Deutsche Bundesregierung: Türkei sicherer Drittstaat
Die innenpolitische Sprecherin der Linken, Ulla Jelpke, stellt der deutschen Bundesregierung Fragen zum EU-Türkei-Abkommen und der „Grenzöffnung“ der Türkei durch das Erdoğan-Regime im März 2020.
Die innenpolitische Sprecherin der Linken, Ulla Jelpke, stellt der deutschen Bundesregierung Fragen zum EU-Türkei-Abkommen und der „Grenzöffnung“ der Türkei durch das Erdoğan-Regime im März 2020.
Am 29. Februar 2020 hatte der türkische Regimechef Erdoğan verkündet, die Grenzen für in der Türkei aufhältige Schutzsuchende nach Europa geöffnet zu haben. Es hätten sich mehrere hunderttausend Flüchtlinge aufgemacht und man werde „bald von Millionen“ sprechen.
Seit der Vereinbarung der EU-Türkei-Erklärung am 18. März 2016 hat die Türkei immer wieder erfolgreich versucht, mit dem Potenzial an Schutzsuchenden (zwischen 2,8 und 3,6 Millionen) die EU und insbesondere Deutschland unter Druck zu setzen. Auf diese Weise wurde das Schweigen der Bundesregierung zum völkerrechtswidrigen Angriffskrieg und der Besetzung von Teilen Nordsyriens durch die türkische Armee gefördert. Es geht der türkischen Regierung aber nicht nur um politische Zugeständnisse, sondern um Bargeld. Die EU hat bisher 3,2 Milliarden Euro zweckgebunden an die Türkei übertragen. Obwohl auch diese Zahlungen durch die so frei werdenden Mittel eine Entlastung für das Regime darstellen und viel Geld an den korrupten, unter dem Einfluss der Familie Erdoğan stehenden Türkischen Roten Halbmond fließt, will das Regime die volle Kontrolle. Erdoğan kolportiert daher gerne die Argumentation, die EU würde nicht zahlen. So versucht der Diktator die Ursache für die ökonomische Krise der Türkei nach außen zu verlagern.
Erdoğans neue Erpressung mit „Grenzöffnung“ im März
Mit Verschärfung der ökonomischen Krise in der Türkei wurden auch Erdoğans Töne immer schriller. Anfang März wurden tausende Schutzsuchende mit Bussen und dem Versprechen offener Grenzen an die türkisch-griechische Demarkationslinie gefahren. Abschiebegefängnisse wurden geleert und die Betroffenen an der Grenze zu Griechenland ausgesetzt. Griechenland reagierte mit voller Brutalität und EU-Staaten wie Deutschland und Österreich stellten sich explizit hinter das Vorgehen der griechischen Polizei. Die griechische Polizei schoss auf Schutzsuchende, während die türkische Polizei Tränengasgranaten über die Grenze schoss und versuchte, die Schutzsuchenden über die Grenze zu treiben. Nicht nur griechische Behörden, sondern auch der deutsche Bundesnachrichtendienst berichteten von Agenten des türkischen Geheimdienstes und Angehörigen von Spezialeinheiten, die sich unter die Flüchtlinge gemischt hatten, um als Scharfmacher die Lage an der Grenze weiter zu eskalieren. Auch juristisch eskalierte Griechenland auf voller Linie. So setzt das Land völkerrechtswidrig das Recht auf Asyl aus und Bundesinnenminister Seehofer verkündete, dieser Völkerrechtsbruch sei „in Ordnung“.
Keine „Hunderttausende“, sondern gerade mal 12.000
Vollmundig hatte Erdoğan von „Hunderttausenden“ und bald „Millionen“ Flüchtlingen an der Grenze zu Griechenland gesprochen. Obwohl er alles daran setzte, die Menschen an die Grenze zu treiben, ließen sich nur wenige auf die falschen Versprechungen Erdoğans ein. Wie die Bundesregierung in ihrer Antwort auf eine Kleine Anfrage der Linksfraktion mitteilt, befanden sich gerade mal 12.000 Menschen zu Hochzeiten der „Grenzöffnung“ in Pazarkule. Das macht die Reaktion der EU um so absurder. Auf allen Ebenen versuchten rechte Politiker, ein „zweites 2015“ herbeizureden, und legitimierten jegliche Maßnahmen. Diese Verschiebung des Diskurses ist auch in Deutschland deutlich zu spüren gewesen. Während die rechtsextreme Politikerin Beatrix von Storch Anfang 2016 Schüsse auf Flüchtlinge an der Grenze forderte und damit einen bundesweiten Aufschrei verursachte, erzeugte die Erschießung von mindestens einem Flüchtling an der griechisch türkischen Grenze durch die griechische Polizei kaum mehr ein Echo.
