Am 15. August jährte sich der Beginn des bewaffneten Kampfes der PKK zum 37. Mal. Dieses Datum besitzt für das kurdische Volk und für die Guerilla einen hohen Symbolcharakter und gilt der kurdischen Befreiungsbewegung als „Tag der Wiederauferstehung”. Duran Kalkan ist Mitbegründer der PKK und Mitglied des Zentralkomitees. „Die Entstehung der PKK muss im historischen und politischen Kontext der Entwicklung von linken Organisationen in der Türkei Anfang der 70er Jahre betrachtet werden”, findet der Internationalist und hat sich in einem langen Interview mit ANF zur Geschichte und Politik der PKK geäußert. Wir veröffentlichen das Interview in fünf Teilen.
Seit der Offensive vom 15. August 1984 sind 37 Jahre vergangen. Wie bewerten Sie die damaligen Ereignisse aus heutiger Sicht?
Zunächst möchte ich Abdullah Öcalan als den Architekten der Offensive vom 15. August 1984 grüßen. Ich möchte auch die Gelegenheit nutzen, um in der Person unserer unsterblichen Kommandant:innen Egîd und Zîlan all den Gefallenen unseres Freiheitskampfes voller Respekt, Dankbarkeit und Liebe zu gedenken. Ich gratuliere Abdullah Öcalan und all seinen Weggefährt:innen, unserem gesamten Volk und unseren Freund:innen zum 15. August – dem Tag der Neugeburt. Auch allen Mitgliedern der HPG und YJA-Star gratuliere ich zu diesem Fest der Guerilla. Ich möchte zum Ausdruck bringen, dass wir im 38. Freiheitsjahr als Bewegung und als Volk auf Grundlage der Linie des 15. August noch stärker kämpfen und somit große Siege erringen werden. Natürlich sind die heutigen Bedingungen vollkommen anders als vor 37 Jahren. Damals herrschten völlig andere Verhältnisse. War es damals möglich die heutige Situation vorauszusehen? Nein, sicherlich nicht. Doch ohne Träume und Hoffnung finden auch keine Entwicklungen statt. Daher bestand die große aber nicht konkrete Hoffnung, dass diese Entwicklungen eintreten würden.
Wir hatten Träume. Insbesondere Abdullah Öcalan hatte große Visionen und sah zugleich klar die zukünftigen Entwicklungen voraus. Wir waren von Glauben erfüllt. Die damaligen Verhältnisse machten überall einen intensiven Kampf erforderlich. Das hat letztendlich zur Offensive vom 15. August 1984 geführt. Wir verfügten nicht über sonderlich viele Möglichkeiten oder Chancen. Es ist wichtig, sich dies vor Augen zu führen. Zwar ist die Fülle an finanziellen Mitteln zu Beginn dieses Vorstoßes bedeutungslos, dennoch muss festgehalten werden, dass es diese einfach nicht gab. Wir waren eben nur eine Handvoll Menschen. Der Faschismus nach dem Militärputsch vom 12. September 1980 hatte in Nordkurdistan und der Türkei alles zermalmt, von außen wurde massiv in die Region interveniert. Die kurdische Politik war 1975 durch die Niederlage der PDK als Ganzes besiegt worden und die klassische Art kurdischer Aufstände hatte eine schwere Niederlage erfahren. Im Grunde war es zum Stillstand dieser Aufstände gekommen. Stattdessen versuchten kleinbürgerliche, bourgeoise, nationalistische und reformistische Strömungen sich in den Vordergrund zu drängen, doch sie alle waren zu sehr auf den Materialismus ausgerichtet. Sie waren stark mit dem herrschenden System verbunden und dementsprechend reformistisch. Man kann sogar sagen, dass sie zur Kapitulation tendierten. Es war völlig unmöglich, auf diese Weise in Kurdistan, einem derart von Verleugnung, Zersplitterung und Völkermord betroffenen Land, einen Befreiungskampf zu führen.
