„Die Frauenguerilla hat die Gesellschaft grundlegend verändert“

Im letzten Teil des ANF-Interviews äußerst sich Duran Kalkan (PKK) zur transformierenden Wirkung von Frauen auf den Guerillakampf und die kurdische Gesellschaft.

Wie sah die Beteiligung von Frauen an der Offensive vom 15. August 1984 aus? Welche Wirkung hatte ihre Beteiligung auf die Entwicklung des Guerillakampfes? Diesen Fragen widmet sich PKK-Mitbegründer Duran Kalkan im letzten Teil des ANF-Interviews zum Beginn des bewaffneten Kampfes vor 37 Jahren:

Die Beteiligung der Frauen und die historische Entwicklung ihres revolutionären Kampfes ist allgemein bekannt. Auch an den Aufständen in Kurdistan beteiligten sich stets Frauen – jedoch oftmals aus einer Notwendigkeit heraus, da sich die Gesellschaft im Widerstand befand. Zu einer bewussten, organisierten und richtungsweisenden Teilnahme der Frauen kam es erst durch die PKK und die Gedanken von Rêber Apo [Abdullah Öcalan], die Schritt für Schritt reiften. Allerdings waren die Schwierigkeiten und Hindernisse in diesem Bereich größer als in anderen. Ein professionell revolutionär-militantes Auftreten im Kontext dieser traditionellen Gesellschaft unter einer kolonialistischen Herrschaft war eine komplexe Angelegenheit. Während der Phase der Parteigründung sind wir auf solche Schwierigkeiten gestoßen, konnten sie jedoch überwinden. Die Haltung von Rêber Apo war ausschlaggebend dafür. Er setzte sich gegen alle rückständigen und engstirnigen Auffassungen durch. Deshalb existierte eine Frauenbewegung der Partei bereits, als es am 12. September 1980 zum Militärputsch kam.  

Auch am Gründungskongress der Partei hatten Frauen teilgenommen, Hevala Sara [Sakine Cansız] war eine von ihnen. In allen Parteikomitees und sowie lokalen und regionalen Kommissionen existierten Frauenstrukturen. Mag sein, dass möglicherweise nicht alle über ein ausreichendes Bewusstsein verfügten oder hochgebildet waren, aber Frauen waren überall vertreten. Das Prinzip der PKK bestand stets darin jeden Menschen als wertvoll zu betrachten, der Frau einen hohen Wert beizumessen, sie nicht als Besitz zu begreifen, sich dementsprechend der Frau anders anzunähern und gegen patriarchale Haltungen in der Gesellschaft klar Position zu beziehen. Als diese konservative Ader einmal gebrochen war und die Haltung der PKK in der Gesellschaft bekannt wurde, gab es sehr schnell große Entwicklungen. Es war als hätte die Gesellschaft nur darauf gewartet, der rückständigen Mentalität ein Ende zu bereiten. In anderen Fällen war die Gesellschaft dazu nicht bereit, doch sie hatte ein enorm starkes Vertrauen zur PKK entwickelt. Auf diese Weise formte sich der kurdische Patriotismus aus.

In den Jahren 1978, 1979 und 1980 in Mardin (ku. Mêrdîn) und anderen Gebieten, die allesamt als äußerst reaktionär bekannt waren, wurden viele Familien zu bedingungslosen Unterstützerinnen der PKK. Die Frauen beteiligten sich mit großem Mut am Kampf. Sie übernahmen praktische Aufgaben und wurden in allen Ebenen qualifizierte Kader. Während unseres Rückzugs [aus Kurdistan] hatte sich eine beachtliche Gruppe an Freundinnen in unseren Reihen gebildet. Bei anderen Organisationen gab es so etwas nicht. Die Freundinnen schlossen sich nicht nur der PKK an, sondern verließen auch Kurdistan, um mit der PKK in andere Gebiete des Mittleren Ostens, wie etwa in den Libanon oder nach Palästina, zu gehen. Als freie Individuen nahmen sie an der Ausbildung der Guerilla teil.

