Cemil Bayik hat sich als Ko-Vorsitzender des Exekutivratsrat der KCK (Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans) am Montag in einer Sondersendung bei Stêrk TV zu aktuellen Themen geäußert. Wir veröffentlichen einen zweiten Ausschnitt des ausführlichen Interviews, in dem es um die Situation der Kurd:innen in der Türkei, die Auswirkungen des Kriegs in der Ukraine auf Kurdistan, die türkische Erpressung von Schweden und Finnland, die Notwendigkeit einer demokratischen Lösung in Şengal und die zerstörerische Syrien-Politik der Türkei geht.
Massiver Druck auf die HDP in der Türkei
In Nordkurdistan werden Menschen inhaftiert und ermordet. Sogar Leichen werden angegriffen. Gefangene, die ihre Strafe verbüßt haben, werden nicht entlassen, sondern erhalten neue Strafen. Alles, was kurdisch ist, wird verboten. Die kurdische Sprache wird verboten. Kurdische Konzerte in Mûş, Bedlîs und weiteren Städten in der Türkei wurden kürzlich verboten. Der türkische Staat sagt also ganz klar: „Du darfst nicht auf Kurdisch singen, nicht auf Kurdisch Theater spielen, nicht auf Kurdisch unterrichtet werden und keinen einzigen Schritt auf Kurdisch machen. Ihr müsst eure kurdische Sprache und Identität aufgeben. Ihr müsst türkisch werden und für die Türken arbeiten. Nur dann werdet ihr leben können."
Wer kämpft weiterhin demokratisch gegen all diese Angriffe? Die HDP. Die HDP stellt sich weder auf die Seite der Regierung noch auf die der Opposition. Denn die Politik der Opposition dient nur den Interessen der Regierung und dem kurdischen Völkermord. Die Opposition verfolgt keine andere Politik. Aber die HDP verfolgt die „Politik des Dritten Weges". Die HDP akzeptiert die Politik der AKP-MHP nicht. Deshalb wird sie auch so stark unter Druck gesetzt. HDP-Mitglieder werden inhaftiert, der Versuch, die HDP zu verbieten, geht weiter, die lokalen HDP-Verwaltungen werden gewaltsam unter die Kontrolle der AKP-MHP gebracht, HDP-Zentralen werden beschossen und einige Leute werden vor das HDP-Zentrum gestellt, um die HDP-Abgeordneten zu beleidigen. Es wird eine Politik der Lynchjustiz gegen die HDP betrieben. So wollen sie die HDP ihrer Möglichkeiten berauben, als legale Partei zu arbeiten. Vor kurzem haben sie eine HDP-Konferenz [in Amed/Diyarbakir] verboten. Als Reaktion darauf hat die HDP ihre Konferenz einfach auf die Straße verlegt. Das war absolut richtig. Die HDP muss diese Haltung beibehalten. Die AKP/MHP-Regierung steht am Rande des Zusammenbruchs. Deshalb führt sie diese brutalen Angriffe gegen die HDP durch.
Auswirkungen des Krieges in der Ukraine auf Kurdistan
Die Ukraine hat durch den Krieg mit Russland große Schäden erlitten. Auch Russland war nicht in der Lage, seine Ziele zu erreichen. Die Kräfte der kapitalistischen Moderne hatten gedacht, dass sie im Krieg zwischen der Ukraine und Russland schnelle Ergebnisse erzielen könnten. Aber das ist ihnen nicht gelungen. Der Krieg dauert immer noch an und wird weitergehen. Diese Situation hat die kapitalistische Moderne in eine sehr kritische Lage gebracht. Dadurch sind sie noch abhängiger von der Türkei geworden. Die Türkei versucht, davon zu profitieren. Sie will ihre Beziehungen zu Russland und der Ukraine, aber auch - und das ist noch wichtiger - zur NATO fortsetzen. Denn die Türkei hat einmal mehr erkannt, dass sie mit dieser Art von Politik die gewünschten Ergebnisse erzielen kann. Die NATO wollte im Krieg zwischen Russland und der Ukraine schnelle Ergebnisse erzielen, befindet sich jetzt aber in einer sehr schlechten Situation. Die Türkei pflegt ihre Beziehungen zu Russland und ist gleichzeitig Mitglied der NATO. Deshalb sind ihre Beziehungen zur Türkei noch enger geworden. Über die Türkei wollen sie Gas und Öl aus dem Nahen Osten nach Europa transportieren. Die Türkei hat das erkannt und versucht nun, diese Kräfte für ihren Versuch, die PKK zu vernichten, zu nutzen.
