Am 27. November feiert die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) ihr 43-jähriges Bestehen. Der Ko-Vorsitzende der Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK), Cemil Bayık, war von der ersten Stunde an mit dabei. In einer Interviewreihe anlässlich des Gründungsjubiläums blickt er zurück auf die Entstehung der PKK-Gründungsgruppe von Studierenden um Abdullah Öcalan – die „Apoisten“ – die sich nach ersten ideologischen und politischen Aktivitäten in Ankara in ganz Kurdistan ausbreiteten, um ihre Ideen vorzustellen und sich in die Gesellschaft einzubringen – und schildert die Entwicklungen hin zu einer Befreiungsbewegung, die heute nicht nur in Kurdistan als Hoffnungsschimmer empfunden wird.
Die PKK blickt auf 43 Jahre zurück, in denen jeder Moment im Kampf verbracht worden ist. Wenn Sie die Zeit der Entstehung und heute miteinander vergleichen; unter welchen Bedingungen und mit welcher Mission ist die PKK Anfang der 1970er Jahre entstanden, was für einen Charakter hatte sie damals und welche Rolle spielt sie unter den heutigen Voraussetzungen? Was hat sich verändert und welche Merkmale sind konstant geblieben?
Die 70er Jahre waren jene, in denen sich überall auf der Welt revolutionäre Kräfte und nationale Befreiungsbewegungen entfalteten. Als Emanzipationsweg wählten die Gemeinschaften und unterdrückten Völker den Sozialismus. Die Kurdinnen und Kurden hingegen sind ein Volk mit einer Anzahl von Dutzenden von Millionen, dessen Existenz verleugnet wird. Am konsequentesten ist diese Verleugnung in Bakurê Kurdistanê – der Teil, den wir früher als Mittlerer Nordwesten bezeichneten. Rêber Apo (gemeint ist Abdullah Öcalan, Anm. d. Red.) hat diese Realität in den frühen Siebzigern erkannt und sagte, dass dieses Land und das Volk unbedingt befreit werden müssten. Er glaubte, dass die Befreiung mit der Ideologie des Sozialismus, der aufsteigende Stern der damaligen Zeit, kommen würde.
Die Realität des Feindes und die Realität Kurdistans
Unter dem genozidalen Kolonialismus rangen die Kurdinnen und Kurden in allen vier Teilen ihrer Heimat gegen Unterdrückung und Verfolgung. In Bakur dagegen waren sie festgenagelt auf dem Totenbett. Kurdin oder Kurde zu sein galt als das größte unter den Verbrechen. Die kurdische Identität erschien als Tor in den Tod, während das Türkischsein als Weg zum Leben veranschaulicht wurde. Kurd:innen existierten, waren aber auf ein Volk reduziert worden, dessen Zukunft von der Türkisierung bestimmt wurde. Als in Rêber Apo die Idee heranreifte, dass ein kurdischer Befreiungskampf geführt werden muss, formulierte er die These: „Kurdistan ist eine Kolonie.“ Die koloniale Herrschaftspraxis des türkischen Staates zeichnete sich seiner Meinung nach durch das Bestreben aus, Kurdistan in das Ausdehnungsgebiet für die eigene ethnische Nation zu formen. Ob beim Thema Gesellschaft, hinsichtlich Wirtschaft, Bildung, Kunst und Kultur, dem politischen Leben, Sicherheit, Justiz, Diplomatie oder Sport; die Politik und Praxis des türkischen Staates ist heute wie damals in jedem Bereich auf die Türkisierung der Kurd:innen ausgerichtet. Für dieses Ziel wurden Verfassung, die nationale Strategie und alle Institutionen in eine entsprechende Form gebracht. Kurdinnen und Kurden waren und sind im Würgegriff der Gewalt, Unterdrückung und dem kulturellen Genozid. Damals formulierten wir es nicht wie heute als einen genozidalen Kolonialismus, aber dem kurdischen Volk wurde eine völkermörderische Politik auferlegt, die es nirgendwo sonst auf der Welt gab. Der wesentlichste Unterschied zwischen Rêber Apo, den Apoisten und der PKK gegenüber anderen [kurdischen Gruppen] war die Tatsache, dass sie diese Realität bis auf die Knochen spürten. Es war diese feindliche Realität und die von ihr geschaffene Realität Kurdistans, die Rêber Apo auf die Bühne der Geschichte treten ließ.
Europa und USA sind Komplizen der praktizierten Völkermordpolitik
Während also der türkische Staat jegliche Arten von Unterdrückung und Grausamkeit praktizierte, um die Kurdinnen und Kurden samt ihrer Identität, Sprache und Kultur zu vernichten und Kurdistan als Ausdehnungsgebiet für die türkische Nation zu betrachten, schwieg die Welt zu diesem Völkermord. Mit ihrer Position als NATO-Mitglied konnte die Türkei ihre Politik der Ausrottung der kurdischen Existenz offen und rücksichtslos umsetzen. Aufgrund ihrer Rolle als Bollwerk gegen eine befürchtete Expansion der Sowjetunion nach Süden ignorierten die NATO-Staaten die Verbrechen der Türkei. Im Grunde sind Europa und die USA Komplizen dieser seit 100 Jahren praktizierten Völkermordpolitik.
