Welche Verhältnisse prägten die Zeit der Offensive vom 15. August 1984 in Kurdistan? In welcher Lage war die Bevölkerung damals, insbesondere in der Region Botan? Und noch eine andere Frage: Warum wurde es für nötig befunden, die HRK [Hezên Rizgariya Kurdistan – Befreiungskräfte Kurdistans] zur ARGK [Artêşa Rizgariya Gelê Kurdistan – Armee für die Befreiung des Volkes Kurdistans] zu machen? Welche Entwicklungen brachte diese Veränderung mit sich? - Auf diese Fragen hat Duran Kalkan als Mitglied des Zentralkomitees der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) im zweiten Teil eines ausführlichen ANF-Interviews zum Beginn des bewaffneten Kampfes vor 37 Jahren geantwortet:
Während der Vorbereitung der 15.-August-Offensive kam die PKK zum ersten Mal nach Botan. Es ist wichtig, sich dessen bewusst zu sein. Die türkische Regierung hatte 1979 den Beschluss gefasst, der PKK nicht die Gelegenheit zu geben, bis in die Regionen Mardin [ku. Mêrdîn] und Botan zu gelangen. Das wissen wir ganz sicher, denn wir erhielten damals sehr konkrete Informationen über diese Entscheidung. Wir erfuhren auch, dass sich andere kurdische Organisationen gemeinsam gegen uns organisierten. Als PKK-Leitung beauftragten wir damals einige Freund:innen und Sympathisant:innen unserer Partei damit, allen kurdischen Organisationen mitzuteilen, dass wir ohne jegliche Vorbedingungen zu jeder Form von Beziehungen und Bündnissen bereit seien. Wir unternahmen also Anstrengungen für eine Einheit der Kurd:innen. Drei Monate lang bemühten sich unsere Freundinnen und Freunde darum. Doch nach drei Monaten teilten sie uns mit, dass es schlichtweg unmöglich sei, denn niemand sei bereit, sich mit ihnen zu treffen und unseren Vorschlag zu akzeptieren. All diese Organisationen hatten sich untereinander abgesprochen. Es gab ein Abkommen zwischen ihnen. Im Januar 1980 griffen sie in Ceylanpinar zum ersten Mal an. Sie hatten dafür ein Bündnis mit dem Namen ,Nationale und Demokratische Einheit der Kräfte` gegründet. Ihr Ziel war es, eine anti-apoistische Gruppe aufzubauen. Und so griffen sie unsere Bewegung an. Bei diesen Angriffen wurden ca. 70 unserer Kader und patriotische Menschen ermordet.
Diese Angriffe führten zu gewissen Entwicklungen in Mardin. Die kurdischen Organisationen sagten ganz offen, dass sie es uns nicht erlauben würden, nach Botan zu gelangen und die PKK-Linie in der Region und unter der dortigen Bevölkerung bekannt zu machen. Zugleich war es ab 1977 zu Versuchen unserer Bewegung gekommen, über die Region Serhat und über Van nach Colemêrg [tr. Hakkari] zu gelangen und dort aktiv zu werden. Doch diese Versuche waren nicht sonderlich erfolgreich. Das lag daran, dass die entsprechenden Vorbereitungen mangelhaft waren. Auch diejenigen, die diese Arbeiten ausführten, trugen ihren Anteil daran. Später stellte sich sowieso heraus, dass sie zu den Kräften gehörten, die eine Kapitulation befürworteten. Als die Guerilla also ab September 1982 in die Regionen Botan und Behdînan zurückkehrte, gab es dort keinerlei Organisationsstrukturen der PKK. Die anderen Organisationen waren sowieso durch den Militärputsch vom 12. September 1980 zerschlagen worden. Es gab also keinerlei Organisationsstrukturen mehr vor Ort. Die Bevölkerung sympathisierte zum Großteil mit der PDK [Demokratische Partei Kurdistan]. Alle Ağas waren natürlicherweise PDK-Sympathisanten. Das sich neu entwickelnde Kleinbürgertum hatte eine gewisse Nähe zu den anderen Bewegungen entwickelt. Doch auch sie waren beim Putsch zerschlagen worden. So war in Botan ein Vakuum entstanden.