Aus diesem Grund verschließt die NATO die Augen vor dem, was der türkische Staat tut. Folglich bezieht die NATO keine Stellung gegen den Einsatz von Chemiewaffen durch die Türkei oder gegen ihre Besatzung. Die NATO tut so, als ob die Türkei nichts getan hätte. Als Russland begann, die Ukraine anzugreifen, haben alle dagegen protestiert. Aber wenn der türkische Staat Südkurdistan und Rojava besetzt, chemische Waffen einsetzt, Menschen ermordet und die Natur dort zerstört, sagt niemand ein Wort. Denn diese Kräfte teilen bestimmte Interessen mit der Türkei und wollen die Türkei für ihre Ziele nutzen. Die Türkei selbst sieht das als Chance. Sie weiß, dass Russland die Beziehungen zu ihr braucht, und versucht deshalb, sich die Unterstützung Russlands zu sichern. Sie hofft, so ihre völkermörderische Politik gegen das kurdische Volk und die PKK erfolgreich fortsetzen zu können.
Europa und die NATO haben der Türkei und der PDK nun bestimmte Aufgaben gestellt. Die PDK und die Türkei wollen Gas und Öl aus dem Nahen Osten durch ihre Gebiete nach Europa transportieren. Europa kümmert sich nur um seine eigenen Interessen. Mit Ethik, Gewissen, Menschenrechten, Demokratie und Freiheit haben sie nichts zu tun. Für Europa zählen nur die eigenen materiellen Interessen. Um Öl zu bekommen, werden die Augen verschlossen vor allem, was der türkische Staat tut. Europa unterstützt die Türkei sogar. Gegenwärtig wird die Propaganda verbreitet, die PKK lasse nicht zu, dass Gas und Öl nach Europa gelangen, und sie würden die PKK angreifen, um dieses Hindernis aus dem Weg zu räumen. Die PKK hat nie den Transport von Gas und Öl behindert und verfolgt keine derartige Politik. Es wird versucht, einen solchen Vorwand zu erfinden, um den Vernichtungskrieg gegen die PKK und das kurdische Volk zu vertuschen. Niemand soll gegen diesen Krieg protestieren. Mit dieser Ausrede will die Türkei sowohl Südkurdistan besetzen als auch ihr neo-osmanisches Ziel erreichen, die Grenzen der Mîsak-î Mîlî. Für diese Politik sollen die Kurdinnen und Kurden geopfert werden.
Erpressung von Schweden und Finnland durch die Türkei
Schweden und Finnland haben kürzlich beschlossen, der NATO beizutreten. Nach den Regeln der NATO ist die Zustimmung aller NATO-Staaten für den Beitritt neuer Mitglieder erforderlich. Nur die Türkei akzeptiert die NATO-Mitgliedschaft Schwedens und Finnlands nicht und nutzt dies, um sie zu erpressen. Sie benutzt die PKK und die Kurden für ihre Erpressung. Die Türkei verlangt von Finnland und Schweden, dass sie sich gegen die PKK stellen, ihnen helfen, die PKK zu zerstören und die völkermörderische Politik gegen das kurdische Volk unterstützen. Einige NATO-Mitgliedsstaaten, die den Krieg gegen die PKK und das kurdische Volk unterstützen, haben kürzlich erklärt, dass sie „die Forderungen des türkischen Staates berücksichtigen werden". Damit sagen sie im Grunde, dass die Forderungen der Türkei akzeptiert werden müssen.