Cemil Bayık 1991 in der Bekaa-Ebene im Libanon
Ein Vorstoß, an den niemand glaubte
Als die kurdische Gesellschaft im Klammergriff des genozidalen Kolonialismus langsam aber sicher ihrer Auslöschung entgegensteuerte, waren die bereits bestehenden Organisationen nicht in der Lage, den Charakter des türkischen Staates richtig zu analysieren und das Ausmaß der tatsächlichen Bedrohung für die Kurdinnen und Kurden zu erkennen. Somit waren sie außer Stande, eine ideologisch-politische Haltung zu entwickeln, die dem Kolonialismus in Kurdistan auf der Grundlage von Organisierung und Widerstand etwas entgegensetzen konnte. Innerhalb der Bevölkerung herrschte zudem das Vorurteil, dass der Kolonialismus durch Kampf nicht zu bezwingen sei. In dieser in jeder Hinsicht entmutigenden Atmosphäre gab es kaum Faktoren, die den Kampf fördern und den Glauben hätten stärken können. In einer solchen Umgebung gelang Rêber Apo ein Durchbruch, an den niemand gedacht oder geglaubt hatte. Er sagte, dass es auch unter den schwierigsten Bedingungen möglich sei eine Organisation zu gründen, die kämpfen und den Kolonialismus bezwingen könnte. Seine ersten Schritte unternahm er nach dem Verständnis, das Unmögliche nicht zu beklagen, sondern als Grund für Widerstand zu erfassen. Er brachte die Apoisten auf eine Weise hervor, als würde er mit einer Nadel einen Brunnen graben.
Ablehnung und Akzeptanz
Als erstes versuchte Rêber Apo, einen tiefgreifenden Wandel in der Mentalität zu bewirken. Er sagte, der Status quo sei nicht zu akzeptieren und müsse geändert werden. Er sah es als Verrat am Kurdentum an, die gegenwärtige Realität in Kurdistan anzunehmen oder sie als normal zu betrachten. Damit diese Situation nicht hingenommen würde, formulierte er die Bewertung „Es ist kein einziger Kurde geblieben, der sich nicht hat verraten lassen“. An diesem Punkt galt es, gegenüber dem doch sehr deutlichen Ausmaß der Ablehnung [für den Kampf] einen hohen Grad der Akzeptanz zu etablieren. Genau deshalb haben sowohl die Apoisten als auch die PKK ihre Kriterien für das Leben, die Organisierung und den Widerstand auf absolut höchstem Niveau gehalten. Die Gruppe demonstrierte damals ihre Andersartigkeit, indem sie an das glaubte, was keine andere Organisation und keine andere politische Kraft für möglich hielt. Die Apoisten glaubten an das, was sie sagten und lebten danach. Auf diese Weise organisierten sie sich hin zu einer kämpfenden Gruppe und erreichten binnen kürzester Zeit Entwicklungen, die niemand für möglich hielt. Weder der Staat hatte damit gerechnet, noch die anderen kurdischen Gruppen oder anderweitige Kreise.
Von Anfang an an Eigenkraft geglaubt
Als wir zu jener Zeit auf der Bühne der Geschichte auftauchten, war der Kalte Krieg noch im Gange. Wir schöpften Kraft aus der Existenz des Sozialismus und der Entwicklung nationaler Befreiungsbewegungen. Alle anderen Faktoren waren gegen uns. Wir hatten keine Beziehungen zu den sozialistischen Ländern von damals; den Sowjetstaaten, China oder Albanien. Ohnehin war die Mehrheit der mit ihnen verbundenen Kräfte aus dem linken Lager gegen uns. Wir wurden von diesen Ländern nicht gestärkt, daher waren wir nicht betroffen vom Zerfall ihres sozialistischen Systems. Wir haben uns von Anfang an auf unsere eigene Stärke verlassen. Das betonten wir in jedem dritten oder vierten Satz, den wir äußerten. Auf der Weltbühne erschienen wir als eine Bewegung, die ausschließlich auf ihre eigene Ideologie, ihren Glauben und ihre organisierte Kraft setzte. Zur damaligen Zeit gab es sechs oder vielleicht sieben kurdische Organisationen. Sie verhielten sich beinahe wie die Besitzer Kurdistans und gaben der Entwicklung einer Bewegung wie der unseren keine Chance. Denn bei nahezu allen Mitgliedern unserer Gruppe handelte es sich um Arbeiter, Bauern und Arme. Die anderen Organisationen vereinten Aghas, Beys, Stammesführer und die Kinder von reichen Familien unter ihrem Dach. Der Unterschied zwischen ihnen und uns zeigte sich sehr deutlich.