Nur 462 von 12.000 erreichten die EU
Nur 462 Personen schafften es zwischen dem 28. Februar und dem 14. Mai die EU zu erreichen, berichtet die Bundesregierung. Davon 137 am 28. und 29. Februar, 329 im März, vier im April und zehn im Mai. Am 19. März wurde die Grenze nach Griechenland und Bulgarien durch die Türkei aufgrund der Corona-Pandemie wieder geschlossen. Die Schutzsuchenden, die weiterhin an der Grenze ausharrten, wurden nach Angaben der Bundesregierung in „staatliche Quarantäneeinrichtungen“ verbracht.
Die Fragestellerin Ulla Jelpke erklärt zu diesem Komplex: „Die Zahl der Schutzsuchenden an der türkisch-griechischen Grenze war viel geringer als von Erdoğan behauptet. Dass die EU auf diese geringe Zahl von Schutzsuchenden mit quasi-militärischer Gewalt reagierte, ist einfach nur erbärmlich. Wie tief können denn diese selbsternannten Hüter von Demokratie und Menschenrechten noch sinken? Statt die Schutzsuchenden mit offenen Armen aufzunehmen, um den Erpressungsversuch Erdogans ins Leere laufen zu lassen, wurden Grundrechte außer Kraft gesetzt und Gewaltmittel von Tränengas bis hin zu Todesschüssen angewandt. Diese Schande kann nicht allein Griechenland zugeschrieben werden, denn die Bundesregierung und die EU-Kommission stellten sich hinter das menschenverachtende Vorgehen der von Frontex sekundierten griechischen Polizei.“
2.402 Übertritte an der griechisch türkischen Seegrenze
Seit dem 28. Februar 2020 kamen 2.402 Personen „irregulär“ aus der Türkei auf den griechischen Inseln an, die meisten (2084) im Monat März (Stand 21. Mai 2020). Die Türkei versuchte auch hier dafür zu sorgen, dass sich mehr Menschen auf die gefährliche Überfahrt nach Griechenland machen. Insbesondere in Lesbos kamen immer wieder Schutzsuchende an. Rassisten und Faschisten mobilisierten gegen die Schutzsuchenden und es kam zu regelrechten Hetzjagden auf Flüchtlinge, NGO-Mitglieder und Journalist*innen. Daran beteiligten sich nach Angaben der Bundesregierung auch deutsche Rechtsextremisten. Über die Anzahl der Menschen, die auf der Flucht gestorben sind, kann oder will die Bundesregierung keine Angaben machen.