Die damaligen Verhältnisse waren wirklich sehr schwer. Doch gab es überhaupt keinen Hoffnungsschimmer? Ich habe das zuvor schon erwähnt: Ohne Träume und Hoffnung kann es nicht zu Entwicklungen kommen. Und es gab natürlich Dinge, auf die gehofft wurde. Das kurdische Volk etwa wurde im Zuge des Militärputsches massiv unterdrückt. Doch das verstärkte die Wut der Bevölkerung und ihren Wunsch nach Freiheit. Ich kann mich noch sehr gut an einen Moment Anfang 1982 erinnern, als der Vorsitzende uns ein Notizbuch gab. Er war damals dabei, das Programm für die „Nationale Befreiungsfront” zu verfassen. Dieses Büchlein hatte ein ganzes Jahr lang auf seinem Tisch gelegen. Ich schlug es auf und sah, dass dort nur ein einziger Satz geschrieben stand: „Die nationale Befreiung ist zu einer Hoffnung unseres Volkes geworden, die sich nicht länger aufhalten lässt.” Auf Grundlage dieses einen Satzes verfassten wir dann ein ganzes Programm. Das Programm der „Nationalen Befreiungsfront Kurdistans” entstand auf Grundlage dieser einen Feststellung. Da war also Hoffnung. Natürlich war die kurdische Gesellschaft damals noch nicht organisiert oder als Kraft auf die Bildfläche getreten. Doch es gab ein Bewusstsein, das das Volk tief verinnerlicht hatte.
Kurdistan geprägt vom Krieg zwischen dem Iran und Irak
Materiell, aber auch aus politischer und militärischer Sicht war die Region damals vom Krieg zwischen dem Iran und Irak geprägt. Diesen Einfluss sollte man nicht unterschätzen. Welchen Einfluss hatte der Iran-Irak-Krieg damals genau? Kurdistan war viergeteilt und befand sich unter der Herrschaft von vier Nationalstaaten. Es wurde bereits damals eine Völkermordpolitik in Kurdistan verfolgt, die aber nicht von diesen vier Staaten entwickelt worden war. Vielmehr war das globale kapitalistische System für diese Politik verantwortlich. Das System hatte diese vier Staaten also in gewisser Weise nur mit der Umsetzung der Politik beauftragt. Damit möchte ich Folgendes zum Ausdruck bringen: Es gibt durchaus eine aufgeteilte staatliche Leitung, also für jeden einzelnen Teil Kurdistans eine andere staatliche Regierung. Aber zugleich existiert eine gemeinsame Leitung für ganz Kurdistan. Dabei handelt es sich um eine politische und militärische Leitung. Ob schriftlich oder mündlich vereinbart, über gewisse Dinge wird bis heute Stillschweigen bewahrt. Doch es ist eindeutig, dass es derartige Abkommen gibt. Innerhalb dieses Systems besteht eine gemeinsame Leitung zwischen allen beteiligten Staaten. So wurde beispielsweise klar vereinbart, dass ein Staat die kurdische Bevölkerung in einem anderen Staat nicht zu dessen Ungunsten unterstützt. Das war eine der Regeln, auf die sich diese gemeinsame Leitung für Kurdistan geeinigt hatte. So war auch die Grenze zwischen den verschiedenen Teilen Kurdistans vollständig befestigt worden.
Die klassischen Aufstände wurden in diesem Rahmen vollständig zerschlagen. Dafür sorgte der Iran-Irak-Krieg. Damals begann der Iran die kurdische Bevölkerung im Irak zu unterstützen und der Irak tat dasselbe mit den Kurdinnen und Kurden im Iran. Eine Zeitlang hatte das vom globalen System ins Leben gerufene Militärbündnis CENTO existiert, auch bekannt als Bagdad-Pakt, an dem alle vier Nationalstaaten in Kurdistan beteiligt waren. In diesem Rahmen hatten gemeinsame organisatorische Verbindungen untereinander bestanden. Doch diese Beziehungen zerbrachen. Sie funktionierten nicht mehr. So kam es zu einer gewissen Zersplitterung im Bereich der politischen und militärischen Kontrolle Kurdistans. Doch am grundlegendsten für das Zustandekommen der Offensive vom 15. August war das herausragende Talent von Rêber Apo. Unter extrem schwierigen Bedingungen und zu einer Zeit, in der jegliche Hoffnung und Träume unmöglich erschienen, löste Abdullah Öcalan derartige Entwicklungen aus. Er sprach damals auch selbst davon, dass er Hoffnung und Träume erschafft. Sein Glauben und seine Entschlossenheit spielten dabei eine zentrale Rolle. Die kurdische Jugend ist wirklich mutig und selbstlos. Durch die Ideen Abdullah Öcalans entwickelte sie eine unerschütterliche Haltung, die eine wichtige Rolle bei der Entwicklung der Offensive vom 15. August spielte.