Der Putsch und die Auflösung anderer Gruppen
Die 70er Jahre in der Türkei waren geprägt von einer wichtigen Organisierung linker Strukturen, für Kurdistan galt dies ebenso – die PKK stach besonders hervor. Da diese Situation die Türkei als wichtiges NATO-Mitglied schwächte, wurden die NATO und die herrschenden kurdischen Klassen von Elementen der Unruhe und Angst durchzogen. Um Veränderungen zuvorzukommen und die kurdische Befreiungsbewegung und linke Kräfte zu liquidieren, führte das türkische Militär am 12. September 1980 einen Putsch durch. Dieser faschistische Putsch führte dazu, dass im Hinblick auf den schwierigen Freiheitskampf des kurdischen Volkes einiges verdeutlicht wurde: Andere kurdische Bewegungen, die sich nicht gemäß den Schwierigkeiten der Kurdistan-Revolution organisierten und ihre Kaderhaltung entsprechend gestalteten, konnten der repressiven Atmosphäre nicht standhalten und brachen auseinander.
Das Beharren auf den Sozialismus ist das Beharren auf das Menschsein
Die Zeit nach den 1980er Jahren ist auch die Phase des Zusammenbruchs der sozialistischen Regime in der Sowjetunion und in den Ostblockstaaten wie Albanien oder China. China hatte sich bereits dem Staatskapitalismus zugewandt, daher gab es in diese Richtung keine Annäherungen. Auch Länder, die zuvor nationale Befreiungskämpfe führten, schwenkten bald in die Umlaufbahn des Systems der kapitalistischen Moderne ein. Zahlreiche linke Kräfte rückten ideologisch nach rechts und entwickelten sich zu Parteien des Systems. In dieser Phase, in der sozialistische und nationale Befreiungsbewegungen ihrem Niedergang entgegen gingen, wurde die PKK aus organisatorischer, politischer und militärischer Sicht eine noch effizientere und kämpfende Kraft. Die aus der eigenen Stärke hervorgetretene Führung der PKK [Abdullah Öcalan] zeigte gegenüber diesen Entwicklungen ihre Haltung gemäß dem Prinzip: „Das Beharren auf den Sozialismus ist das Beharren auf das Menschsein.“ Das Denken von Rêber Apo war nie dogmatisch, er kritisierte die Fehler des Realsozialismus schon vor dessen Zusammenbruch und sah das Scheitern hauptsächlich in inneren Faktoren begründet. Seine ideologische und politische Kritik hielt die PKK damals nicht nur angesichts antisozialistischer Tendenzen auf den Beinen, sondern ermöglichte ihr auch ihre Entwicklung.
Das Leitprinzip lautet Selbstvertrauen
Neben den Veränderungen vieler äußerer Faktoren zwischen der Phase der Gruppenbildung ab 1973 und heute hat es zweifellos auch bei der PKK wichtige Umbrüche gegeben. Schon ihre Entwicklung und Stärkung hat für die PKK neue Situationen aufgezeigt, die neue Probleme mit sich brachten. Sehr wichtig sind jedoch die Faktoren, die gleichgeblieben sind und den organisatorischen Zusammenhalt aufrecht hielten.
Die grundlegendste Identität der PKK besteht darin, sich von Anfang an vom System und jeglichen reaktionären Tendenzen zu lösen. Sie hat mit dem System, das die Menschheit und das kurdische Volk unter das Joch der Unterdrückung, Repression, Ausbeutung und Genozid zwang, gebrochen. Sie hat alle rückständigen Beziehungen hinter sich gelassen und Brücken abgebrochen, um sich voll und ganz dem Ziel zu widmen, dem kurdischen Volk ein freies und demokratisches Leben zu ermöglichen.
Die PKK hat sich auf keine andere Kraft außer ihrer Eigenstärke verlassen. Das Leitprinzip lautet Selbstvertrauen. Sackgassen und Schwierigkeiten sind niemals Grund für Einwände. Sie glaubte stets daran, dass die Revolution von Kurdistan immer wieder mit Schwierigkeiten konfrontiert werden würde und betrachtete jedes Hindernis, auf das sie stieß, als Grund für den Kampf und dazu, den Widerstand noch stärker zu führen.
Die PKK sah die Bewegung selbst und die freundschaftlichen Beziehungen als die grundlegendste Quelle der Kraft an. Solange diese existieren, kann der Kampf mit keinem Angriff gebrochen werden. Alle Schwierigkeiten werden überwunden. Die Militanten der PKK sind zu freien Geistern geworden, die bis heute jeglichem Angriff standhalten und sich weder Unterdrückung noch Verfolgung beugen. Es sind diese wesentlichen und unveränderlichen Aspekte der PKK, die sie zusammen mit ihren Veränderungen stets gestützt haben und zu einer Kraft entwickelten, die heute nicht nur Hoffnung der Kurdinnen und Kurden ist, sondern aller Völker im Mittleren Osten.
Nächster Teil: Aufbruch in Kurdistan, der Weg zur Partei, Gefängnis-Widerstand, Offensive vom 15. August, Kongra-Gel und KCK, Wiederaufbauprozess der PKK, Entwicklung zur Strategie des revolutionären Volkskrieges, das Modell der demokratischen Nation und das Paradigma der demokratischen Moderne.