Politisches und militärisches Vakuum in Botan
In Botan existierte also ein politisches und militärisches Vakuum. Die Junta vom 12. September hatte massive Angriffe ausgeführt, bekannte Personen gefangengenommen, großen Druck ausgeübt und weitreichende Zerstörungen angerichtet. Doch es war es nicht gelungen, die gesamte Gesellschaft zu treffen. Botan stand unter der Kontrolle des Militärs. Selbst auf den höchsten Berggipfeln gab es damals große Militärstationen und auch in Kleinstädten befanden sich kleinere Militärstützpunkte. Doch diese derart massive militärische Dominanz hatte trotzdem keinen großen Einfluss auf die Gesellschaft genommen. Dadurch war der Gesellschaft Luft zum Atmen geblieben. Der historisch gewachsene Patriotismus und Widerstandsgeist der Stämme und der einzelnen Menschen war sehr stark. Als die Freundinnen und Freunde damals nach Botan kamen, trafen sie auf Dinge, die so in keinem anderen Gebiet Kurdistans existierten. Das löste große Euphorie, Aufregung und Hoffnung aus. Die Rückkehr aus dem Ausland nach Botan stärkte diese Hoffnung. Es war natürlich sehr gut, solch eine patriotische Bevölkerung zu haben. Doch das hat später auch zu gewissen Fehleinschätzungen geführt. Warum? Es kam zu der Einschätzung, dass die Bevölkerung sehr gut vorbereitet sei, also sehr bewusst, gebildet, organisiert und kampffähig sei. Diese Fehleinschätzung führte dazu, dass später von unserer eigentlichen Linie abgewichen wurde. Es zeigte sich nämlich, dass diese Annahme falsch war.
Wir erkannten, dass unsere Eindrücke von der Bevölkerung Botans nicht stimmten. Ja, das Niveau des Patriotismus war gut, aber die Bevölkerung Botans war nicht gebildet und sie war unorganisiert. Sie war dutzende Male zerschlagen worden, hatte Aufstände gemacht und war besiegt worden. Etwas anderes kannte sie nicht. Außerdem gab es nach der Niederlage der PDK keine organisierten Strukturen mehr, die in der Lage zu einem Aufstand waren. Es bedurfte also eines neuen Bewusstseins, einer neuen Organisierung und Führung, um den Patriotismus richtig zum Vorschein zu bringen. Genau das gab die PKK den Menschen. Also all das entstand durch die Offensive vom 15. August. Botan beteiligte sich an dieser Offensive. Die allermeisten Anschlüsse fanden unter der Jugend und den Frauen Botans statt. Der Widerstand vom 15. August wurde somit zum Widerstand Botans. Auf dem zweiten Parteikongress war bereits beschlossen worden, die Offensive in Botan zu beginnen. Das ist in Büchern auch so dokumentiert. Die Region entlang der irakischen Grenze wurde damals von uns zum zentralen Kampfgebiet erklärt. Die Regionen Şırnak und Colemêrg waren also zum zentralen Kriegsgebiet, zum Aktionsgebiet und Zentrum der Guerilla erklärt worden. Zu dieser Entscheidung waren wir nach umfassenden Analysen und Diskussionen gelangt.
Es gab also Entwicklungen, doch es gab auch Fehler und Mängel. Sie ergaben sich daraus, dass die Situation damals nicht umfassend und angemessen genutzt wurde. Bereits vor Beginn der Offensive hatten sich uns viele junge Menschen angeschlossen, als sie die Revolutionäre gesehen hatten. Die Nachricht von den Angriffen am 15. August in den Kleinstädten Eruh und Şemdinli [ku. Dih und Şemzînan] verbreitete sich am stärksten in Botan. Das war von uns auch vorher so geplant worden. Wenn die Lage damals richtig genutzt worden wäre, hätte es zu einer Reihe von Volksaufständen kommen können. Es hätte zu lokalen oder sogar zu regionalen Aufständen kommen können. Denn die Ereignisse vom 15. August 1984 lösten eine enorme Euphorie in der Bevölkerung Botans aus. Das können wir eindeutig feststellen. Doch gelang es nur unzureichend, diese Euphorie zu nutzen, um die Bevölkerung zu führen und zu bilden und sie somit zum Anschluss an die Guerilla zu bewegen.