Gegen den Militärputsch vom 12. März 1971 hatte die revolutionäre Bewegung der Türkei Widerstand geleistet und somit wichtige Erfahrungen gewonnen. Dann waren da noch der Kampf des palästinensischen Volkes und die Solidarität dafür. All das verband sich mit den großen Anstrengungen, dem Willen und dem Genie Abdullah Öcalans. Der Mut und die Selbstlosigkeit der kurdischen Jugend schaffte die Grundlage. Und natürlich trieb der Gefängniswiderstand im Jahr 1982 die Entwicklungen wie ein Motor an. Die verschiedenen Kämpfe, die bereits vor dem Widerstand vom 14. Juli 1982 stattgefunden hatten – der Widerstand von Mazlum Doğan, Mehmet Hayri Durmuş, Kemal Pir, Ferhat Kurtay oder Sakine „Sara” Cansız – führten dazu, dass die damaligen spärlichen Mittel auf sehr effektive Art und Weise genutzt wurden und wir den Mut für diese Art des Widerstands aufbrachten. Abdullah Öcalan war derjenige, der diesen Mut bewies. Sein Mut war erfüllt von einem starken Bewusstsein. Dieses Bewusstsein wiederum basierte auf einem sehr tiefgreifenden historischen Verständnis und dem Drang nach einem freien Leben.
Später drückte Abdullah Öcalan das mit folgenden Worten aus: „Entweder wir leben ein freies Leben, oder eben keins.” Das war von Beginn an seine Lebensphilosophie. All das hat letztendlich zur Guerilla-Offensive vom 15. August 1984 geführt und zu den Angriffen in Eruh und Şemdinli, wo die ersten Schüsse fielen. Die heutigen Verhältnisse sind natürlich ganz anders. Doch Folgendes können wir trotzdem sagen: Auch wenn es nur schwach zu erkennen ist, das Licht am Ende des Tunnels erlischt nie. Ohne dieses tiefgreifende Bewusstsein, die großen Träume und Hoffnungen, wäre es nie zu dem großen Gefängniswiderstand gekommen. Mazlum Doğan wäre nicht derjenige geworden, der er geworden ist. Auch der 14. Juli und „Die Aktion der Vier” wären nie geschehen. Ohne seine Perspektive und Voraussicht wäre es Abdullah Öcalan angesichts so spärlicher Mittel niemals möglich gewesen, mit so viel Mut und Selbstlosigkeit derart intensive Aufgaben zu erfüllen. Er wäre ihm kaum möglich gewesen, diese Arbeiten anzugehen geschweige denn zu stemmen. Ihm gelang alles, weil er gewisse Dinge erkannt hatte.
Es gab damals fast keine Hoffnung. Die Hoffnung selbst wirkte wie ein ferner Traum. Deshalb bedurfte es sehr großer Anstrengungen. Großer Mut und große Selbstlosigkeit waren notwendig. Und all das musste vom Menschen selbst geleistet werden. Genau solch einen Menschen schuf Abdullah Öcalan. Bei der Schaffung dieser Art von Mensch spielte er eine führende Rolle. Er entwickelte diese Persönlichkeit in sich selbst und vermittelte sie zugleich der gesamten kurdischen Jugend, allen kurdischen Frauen und dem ganzen Volk. Er erschuf eine neue Gesellschaft, ein neues Individuum und eine freie Gesellschaft. Der 15. August wurde deshalb zu einem kurdischen Neubeginn. Das können wir ganz klar sagen. Alle sollten diesen Tag daher als das „38. Jahr der freien kurdischen Identität” feiern. Denn der 15. August hat den nationalen Niedergang und die nationale Vernichtung gestoppt. Die erste Kugel für die freie Existenz wurde am 15. August abgefeuert. Seit mittlerweile 37 Jahren leben wir kämpfend in Freiheit. Nun beginnt für uns das 38. Jahr der Befreiung. Ich beglückwünsche alle zum Beginn dieser Zeit.