Abschiebungen im Rahmen des EU-Türkei-Abkommens nehmen zu
Während im Gesamtjahr 2019 189 Personen im Rahmen der EU-Türkei-Erklärung aus Griechenland in die Türkei abgeschoben worden sind, waren es alleine in den ersten drei Monaten des Jahres 2020 trotz Corona-Pandemie bereits 139. Das sind mehr Menschen als im gesamten zweiten Halbjahr 2019 (116). Es zeichnet sich eine steigende Tendenz ab. Jelpke kommentiert: „Jede einzelne dieser Abschiebungen ist ein menschenrechtlicher Skandal. Es geht hier um Menschen, die in der EU Schutz suchten und nun in die türkische Diktatur abgeschoben wurden. Wir haben gesehen, wie die Türkei die Schutzsuchenden mit Tränengas und Wasserwerfern zur griechischen Grenze getrieben hat. Wir wissen über die katastrophale Lage und die Rechtlosigkeit von Schutzsuchenden in der Türkei. Niemand, der sich noch einen Funken Menschlichkeit bewahrt hat, kann Schutzsuchende in einen Staat abschieben, der diese mit Gewalt als Instrument für seine eigenen Großmachtbestrebungen missbraucht.“
Bundesregierung hat keine Erkenntnisse über den Verbleib der in die Türkei Abgeschobenen
Die Bundesregierung hat keinerlei Erkenntnisse über den Verbleib der in die Türkei abgeschobenen Schutzsuchenden in der Türkei. Jelpke kommentiert: „Es ist bezeichnend, dass die Bundesregierung keine eigenen Erkenntnisse über den Verbleib der in die Türkei abgeschobenen Schutzsuchenden hat. Was man nicht sehen will, kann man auch nicht sehen! Die katastrophalen Lebensbedingungen für Flüchtlinge in der Türkei sind ebenso bekannt wie Kettenabschiebungen und erzwungene ‚freiwillige‘ Ausreisen in Kriegsgebiete wie Syrien.“
„Freiwillige“ Ausreisen aus griechischen Hotspotlagern
Die Bedingungen in den Hotspots genannten Lagern auf den griechischen Inseln sind so dramatisch, dass sich immer wieder Personen dazu drängen lassen, „freiwillig“ auszureisen. Im zweiten Halbjahr 2019 sind 260 Personen „freiwillig“ von den griechischen Inseln mit Hilfe der IOM (Internationale Organisation für Migration) ausgereist.
Jelpke: Milde Ermahnungen von Maas an die Türkei „lächerlich“
Angesichts der Erpressungspolitik der Türkei erscheint das positive Bild, das die Bundesregierung in ihrer Antwort vom EU-Türkei-Deal zu zeichnen versucht, geradezu absurd. Die Bundesregierung verzeichnet es als Erfolg, dass die Zahl von Schutzsuchenden, die es aus der Türkei in die EU schaffen, gesunken ist. Auch der türkische Grenzschutz habe die Arbeit wieder aufgenommen. Die EU-Türkei-Erklärung sei weiterhin „notwendiges Instrument der Migrationskooperation zwischen der EU und der Türkei“. Jelpke kommentiert hierzu: „Was euphemistisch als Migrationskooperation bezeichnet wird, ist nichts anderes als brutale Abschottung. Die Türkei wird zum Türsteher der EU gemacht. Die grausamen Bilder von erschossenen und misshandelten Schutzsuchenden sollen so von der EU ferngehalten werden.“ Weiter schreibt die Bundesregierung, ihr Außenminister Heiko Maas habe die Entwicklung an der türkisch-griechischen Grenze als „nicht hinnehmbar“ bezeichnet. Jelpke erklärt: „Die EU macht sich mit dem schmutzigen Deal von der Türkei abhängig und ist auch zum schäbigsten Zugeständnis an den türkischen Despoten bereit. Es ist einfach lächerlich, wenn sich Heiko Maas hinstellt und die Zustände als ‚nicht hinnehmbar‘ beschreibt, aber dann erklären lässt, an dem Deal weiter festzuhalten.“
„Türkei hat nie UNHCR-Rückkehrkriterien respektiert“