„Wir haben uns geirrt“
Zu der anderen Frage: Ja, HRK war der erste Name der Guerilla. Das stellte eine Art Anfang und Offensive, eine Art ersten Schritt dar. Mit der HRK wurde der Beginn des Guerillakampfes verkündet. Damals hielten wir es für angemessener, diesen Schritt nicht im Namen der PKK, sondern im Namen einer Befreiungsorganisation, einer militärischen Organisation zu machen. Später haben wir natürlich verstanden, dass wir uns geirrt hatten. Denn wir waren davon ausgegangen, dass nur diejenigen, die Waffen benutzen, als Terroristen bezeichnet würden. Wir wollten also nicht im Namen der PKK bewaffnete Aktionen durchführen, damit niemand die PKK als terroristisch bezeichnen könnte. Später haben wir dann erkannt, dass diese Bezeichnung nichts mit Waffen oder tatsächlichem Terrorismus zu tun hat. ,Terroristisch` wird viel mehr als ideologischer Begriff verwendet. Das begriffen wir damals. Zuvor war uns das schlichtweg nicht bewusst gewesen. Diese Überlegungen hatten also einen gewissen Einfluss auf die damaligen Entwicklungen. Sich selbst damals als Armee zu bezeichnen, bevor noch die erste Aktion durchgeführt, die Gründung verkündet und die erste Kugel abgefeuert worden war, wäre wohl ein wenig übertrieben gewesen. Wir folgten eher dem Grundsatz, uns Schritt für Schritt weiter zu entwickeln. Auch dem wurden wir vielleicht nicht ganz gerecht. So gingen wir jedenfalls an diese Frage heran und beschlossen daher, dass es richtig sei, unseren ersten Schritt als HRK zu gehen. Zu Beginn war dieser Schritt auch erfolgreich. Doch war es unmöglich, einfach genauso weiter zu machen. Später erkannten wir, dass mit der HRK zwar der Anfang gelungen war, aber im weiteren Verlauf nur schleppend neue Entwicklungen angestoßen werden konnten.
So wurde aus der HRK die ARGK
Die HRK reichte nicht, um unter den bestehenden Verhältnissen Kurdistans einen Krieg für Freiheit und nationale Befreiung zu entwickeln. Zudem wurde die HRK auch unserem damaligen Paradigma nicht ganz gerecht. Das Paradigma der PKK war das Paradigma der nationalen Befreiung. Daraus und aus der Strategie des revolutionären Volkskrieges, die gegen das faschistische Militärregime vom 12. September entwickelt worden war, ergab sich für uns die Notwendigkeit, zu einer Armee, zu einer Volksarmee zu werden. Es bedurfte einer Befreiungsarmee, um den Krieg intensivieren und auszuweiten zu können und durch so die Befreiung zu erreichen. Deshalb wurde zwei Jahre später auf dem dritten Parteikongresses 1986 diese Situation analysiert und entschieden, dass die Zeit reif sei. So wurde aus der HRK die ARGK. Die Entscheidung zur Gründung der ARGK wurde auf dem dritten Parteikongress gefällt. Auf dem Kongress wurden die Satzung, Leitung und Ziele der ARGK festgelegt.
Die ARKG war ein wirklich großer Schritt, der zu einer entsprechenden Offensive führte. Ab 1987 wurde mit der ARGK in vielen Regionen Kurdistans, insbesondere in Botan, eine große Offensive unternommen – ähnlich wie 1984 während der Guerilla-Offensive. Die ARGK startete diese Offensive, weitete ihre Angriffe aus und vergrößerte ihre Einheiten. Sie verabschiedete sich davon, mit kleinen Guerilla-Einheiten kleine Angriffe durchzuführen, und formte Kompanien innerhalb der Guerilla. Während des dritten Parteikongresses hatte Abdullah Öcalan im Andenken an den Freund Egîd das Ziel aufgestellt, innerhalb eines Jahres die Guerilla in Form von Kompanien aufzustellen. Dieses Ziel wurde auf dem dritten Parteikongress auf Grundlage der Analyse Abdullah Öcalans beschlossen. Das Jahr 1987 war von der Umsetzung dieser Entscheidung geprägt. Ende `87 entstanden dann die ersten Guerilla-Kompanien. So bewies die Guerilla die Fähigkeit, zu einer Armee zu werden.
Die Weiterentwicklung zur HPG war paradigmatischer Natur. Es ist wichtig, das auf diese Art und Weise zu verstehen. Die Notwendigkeit dafür ergab sich aus dem Paradigmenwechsel, den Abdullah Öcalan zu Beginn der 2000er Jahre eingeleitet hatte. Auch aus militärischer Sicht, also aus Sicht unseres militärischen Verständnisses war es erforderlich geworden, am Verständnis und System der ARGK Veränderungen vorzunehmen. Diese Veränderungen wurden auf gedanklicher und systemischer Ebene vorgenommen. Auch auf Ebene der Identität war das natürlich notwendig. Deswegen war es nicht mehr weiter möglich, die neu entwickelte Widerstandslinie als ARGK zu bezeichnen. Gemäß des neuen Paradigmas bedurfte es einer auf Selbstverteidigung basierenden Verteidigungskraft. Einer Selbstverteidigungs- bzw. Volksverteidigungskraft, die von der Guerilla angeführt wird. Als HPG hat all das eine neue Form angenommen.
Dritter Teil: Warum Mahsum Korkmaz seit 37 Jahren als Kommandant des kurdischen Befreiungskampfes gilt