Was können Sie über die damaligen Vorbereitungen für den 15. August sagen? Welche Vorbereitungen wurden genau getroffen? Wäre es nicht auch möglich gewesen, die Offensive, die in Kurdistan so eine starke Wirkung hatte, auch auf die Türkei auszuweiten? Was waren die Gründe dafür, dass die Türkei nicht zum Teil dieser Offensive wurde?
Wir benutzen heute Begriffe wie „kurdischer Widerstand”, „nationaler Widerstand”, „demokratischer Widerstand” oder „Widerstand für die Freiheit”. Ohne Zweifel handelt es sich um einen kurdischen Kampf, doch er ist nicht nur auf Kurdistan begrenzt und wird auch nicht nur von Kurdinnen und Kurden ausgetragen. Dieser Widerstand hat seinen Ursprung in den Kämpfen des Mittleren Ostens und ist Abdullah Öcalans Versuch einer neuen Synthese in Kurdistan. Das muss uns bewusst sein. Hinter diesem Widerstand steht die widerständige Haltung der Völker der Türkei, der arabischen Völker und der Völker des Irans sowie jener, mit denen die Kurd:innen am engsten zusammenleben: Armenier:innen, Assyrer:innen, Aramäer:innen. Um solch eine Guerilla handelt es sich bei der kurdischen. Es ist eine kurdische Guerilla, gewiss. Das ist die Identität, die sich mit der Zeit entwickelt hat. Aber zugleich handelt es sich bei der Guerilla um eine Synthese. Die Guerilla Kurdistans hat viele theoretische Erkenntnisse aus den Erfahrungen der verschiedenen Völker dieser Welt gewonnen. Und in der Praxis hat sie die verschiedenen Aspekte der mittelöstlichen Guerilla-Kriegsführung vollständig in sich vereinigt.
Da wären etwa die Erfahrungen, die während des Guerilla-Widerstandes gegen den Militärputsch vom 12. März 1971 in der Türkei gewonnen wurden. Aus den Erfahrungen von Mahir Çayan, Deniz Gezmiş, Ibrahim Kaypakkaya und Sinan Cemgil hat die Guerilla Kurdistans sehr viele grundlegende Lehren gezogen. Sie alle waren sowohl in die Berge der Türkei als auch in die Berge Kurdistans gegangen. Somit waren sie es, die den ersten Funken des Guerillakampfes zündeten und letzlich auch die erste Kugel abfeuerten. Es handelte sich um einen gemeinsamen revolutionären Widerstand der türkischen und kurdischen Jugend. Mit dem Kampf gegen den Militärputsch 1971 nahm der Widerstand im Grunde seinen Anfang. Doch seine Anführer wurden ermordet. Der Widerstand wurde zerschlagen und auf nichtwiederaufnehmbare Weise unterbrochen. Nichtsdestotrotz handelte es sich um eine sehr wichtige und vor allem wertvolle Erfahrung. Der spätere Aufbruch von Abdullah Öcalan basierte voll und ganz auf eben diesen Erkenntnissen.
Rêber Apo sprach immer wieder davon, dass er mit seinem Widerstand begonnen hat, um die Träume und Ziele dieser revolutionären Anführer nicht unerfüllt zu lassen. „Ich setze ihre Anweisungen um“, hat er stets gesagt. Er hat ihren Widerstand fortgesetzt, indem er auf der Grundlage von Kritik und Selbstkritik gewisse Dinge hinterfragt und Lehren daraus gezogen hat. Diese revolutionären Anführer haben den Anfang gemacht. Sie waren unerfahren und machten Fehler. Deshalb wurden sie besiegt. Abdullah Öcalan gelang es Fehler zu vermeiden, die Guerilla in die Berge Kurdistans zu führen und ihre Existenz dort zu sichern. Das schaffte er nur, weil er aus den zuvor begangenen Fehlern wichtige Lehren gezogen hatte. Ohne dieses Einsehen wäre es zu einer völlig anderen Entwicklung gekommen. Es ist deshalb sehr wichtig, sich der Bedeutung dieser Lehren bewusst zu sein.
