Aufarbeitungsweltmeister

Über die Verbrechen der Nazis, die Vernichtung der Juden und die Gräueltaten der Wehrmacht wurde in den 50er Jahren kaum geredet. Es wurde der Eindruck erweckt, die Nazis seien Außerirdische gewesen.

Im Ausland gilt der Umgang der Deutschen mit den Verbrechen des Nazi-Faschismus vielfach als beispielhaft. Tatsächlich war der Weg dahin keineswegs gradlinig und die heute daraus gezogenen Schlussfolgerungen lassen die „Aufarbeitung“ durchaus in einem kritischen Licht erscheinen. So stoppte die Entnazifizierung von Staat und Gesellschaft in den westlichen Besatzungszonen, aus denen 1949 die Bundesrepublik gegründet wurde, im Zuge des Kalten Krieges schon Ende der 1940er Jahre wieder. Stattdessen wurden Polizei und Justiz, Bundeswehr und Geheimdienste von früheren Nazis, Wehrmachtsgenerälen, Gestapo- und SS-Männern aufgebaut. Deren praktische Erfahrung im Kampf gegen den Kommunismus war den Regierenden in Bonn wichtiger als das Blut an ihren Händen. So wurden die braunen Seilschaften durch die Regierung von Bundeskanzler Konrad Adenauer (CDU) protegiert. Deren Kanzleramtschef Hans Globke hatte 1936 einen juristischen Kommentar zu den Nürnberger Rassegesetzen als Grundlage der Entrechtung der Juden verfasst.

Mit US-Dollars kräftig angeschobenes „Wirtschaftswunder“

Über die Verbrechen der Nazis, die Vernichtung der Juden und die Gräueltaten der Wehrmacht wurde in den 50er Jahren kaum geredet. Es wurde der Eindruck erweckt, die Nazis seien Außerirdische gewesen, die sich für zwölf Jahre des deutschen Volkes bemächtigt hätten und dann wieder verschwunden seien. In dem mit US-Dollars kräftig angeschobenen „Wirtschaftswunder“ sahen viele Bundesbürger eine Absolution, um nicht mehr mit der Erinnerung an die Verbrechen der Vergangenheit behelligt zu werden. Schon 1958 kritisierte der Philosoph Theodor W. Adorno daher, dass „Aufarbeitung“ zum Schlagwort derjenigen verkommen sei, die damit eigentlich „Schlussstrich“ meinten. Doch Vergeben und Vergessen dürften nur diejenigen einfordern, die Unrecht erlitten hätten.

NS-Prozesse in 60ern bringen Wandel

Einen langsamen Wandel im öffentlichen Bewusstsein bezüglich der Massenvernichtung der Juden unter dem Nazi-Faschismus brachten die 60er Jahre mit dem Prozess gegen den ehemaligen SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann in Jerusalem und dem Frankfurter Ausschwitzprozess. Es waren dann die revoltierenden Studenten der 68er-Bewegung, die offen die faschistischen personellen Kontinuitäten in Staat und Gesellschaft anprangerten und den Mantel des Schweigens über den Verbrechen ihrer Elterngeneration wegrissen. Doch es sollte bis 40 Jahre nach Kriegsende dauern, ehe mit Richard von Weizsäcker (CDU) 1985 ein Bundespräsident den 8. Mai 1945 nicht mehr als Tag der Kapitulation sondern als „Tag der Befreiung“ bezeichnete.

Nun, da die gewendeten Nazis in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft meist in Rente oder verstorben waren, konnte die Bundesrepublik zum regelrechten „Erinnerungsweltmeister“ werden. Die Ausgestaltung von KZ-Gedenkstätten und breiterer Raum für die Geschichte des Nationalsozialismus (der Begriff Faschismus gilt in der Bundesrepublik als marxistisch belastet) in den Lehrplänen der Schulen konnten allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass es noch bis ins nächste Jahrtausend dauern sollte, bis die wenigen noch lebenden von den Nazis verschleppten Zwangsarbeiter zumindest geringe materielle Entschädigungen erhielten.

Unter Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) gab es in den 80er und 90er Jahren zudem das Bemühen, auch die Deutschen mit Blick auf den alliierten Bombenkrieg und der Vertreibung aus Osteuropa als Opfer erschienen zu lassen. Die nach der Annexion der DDR in Berlin als zentrale Gedenkstätte gestaltete „Neue Wache“ wurde entsprechend allen „Opfern von Krieg und Gewaltherrschaft“ gewidmet.