Nach der Gründungskonferenz hatten wir ein etwa 80-köpfige Gruppe ausgewählt, die ins Land zurückkehren sollte. Unter ihnen waren auch knapp zehn Frauen. Sie alle durchliefen eine dreimonatige Bildungseinheit, an deren Ende wir eine große Parade veranstalteten. Der Vorsitzende hatte viele befreundete Kräfte eingeladen. Hevalê Cuma [Cemil Bayik] brachte den libyschen Militärattaché aus Beirut mit. Zudem kamen Vertreter:innen palästinensischer Organisationen und zahlreicher anderer Bewegungen. Der libysche Militärattaché sagte damals etwas sehr Interessantes. Ich werde seine Worte nie vergessen: „Die Kurden haben in diesen Regionen immer wieder neue Entwicklungen angestoßen. Und jetzt tun sie es wieder. Ich bin zutiefst beeindruckt von eurem Mut. Wie habt ihr all diese Frauen zu einem Teil dieses Widerstands und zu Freiheitskämpferinnen gemacht? Im gesamten Mittleren Osten gibt es nichts Vergleichbares. Wenn ich zurück nach Libyen gehe, werde ich dem Präsidenten Gaddafi vorschlagen, Frauen in die Armee aufzunehmen.“ Später wurden tatsächlich Frauen für die libysche Armee rekrutiert. Unsere Partei löste damals nicht nur in Kurdistan Veränderungen aus, sondern hatte auf die gesamte Region eine transformierende Wirkung. Eine aufrichtige progressive Haltung ist unabdingbar für revolutionäre Veränderungen.

Ab 1983 sind Frauen dann in kleinen Gruppen, zu zweit oder zu dritt, in die Heimat zurückgekehrt. Sie gingen nach Behdînan, Xinere, Avaşîn und in die Zap-Region in die dortigen Camps. Ab Winter 1983/84 und dem darauffolgenden Frühling begann dann die große Rückkehr und der Guerillakampf. Ich habe bereits erwähnt, dass damals überhaupt nicht klar war, wie der bewaffnete Kampf verlaufen würde. Sicher war allerdings, dass sich die Parteiorganisation entsprechend entwickeln würde. Deshalb war es notwendig, alle damit verbundenen Probleme zu überwinden. Es bedurfte auch genauer Analysen darüber, wie sich der Anschluss von Frauen und deren Entwicklung zu Guerillakämpferinnen gestalten wird. Es war also Kreativität gefordert. Als am 15. August 1984 die ersten Aktionen stattfanden, hielten sich Freundinnen bereits in Behdînan auf. Kurz danach – nur zwei Wochen später – begaben sich einige von ihnen nach Botan.

Hanım Yaverkaya (Havva) war die Erste, die nach Botan ging. Später – im Winter 1984/85 und im Verlauf des Jahres 85 – waren in allen Einheiten in den Regionen Zagros und Botan Frauen vertreten. Sie schlossen sich direkt dort der Guerilla an. Da die Anzahl von Frauen noch gering war, mussten wir einiges berücksichtigen. Denn als einzige Frau in einer Einheit war es schwer. Je mehr Frauen sich anschlossen, desto größer wurde die Zahl der Einheiten mit Freundinnen. So war auch diese Frage gelöst. Durch stetige praktische Arbeit, wobei wir auch immer wieder Fehler machten, lösten wir bestehende Probleme. Ja, wir machten Fehler und hatten Defizite. Aber was war ausschlaggebend? Unsere Beharrlichkeit. Unsere Fortsetzung des Kampfes als Revolutionäre. Am Guerillawiderstand von 1985 waren Frauen vielerorts beteiligt. Im selben Jahr gaben unsere Freundinnen ihre ersten Gefallenen.

Hevala Hanım fiel 1985 in Eruh (Dih), die Freundin Rahime Kahraman (Zahide) im Gebiet zwischen Besta und Cûdî. Çiçek Selcan (Rûken) schloss sich ebenfalls der Karawane der Gefallenen an. Sie stammte aus Dersim. Sie war in gewisse Diskussionen mit Fatma (Yıldırım) verwickelt gewesen, was sie belastet hatte. Sie hatte daraufhin eine schriftliche Notiz verfasst, in der sie ihre Schwierigkeiten zum Ausdruck brachte und um Erlaubnis bat, sich am bewaffneten Kampf zu beteiligen. Sie schrieb, dass sie wenigstens ein Dorf organisieren könne, wenn ihr schon nichts anderes gelinge. Mit diesem Ziel ging sie nach Besta, wo sich damals viele Dörfer befanden, und fiel im Kampf.