Militärische Ausbildung in palästinensischen Camps
Unsere militärische Ausbildung erhielten wir in den Reihen des Widerstandes der palästinensischen Guerilla. Die Kräfte, die später die Offensive vom 15. August umsetzten, waren alle im Libanon, in Palästina und in den palästinensischen Camps ausgebildet worden. Das palästinensische Volk hat also viel Unterstützung geleistet und große Anstrengungen für uns unternommen. An dieser Stelle erinnere ich voller Respekt an alle, die uns unterstützt haben. Die palästinensischen Kräfte hatten Beziehungen zu den sozialistischen Kräften der Sowjetunion. Dort erhielten sie ihre Ausbildung. Durch sie prägte die Guerilla-Strategie der sozialistischen Bewegungen auch unsere Kräfte. Unsere Praxis war damals vollständig von der palästinensischen Guerilla geprägt. Alle waren damals in Palästina, auch der gesamte arabische Widerstand. Und nicht nur Araber:innen, auch Gemeinschaften aus dem Iran waren dort.
Mein Nom de Guerre Abbas beispielsweise ist der Name eines iranischen Revolutionärs, den ich von ihm erhalten habe. Er war einer der Menschen, der sich für das revolutionäre Volk des Irans aufopferte. Er war ein Revolutionär und ein wirklich großer Kommandant. In den palästinensischen Camps im Libanon hatte er zusammen mit unseren Freund:innen seine Ausbildung erhalten. Als er sich verabschiedete, waren wir alle sehr traurig. Als auch ich mich auf den Weg machte, gaben mir die Freund:innen seinen Namen. Seither halte ich sein Erbe lebendig. Es war eine intensive Synthese, die sich damals dort entwickelte. Die kurdische Guerilla und die PKK haben diese Synthese nach Kurdistan getragen. Das kurdische Volk zeichnet sich sowieso historisch betrachtet durch einen starken Widerstandsgeist aus, der sehr stark den Eigenschaften des Guerillakampfes entspricht. All das analysierte Öcalan sehr genau. Er warf die Frage auf, wie dieses Volk wieder zum Leben erweckt werden könnte. Diese Frage erforschte er, fand Antworten darauf und schritt dementsprechend voran.
In diesem Sinne ist die kurdische Guerilla eigentlich eine „Guerilla der Synthese“. Ihr Widerstand ähnelt dem kurdischen Widerstandsgeist. Zugleich muss man sie auch als „Guerilla des Mittleren Ostens“ bezeichnen. Denn sie hat alle Traditionen der kämpfenden Völker des Mittleren Ostens in sich vereint. Und selbst darauf ist sie nicht beschränkt. Es ist sehr wichtig, die PKK und Abdullah Öcalan in diesem Zusammenhang richtig zu verstehen. Sie haben die Theorie aller Revolutionen der Völker dieser Erde analysiert. Auch die Völker Europas haben Widerstand geleistet, um sich zu Nationen zu entwickeln. Auch sie haben Erfahrungen mit Guerillakampf. Und wie haben die Völker Asiens Widerstand geleistet? In Vietnam, Kambodscha und vielen anderen Orten. Wie haben sie die globalen Hegemonialkräfte, die sogenannten mächtigen Staaten besiegt? Die PKK hat all das so intensiv untersucht, als handele es sich um ihren eigenen Widerstand.
In Nordamerika, Lateinamerika und in Afrika – viele schenkten der schwarzen Bevölkerung Afrikas damals nicht die geringste Aufmerksamkeit. Doch wie haben all diese Völker in ihren Gebieten gegen den Imperialismus und Kapitalismus gekämpft, sich organisiert und als Guerilla agiert? Diese Fragen haben die PKK und Rêber Apo untersucht, etwa die Erfahrungen aus Mosambik und Angola. Sie haben alle Guerillakriege der damaligen Epoche ganz genau analysiert. Durch die Vereinigung all dieser verschiedenen Kämpfe kam es zur Offensive vom 15. August 1984. Der Widerstand nahm seinen Anfang und die Guerilla entstand. In diesem Zusammenhang möchte ich auch Folgendes erwähnen: Ab September 1982 begann die Guerilla aus dem Ausland in die Berge Kurdistans zurückzukehren. Das tat sie als Guerilla der PKK, aber mindestens genauso als Guerilla der „Vereinten Widerstandsfront gegen den Faschismus“ (FKBDC). Denn wir waren damals Teil dieser Front. Sie war im Frühling 1982 gegründet worden. Auch ein Programm war in diesem Zusammenhang erstellt worden. Acht Organisationen hatten sich der FKBDC angeschlossen und zwei weitere unterstützten sie offiziell. Diese Front wurde gegründet, um gegen das faschistische Militärregime zu kämpfen, das seit dem Militärputsch vom 12. September 1980 die Türkei regierte.