Menschenrechtsorganisationen und NGOs berichten von systematischen Abschiebungen von Schutzsuchenden aus der Türkei in Kriegsgebiete in Syrien wie nach Idlib. Auf die Frage danach antwortet die Bundesregierung, die türkische Regierung habe zugesichert, „auch künftig die Rückkehrkriterien des UNHCR zu respektieren“. Der Ausdruck „auch zukünftig“ unterstellt, die Türkei habe sich in der Vergangenheit nichts zu Schulden kommen lassen. Der Verweis der Bundesregierung auf eine andere Kleine Anfrage macht deutlich, was dahinter steht. Die Bundesregierung behauptet dort, sie verfüge über keine eigenen Erkenntnisse über systematische Abschiebungen aus der Türkei. Was nicht weniger bedeutet, als dass sie sich selbst nicht damit befasst hat. Jelpke bezeichnet diese Antwort der Bundesregierung als „schlechten Witz“ und sagt: „Während NGOs und Betroffene reihenweise von als ‚freiwillige Ausreise‘ getarnten Abschiebungen in syrische Kriegsgebiete berichten, erklärt die Bundesregierung, die Türkei habe versichert, auch künftig die UNHCR-Rückkehrkriterien zu achten. Das kann nur ein schlechter Witz sein, denn die Türkei hat diese Kriterien nie beachtet. Im Gegenteil: Schutzsuchende werden dazu gezwungen, Dokumente zur ‚freiwilligen‘ Ausreise zu unterschreiben, um dann außer Landes geschafft zu werden. Es findet eine regelrechte Hatz auf Schutzsuchende in Städten wie Istanbul statt.“
Bundesregierung: Türkei sicherer Drittstaat
Besonders absurd ist die Tatsache, dass die Bundesregierung weiter an ihrer 2016 gemachten Feststellung, bei der Türkei handle es sich um einen sicheren Drittstaat, festhält. In dem Verweis auf ihre Antwort aus dem Jahr 2016 heißt es, in der Türkei werde das Völkerrecht „uneingeschränkt gewahrt“. Eine absurde Behauptung angesichts der systematischen Verletzung des Völkerrechts in Nord- und Ostsyrien. Im gleichen Atemzug erwähnt die Bundesregierung auch den Regionalvorbehalt, mit dem die Türkei die Genfer Flüchtlingskonvention ratifiziert hat. Das bedeutet, dass nur Schutzsuchende aus Europa in der Türkei Asyl beantragen können. Das trifft vermutlich auf so gut wie keinen Flüchtling in der Türkei zu. Weiterschiebungen sind in der Türkei an der Tagesordnung.
So tut die Bundesregierung die Abschiebung von 30.000 Afghan*innen mit einem Schulterzucken ab, es sei nicht ihre Sache, wie die Türkei ihr Asylsystem gestalte. Die Bundesregierung erklärt darüber hinaus, die türkische Regierung habe „die Einhaltung dieser Schutzstandards für syrische und nicht-syrische Flüchtlinge schriftlich zugesichert“ und „Die Bundesregierung ist vor dem Hintergrund der rechtlichen Gewährleistung des türkischen Ausländergesetzes und dem Gesetz zum internationalen Schutz, der türkischen Zusagen sowie der jüngsten Rechtsänderungen der Auffassung, dass die Türkei die Anforderungen an einen sicheren Drittstaat gemäß Artikel 38 der Richtlinie 2013/32/EU erfüllt. Nach der Kenntnis der Bundesregierung entspricht dies auch der Auffassung der Europäischen Kommission“.
Ulla Jelpke kommentiert: „Die Bundesregierung behauptet tatsächlich, die Türkei sei ein sicheres Drittland. In der Türkei sind schwerste Übergriffe, Inhaftierungen und Folter an der Tagesordnung. Schutzsuchende sind permanent von Inhaftierung, illegaler Zurückweisung und Abschiebung in den Krieg bedroht. Wenn sich hier die Bundesregierung auf die Ratifizierung der Genfer Flüchtlingskonvention durch die Türkei positiv bezieht, dann kann das nur ein übler Scherz sein. Der regionale Vorbehalt, mit dem die Türkei die Konvention ratifiziert hat, gesteht nur Flüchtlingen aus Europa das Recht auf Asyl zu. Aber das trifft auf die allermeisten Flüchtlinge in der Türkei kaum zu.“
Mindestens 190.000 Flüchtlingskinder zur Kinderarbeit gezwungen
Von den 3,6 Millionen syrischen Flüchtlingen in der Türkei sind 1,7 Millionen minderjährig. Nur 63 Prozent von ihnen besuchen die Schule. Bei der Grundschule sind es noch 90 Prozent, in den weiterführenden Klassen 70,2 Prozent und in der Oberstufe nur noch 32,8 Prozent. Nach einer Studie vom Welternährungsprogramm sind 190.000 registrierte syrische Kinder in der Türkei von Kinderarbeit betroffen. Auch dies widerspricht der Auffassung der EU und der Bundesregierung, bei der Türkei handle es sich um einen sicheren Drittstaat.