usurpiert und für die MHP, Yeniden Refah Partisi und AKP gezählt wurden.

Durch die Usurpation der Stimmen für die Grüne Linkspartei wurde der Stimmenanteil der MHP erhöht und eine numerische Mehrheit der Erdogan-Allianz im Parlament erreicht.

Niedrige Wahlbeteiligung in Kurdistan aufgrund von Wirtschaftsmigration

Während in der gesamten Türkei eine hohe Wahlbeteiligung zu verzeichnen war, blieb die Beteiligung in den kurdischen Provinzen gering. Das lag unter anderem an der Abwanderung aus wirtschaftlichen Gründen. In den kurdischen Provinzen, in denen sich die von der Regierung verursachte Wirtschaftskrise am stärksten bemerkbar macht, war die Wahlbeteiligung niedrig. Diese Situation war ein schwerwiegender Faktor, der sich negativ auf die Stimmen der Grünen Linkspartei auswirkte. Von den etwa 50.000 in Amed registrierten Wahlberechtigten, die als Saisonarbeitskräfte in anderen Provinzen tätig sind, haben nur 5.000 ihre Stimme abgegeben. In Wan, einer weiteren Hochburg der Grünen Linkspartei, gingen etwa 23 Prozent der Stimmberechtigten nicht zur Wahl. Auch in anderen kurdischen Provinzen war die Wahlbeteiligung aufgrund der saisonalen Wirtschaftsmigration niedriger als in der Türkei im Allgemeinen.

Geringer Bekanntheitsgrad der YSP

Die Tatsache, dass die Grüne Linkspartei neu ist und nur wenig Vorlauf hatte, brachte das Problem der Bekanntheit mit sich. Diese Situation wirkte sich negativ auf ihre Wahlergebnisse aus. Die kurze Dauer der öffentlichen Informationsmaßnahmen führte zu einem teilweisen Stimmenverlust. Eine beträchtliche Anzahl von Stimmen in Kurdistan ging aufgrund der Namensähnlichkeit an die Linkspartei (Sol Parti). Darüber hinaus haben Wähler:innen, die der Forderung der Grünen Linkspartei, bei den Präsidentschaftswahlen für Kılıçdaroğlu zu stimmen, nachgekommen sind, bewusst oder unbewusst für die CHP gestimmt.

Ergebnisse der HDP bei vorangegangenen Wahlen

Indem die Regierung die Stimmen der Grünen Linkspartei an sich riss, schuf sie eine numerische Mehrheit im Parlament zu ihren Gunsten. In Anbetracht dieser Tatsache lässt sich anhand von Zahlen aufzeigen, wie der Stimmenanteil der Grünen Linkspartei und ihrer Vorgängerin HDP bei den vorangegangenen Wahlen das Ein-Mann-Regime zurückgedrängt hat.

*Bei den Wahlen am 7. Juni 2015 hat die HDP mit der Einheit kurdischer und demokratischer Kräfte die damals gültige Zehn-Prozent-Hürde überwunden und ein erfolgreiches Ergebnis erzielt, mit dem das Ein-Mann-Regime verhindert wurde. Mit 80 Abgeordneten wurde sie zur drittgrößten Partei in der Türkei und war als ernstzunehmende politische Kraft im Parlament vertreten.

*Die starke gesellschaftliche und politische Vertretung der HDP im Parlament hat alle Teile des türkischen Staatsgefüges in Angst und Schrecken versetzt. Daraufhin wurden alle Arten von politischer Unterdrückung, Tyrannei und Gesetzlosigkeit gegen die HDP eingesetzt. In Pirsûs (Suruç) und Ankara wurden 2015 Anschläge verübt, Orte wie Cizîr, Şirnex, Sûr und Nisêbîn wurden später verwüstet, Hunderte von Zivilist:innen wurden massakriert. Im Schatten dieser Massaker hat das AKP-Regime mit den Wahlen vom 1. November 2015 die Macht übernommen.

*Bei den Wahlen vom 1. November 2015, die nach der Annullierung der Wahlen vom 7. Juni stattfanden, war die HDP mit 59 Abgeordneten und 10,76 Prozent im Parlament vertreten, trotz der Kriegsbedingungen und des Drucks in Kurdistan.

*Bei den Wahlen im Jahr 2018 konnte die HDP ihren Stimmenanteil auf 11,70 Prozent steigern und zog mit 67 Abgeordneten ins Parlament ein.

*Bei den diesjährigen Wahlen errang die Grüne Linkspartei, die anstelle der HDP zu den Wahlen antrat, 63 Abgeordnete mit 8,88 Prozent der Stimmen. Die TIP, eine Partei des Bündnisses für Arbeit und Freiheit, erhielt fast eine Million Stimmen und damit vier Abgeordnete. Die Tatsache, dass die Bündniskomponente TIP mit einer eigenen Liste zu den Wahlen antrat, führte dazu, dass die Grüne Linkspartei in ihren Wahlkreisen Stimmen verlor.

Bestätigung des Ein-Mann-Regimes im ersten Wahlgang verhindert

Die Grüne Linkspartei hat trotz der massiven Repression die AKP in Kurdistan erheblich zurückgedrängt und damit ein neues Kampffeld der Politik errichtet. Sie hat verhindert, dass das Ein-Mann-Regime bei den Wahlen die absolute Mehrheit erhält. Vor allem die Stimmen aus Kurdistan haben dafür gesorgt, dass die Präsidentschaftswahlen in die zweite Runde gehen. Durch ihre Bündnispolitik hat die Grüne Linkspartei die demokratischen Kräfte in der Türkei gesellschaftsfähig gemacht und Vertrauen geschaffen. Mit dem von ihr geschaffenen System hat sie einmal mehr bewiesen, dass es möglich und notwendig ist, den Weg mit allen Kräften der Demokratie zu gehen.