Die PKK war die einzige kurdische Organisation innerhalb der FKBDC. Alle andere Organisationen stammten aus der Türkei. Darunter waren einige Organisationen, die mindestens genauso stark waren wie die PKK. Dev-Yol beispielsweise war deutlich stärker, denn diese Organisation verfügte über mehr und besser qualifizierte Kader und hatte auch mehr Leute als wir in den Libanon bzw. nach Palästina gebracht. Sie alle wurden gemeinsam als eine gemeinsame Front ausgebildet. Auf dem 2. Parteikongress der PKK war beschlossen worden, den Widerstand auszuweiten. Zudem verstanden wir den Gefängniswiderstand als einen klaren Befehl an uns. Auf dieser Grundlage kehrte die Guerilla nach Kurdistan zurück. Sie tat das sowohl als PKK-Guerilla, als auch als FKBDC-Guerilla. Sie ging in die Berge Kurdistans, um für die Freiheit der Kurd:innen zu kämpfen. Aber mindestens genauso sehr ging sie diesen Schritt für die Demokratisierung der Türkei. Es handelte sich also um Kämpfer:innen der FKBDC, um die Guerilla der FKBDC. Sie alle hatten das Ziel, die Türkei zu demokratisieren. Genauso wie es im Programm der FKBDC als Ziel definiert worden war. All diejenigen, die aktiv an der Offensive vom 15. August beteiligt waren und alle, die sich im Zuge dieses Vorstoßes der Karawane der Gefallenen anschlossen, waren zutiefst von diesem Ziel überzeugt. Dieses Bewusstsein hatten sie sehr stark verinnerlicht. Es ist wichtig, dass wir das so deutlich zum Ausdruck bringen.
Es begann also nicht als eine reine Kraft der PKK. Ja, der Widerstand fand in Kurdistan statt, doch es handelte sich nicht nur um einen kurdischen Widerstand. Was war das Neue an dieser Entwicklung? Nach dem Militärputsch von 1971 hatten die Revolutionär:innen der Türkei sowohl in der Türkei als auch in Kurdistan den Widerstand eingeleitet. Für ihren Kampf gegen den Militärputsch von 1980 zog die PKK wichtige Lehren aus den Kämpfen ein Jahrzehnt zuvor. Sie begann einen ähnlichen Widerstand in Kurdistan, jedoch mithilfe besser geeigneter Methoden. So gelang es der PKK durch den 15. August 1984, den Kampf in eine Offensive zu verwandeln, die von einer unbesiegbaren Guerilla geführt wurde. Die revolutionären Bewegungen der Türkei brachten den Mut zu diesem Schritt damals nicht auf. Sie gingen diesen Schritt nicht. Der Zerfall, die Spaltung und die Auflösung der FKBDC wurden im Grunde durch die Rückkehr der Guerilla nach Kurdistan eingeleitet.