Einige NATO-Mitglieder haben sofort gesagt, dass sie die Forderungen der Türkei akzeptieren. Das bedeutet, dass sie die Vernichtung der PKK und den Völkermord an den Kurden akzeptieren und damit die Forderungen des türkischen Staates erfüllen. Das ist sehr gefährlich. Ich möchte sie warnen. Sie sollten keine feindliche Politik gegenüber den Kurden und der PKK betreiben. Sie sollten den türkischen Staat nicht unterstützen. Sie dürfen den Erpressungen des türkischen Staates nicht nachgeben und die Forderungen der Türkei nicht akzeptieren. Wenn sie diese Forderungen akzeptieren, werden sie großen Schaden erleiden. Die Kurdinnen und Kurden sind nicht mehr die, die sie einmal waren, aber sie verstehen diese Spiele sehr gut. Niemand kann mehr Politik auf dem Rücken des kurdischen Volkes machen und so seine eigenen Interessen sichern und die Kurden opfern. Das werden die Kurdinnen und Kurden nicht akzeptieren. Sie haben eine klare Entscheidung für die Freiheit getroffen. Sie haben sich entweder für ein Leben in Freiheit oder für ein Leben ohne Freiheit entschieden. Es ist wichtig, dass alle dies erkennen und nicht auf diesen Fehler hereinfallen.
Notwendigkeit einer demokratischen Lösung in Şengal
Nach dem Beginn der türkischen Angriffe auf Zap griff der Irak Şengal an. Diese Angriffe standen eindeutig im Zusammenhang mit den Angriffen auf Zap. Der Tag der Angriffe war ein sehr wichtiger ezidischer Feiertag, Çarşema Sor. Der Irak hat diese Angriffe nicht aus eigenem Willen durchgeführt, sondern tat, was bestimmte andere Kräfte von ihm verlangten. Es liegt absolut nicht im Interesse des Irak, einen solchen Angriff auszuführen. Im Gegenteil, der Irak hat durch diese Angriffe sogar selbst Schaden genommen. Das zeigt, dass die USA den Irak dazu gebracht haben, diesen Angriff auszuführen. Und wer hat die USA dazu gebracht? Die PDK und der türkische Staat. Seit 2016 verfolgen die USA, die Türkei und die PDK gemeinsam eine solche Politik.
Wenn der Irak die ezidische Gemeinschaft angreift, wird dies mit den Angriffen des Islamischen Staates [IS] gleichgesetzt. Das schadet dem Irak mehr, als es ihm nützt. Die Ezidinnen und Eziden fordern nicht, sich vom Irak zu trennen. Sie bezeichnen sich nicht als Feinde des Landes oder fordern ihren eigenen Staat. Alles, was sie sagen, ist: „Wir wollen im Irak auf der Grundlage unserer eigenen Identität, Religion und Werte leben. Bis jetzt haben wir viele Völkermorde erlitten und niemand hat uns beschützt. Deshalb wollen wir in der Lage sein, uns selbst zu schützen. Der Irak muss dies akzeptieren." Diese Forderungen sind weder groß noch schwer zu akzeptieren. Sie zu akzeptieren, würde dem Irak international nur nützen.