Zu welchen Veränderungen führte der Anschluss der Frauen? Natürlich erschuf die ideologische Linie von Rêber Apo die PKK als Bewegung. Doch durch die Guerilla entwickelte sich all das zu einer Organisation und zu praktischen Aktionen. Alle rückständigen Eigenschaften wurden zerschlagen, die vom Individuum und der Gesellschaft ausgingen. Der Anschluss von Frauen an die Guerilla und deren Entwicklung zu Kämpferinnen waren die ersten Schritte zum Aufbau einer Frauenarmee. Ab Mitte der 1970er Jahre, also während der Entstehungsphase der Partei, war in Nordkurdistan gewissen Einstellungen ein Ende bereitet worden. Erst war die Gesellschaft etwas skeptisch. „Wie können Frauen das nur tun? Sie treffen ihre eigenen Entscheidungen.“ Auch wenn das Ausmaß gering war, hat es diese Reaktionen gegeben. Doch als die Gesellschaft die Prinzipien der PKK kennenlernte, drehte sich das Spiel relativ schnell.

Dasselbe geschah auch durch den Guerillakampf in der Botan-Region. Als die Gesellschaft zum ersten Mal die Kämpferinnen zu Gesicht bekam, war das Staunen natürlich groß. Doch es kam nicht zu Protest oder Ablehnung. Sehr schnell wendete sich das Blatt und die Beteiligung von Frauen bei der Guerilla hatte eine sehr positive Wirkung auf die Gesellschaft. Plötzlich brachte sie der Guerilla noch mehr Wertschätzung bei. In Colemêrg (tr. Hakkari) etwa hatten wir damals noch keine Kontakte. Im Winter 1985/86 schickten wir Mihriban Saran (Azime) dort hin. Sie war allein, da wir dort keinerlei Beziehungen hatten. Bis zum Frühjahr 1986 organisierte sie eine Gruppe und verließ das Gebiet dann wieder. Die Gesellschaft reagierte nicht abweisend. Ganz im Gegenteil, das wurde positiv aufgenommen, auch in den ländlichen Gebieten. Die Frauen innerhalb der Guerilla spielten eine entscheidende Rolle bei der gesamtgesellschaftlichen Unterstützung und weiteren Anschlüssen.

Die Frauen entfalteten ein Freiheitsbewusstsein, befreiten sich, wurden zu Revolutionärinnen und bildeten ihren eigenen Willen. All das bedeutete für ihre individuellen Persönlichkeiten die denkbar größte Revolution. Und mindestens genauso sehr führte das auch zur größtmöglichen und grundlegendsten gesellschaftlichen Revolution. Das war mit dem bloßen Auge zu beobachten und erfolgte mit rasanter Geschwindigkeit. Plötzlich zerbrachen gewohnte Werturteile. Wahrheiten, das Schöne und Gute, die Paradigmen der Menschen veränderten sich auf von einem auf den anderen Tag. Genauso deren Maßstäbe dafür, was sie ablehnen und gutheißen. Am Ende entstehen Menschen, die ganz neuen Maßstäben und Prinzipien verbunden sind. Zu derartigen Entwicklungen kam es damals.

Die enormen Entwicklungen, die später folgen sollten, basierten letztendlich auf dem, was damals zu Beginn geschah. Zugleich war es sehr beschwerlich, diese Grundlage zu schaffen. Wir begegneten diesen Schwierigkeiten mit Kampf und Widerstand. Dessen sollten sich alle bewusst sein. Wir dürfen niemals vergessen, wie damals gegen all diese Schwierigkeiten gekämpft wurde. Wenn sich beeindruckende und riesige Entwicklungen abzeichnen, kann man alle Schwierigkeiten in Kauf nehmen. All das ist dann kein Problem mehr, sondern viel mehr eine Quelle, aus der man Kraft schöpft. Die Entwicklung der freien Frau auf Grundlage der Frauenguerilla hat dazu geführt, dass der Frauenbefreiungskampf heute die gesamte Revolution anführt. Die Grundlage dafür wurde in der Anfangsphase geschaffen, von der wir berichtet haben. Alles liegt dort verborgen. An diese Zeit erinnere ich voller Respekt und aufrichtiger Liebe.