Die Revolutionär:innen der Türkei sprachen sich damals gegen diesen Schritt aus. Ihnen fehlte der Mut dazu. Warum? Weil ihre Anführer während des Widerstandes im Jahr 1971 ermordet worden waren. Es ist sehr wichtig, sich der zentralen Bedeutung von Führung bewusst zu sein. Als Bewegung darf man die Frage der Führung nicht unterschätzen. Die Führung ist alles. Sie ist ausschlaggebend. Natürlich werden alle, die sich für den Kampf entscheiden, zu einem Teil dessen. Doch diese Art des Kampfes, dieser Kampf von Führungspersönlichkeiten – sie werden stets von Anführern geleitet. Sie sind es, die die Methode und Richtung des Kampfes bestimmen. Doch 1971 verloren die revolutionären Bewegungen in der Türkei ihre Anführer. Sie wurden eliminiert. Danach gelang es ihnen nicht mehr, die Linie ihrer Führung fortzusetzen. Es gelang auch nicht, die richtigen Lehren daraus zu ziehen und Anführer hervorzubringen, die den Spuren ihrer Vorgänger folgen konnten. Man schaffte es nicht, sich mit ihnen auf der Basis von Selbstkritik auseinanderzusetzen. Solche, die sich ab 1974 neu organisierten, übten keine Selbstkritik, um zu den notwendigen Schlussfolgerungen zu gelangen. Es war 1971 zu einem riesigen Widerstand gekommen, es existierte also ein Erbe. Doch die Revolutionär:innen der Türkei gingen damals einfach davon aus, dass allein dieses Erbe sie zum Erfolg führen werde. Sie setzten sich nur ungenügend mit ihrem Vermächtnis auseinander und zogen keine Lehren daraus. Sie erkannten ihre Fehler und Unzulänglichkeiten nicht. Und so bereiteten sie sich nicht richtig vor und bildeten sich nur ungenügend weiter. Es gelang ihnen nicht, die richtigen Methoden für die Fortsetzung dieser Linie zu finden.
Als es am 12. September 1980 dann erneut zu einem Militärputsch kam, also erneut ein schwerer Angriff stattfand, scheiterten die Revolutionär:innen in der Türkei daran, an den Widerstand von Mahir, Ibrahim, Deniz oder Sinan anzuknüpfen. Die Verhältnisse in der Türkei unterschieden sich nicht von denen in Kurdistan, der Militärputsch richtete sich gegen alle. Gleichzeitig war die Unterstützung für die Kräfte, die Widerstand gegen den Putsch leisteten, in Kurdistan genauso groß wie in der Türkei. Hätte es das zuvor beschriebene Führungsproblem nicht gegeben, wäre die Guerilla in der Türkei genauso stark geworden wie in Kurdistan. Zudem hätte sie angesichts der Führungsrolle der Guerilla in Kurdistan in der Türkei eine noch größere Wirkung entwickelt. Mit Kurdistan als Basis – Kurdistan selbst stützt sich ja auf den Mittleren Osten – wären der revolutionäre Kampf und die Guerilla in der Türkei sehr stark geworden.
Wir können also Folgendes feststellen: Wenn der revolutionäre Kampf so geführt worden wäre, wie von der FKBDC geplant, wäre der türkische Staat – also die faschistische Diktatur vom 12. September – Anfang der 1990er Jahre vollständig zusammengebrochen und die Türkei hätte sich grundlegend verändert. Es wäre zu einer völlig neuen Situation gekommen. Dass dies nicht eintraf, liegt nicht an dafür fehlenden Voraussetzungen oder an der Intelligenz, geschweige denn an der erfolgreichen Politik des Regimes von Putschgeneral Kenan Evren. Es liegt schlichtweg daran, dass es nicht gelang, einen revolutionären Kampf zu entwickeln, der dieses Regime richtig verstand und es dementsprechend besiegen konnte. Es liegt daran, dass es nicht gelang, eine revolutionäre Führung zu entwickeln. Heute versuchen die Revolutionär:innen der Türkei, genau das zu überwinden. Das ist sehr wichtig, doch müssen sie noch tiefgreifender und umfassender an diese Frage herangehen und viel mehr Mut aufbringen. Kritik und Selbstkritik ist hier besonders notwendig. Um dieses Prinzip anwenden zu können, müssen sie sich von ihrer Welt des Privatbesitzes trennen. Innerhalb des Systems mit Privateigentum als Kriterium leben, also individualistisch leben, aber zugleich Selbstkritik leisten und die eigenen Fehler eingestehen – so geht es eben nicht. Die PKK hat sich zu einer Kraft entwickelt, die Selbstkritik anwendet und Lehren aus ihren Fehlern zieht, weil sie mit der Welt des Privatbesitzes und des Individualismus gebrochen hat. Diesen Bruch hat Abdullah Öcalan herbeigeführt. Durch ihn wurden all diese Entwicklungen erreicht. All diejenigen, denen dieser Schritt nicht gelang, haben große Möglichkeiten ungenutzt gelassen.
Nächster Teil: Die Situation der kurdischen Bevölkerung in den 80er Jahren und die Notwendigkeit, nach der HRK die ARGK zu gründen