Einige Menschen [in Şengal] wollten sich vor dem Krieg schützen und haben versucht, Şengal zu verlassen. Die PDK setzte daraufhin ihre eigenen Leute und ihren Geheimdienst ein, um diese Menschen aus Şengal in von der PDK kontrollierte Gebiete zu führen. Auf diese Weise versuchten sie, Şengal zu entvölkern und den Eindruck zu erwecken, dass nur die PDK Şengal stabilisieren könne. Die PDK versuchte also, Şengal zu besetzen. Doch der Irak hat dies erkannt und daraufhin seine Angriffe eingestellt. Deshalb will der Irak nun die bestehenden Probleme nicht durch Krieg, sondern durch Dialog lösen. Das ist genau das, was die Eziden gefordert haben. Ich glaube, dass die Verhandlungen noch im Gange sind. Wir hoffen, dass diese Gespräche zu positiven Ergebnissen führen werden. Sowohl die Empfindlichkeiten des Irak als auch die des ezidischen Volkes müssen berücksichtigt werden. Auf dieser Grundlage müssen sie eine gemeinsame Basis finden.
Die zerstörerische Syrien-Politik der Türkei
Erdogan wollte Damaskus zu Fall bringen und die Muslimbruderschaft dort an die Macht bringen. So wollte er Syrien unter die Kontrolle der Türkei bringen. Als er merkte, dass ihm das nicht gelingen würde, öffnete Erdogan die Türen der Türkei für die Menschen in Syrien. So kamen Millionen von Menschen mit Hilfe des MIT in die Türkei. Dann sagte [die Türkei], sie würde Millionen von Menschen nach Europa schicken. Europa bekam daraufhin große Angst und akzeptierte Erdogans Forderungen aus eigenem Interesse. Europa hat Milliarden von Euro [an die Türkei] gegeben und ihre völkermörderische Politik absichtlich ignoriert. Syrische Fabriken wurden in die Türkei gebracht. Die Menschen aus Syrien sind zu billigen Arbeitskräften in der Türkei geworden. So hat die Türkei wirtschaftlich sehr von ihnen profitiert. Darüber hinaus hat die Türkei die Überbleibsel islamistischer Stellvertreterkräfte wie des IS in eine Armee verwandelt und sie in Libyen, Aserbaidschan und anderswo eingesetzt. Sie schickt diese islamistischen Stellvertreterkräfte dorthin, wo sie sie braucht.
Heute sagt Erdogan den arabischen Staaten, dass das syrische Volk in der Türkei leidet, dass sie es deshalb in die arabischen Staaten schicken wollen und dass sie dafür Hilfe von diesen Staaten brauchen. Und die arabischen Staaten leisten diese Hilfe. Was die Türkei damit eigentlich erreichen will, ist, dass sie ihre islamistischen Stellvertreter und deren Familien in Nord- und Ostsyrien ansiedelt. Sie will also einen demografischen Wandel vollziehen. Die Türkei zwingt die Kurdinnen und Kurden, ihre Heimat zu verlassen, und ersetzt sie durch islamistische Stellvertreterkräfte. Auf diese Weise soll die Verbindung zwischen Nordkurdistan und Rojava gekappt werden.
Der türkische Staat will alle Gebiete, die er besetzt hat, annektieren. Jetzt will er Efrîn, Bab, Cerablus, Serêkaniyê und Girê Spî annektieren, so wie er es mit [der Provinz] Hatay getan hat. In diesen Gebieten hat der türkische Staat das gleiche System wie in Riha [Urfa] und Dîlok [Antep] eingeführt. In diesen besetzten Städten wird auf Türkisch unterrichtet, die Schulen sind auf Türkisch, türkische Fahnen wurden aufgehängt, die Polizei und die Banken sind türkisch. Sie haben dort alles türkisch gemacht. Erdogan stellt das als humanistische Bemühungen dar. Aber in Wirklichkeit tut er das alles gegen die Menschlichkeit und die Völker. Er wird die islamistischen Stellvertreterkräfte, die er organisiert hat, dort ansiedeln und so die Menschen in diesen Gebieten zur Kapitulation zwingen. Und er wird alle, die sich weigern zu kapitulieren, zwingen zu gehen. Und dann wird er ein ,Referendum` fordern. So wird er diese Gebiete zu einem Teil der Türkei machen. Das stellt eine große Gefahr dar.