Entwicklungen in der DDR

Ganz anders hatte sich die Situation nach dem Weltkrieg in der sowjetischen Besatzungszone und später der DDR entwickelt. Dort wurde Antifaschismus zur Staatsräson erklärt und Kommunisten, die aus dem Widerstand, den Zuchthäusern oder dem Exil kamen, übernahmen die Regierungsgeschäfte. Während der Staat anders als im Westen weitgehend entnazifiziert wurde und führende Nazis vor Gericht kamen, bestand für die zahlreichen früheren Mitläufer des Faschismus das Angebot, sich fortan beim Aufbau eines „neuen Deutschland“ auf sozialistischer Grundlage zu engagieren. Denn entscheidender als die moralische Aufarbeitung der individuellen Schuld erschien den von der marxistischen Analyse geleiteten Kommunisten die dauerhafte Beseitigung der gesellschaftlichen und ökonomischen Grundlagen, die den Faschismus hervorgebracht hatten. Mit der Bodenreform wurde 1945/46 die Junkerklasse (adelige Großgrundbesitzer) als besondere Stütze von Militarismus und Reaktion entmachtet. Zudem wurden ausgehend von der Erkenntnis, dass der Faschismus letztlich im Kapitalismus wurzelte und führende Kapitalisten den Aufbau der Nazibewegung und deren Machtübernahme erst ermöglicht hatten, die Fabrikherren enteignet und der Aufbau des Sozialismus beschlossen.

Die „zwei deutschen Diktaturen“

Nach dem Zusammenbruch des Staatssozialismus 1989 stand für die Regierenden der Bundesrepublik die vom damaligen Außenminister Klaus Kinkel angeordnete „Delegitimierung der DDR“ im Vordergrund. Durch die Rede von den „zwei deutschen Diktaturen“ wurde die nun als „Unrechtsstaat“ titulierte DDR im Sinne der unwissenschaftlichen Totalitarismustheorie mit dem Naziregime gleichgesetzt. Diese Gleichsetzung in der offiziellen Erinnerungs- und Aufarbeitungspolitik dient der damit bezweckten Dämonisierung des Sozialismus und trägt zugleich zur Verharmlosung des NS-Regimes und seiner ungeheuren Verbrechen bei. Denn die DDR war zweifellos nicht fehlerfrei und es hatte dort auch Verbrechen im Namen des Sozialismus gegeben. Doch hatte das sozialistische Deutschland als einziger deutscher Staat niemals Krieg geführt.

Reparationszahlungen weniger an Überlebende als an den Staat

Zu beobachten ist bezüglich des Umgangs mit den NS-Verbrechen eine Zentrierung auf die Vernichtung von sechs Millionen europäischen Juden. Reparationszahlungen, die die Bundesrepublik seit 1952 leistete, gingen weniger an einzelne Holocaustüberlebende als an den Staat Israel. Der ließ sich die Reparationen insbesondere in Waffenlieferungen auszahlen und konnte so zum hochgerüsteten Ordnungshüter des Westens im Mittleren Osten werden. Die mit den Rüstungslieferungen für die BRD verbundene moralische Rehabilitation kurbelte zugleich die Exportindustrie an und trug so zum westdeutschen „Wirtschaftswunder“ bei. Wenn Bundeskanzlerin Angela Merkel heute im Einklang mit allen Bundestagsparteien die Verteidigung des Existenzrechts Israels als Lehre aus der deutschen Geschichte und Teil der deutschen Staatsräson bezeichnet, ist damit in der Praxis die bedingungslose Unterstützung für die israelische Apartheids- und Kolonialpolitik gegenüber den Palästinensern gemeint.

Andere Opfergruppen im Abseits der öffentlichen Wahrnehmung

Gegenüber dem Menschheitsverbrechen der Shoa rücken andere Opfergruppen wie hunderttausende auf ebenso systematische Weise wie die Juden ausgerotteten Sinti und Roma in der öffentlichen Wahrnehmung ins Abseits. Während heute Russland wieder als Feindbild aufgebaut wird und die Regierungskoalition eine Gedenkstunde im Bundestag anlässlich des 80. Jahrestages des deutsche Überfalls auf die Sowjetunion verweigert, ist wenigen Deutschen bewusst, dass drei Millionen sowjetischer Kriegsgefangener in deutschen Lagern und eine Millionen Zivilisten in Leningrad infolge der Blockade der Stadt durch die Naziarmee starben.

Rechten Nationalisten, wie dem AfD-Fraktionschef Alexander Gauland, der das NS-Regime als „Vogelschiss in unserer 1000-jährigen Geschichte“ bezeichnet, erscheint das Bekenntnis zur historischen Verantwortung als Hemmnis für eine größere deutsche Rolle in der Weltpolitik. Gefordert wird von dieser Seite ein „Schlussstrich“ unter den „Schuldkult“. Demgegenüber haben linksliberale Politiker längst erkannt, dass sich gerade als „Aufarbeitungsweltmeister“ trefflich deutsch-imperialistische Politik betreiben und auch noch mit der Moralkeule gegenüber anderen Ländern legitimieren lässt. So begründete der grüne Außenminister Joschka Fischer bereits im Jahr 1999 die Zustimmung seiner einstmals pazifistischen Partei zur Beteiligung der Bundeswehr am völkerrechtswidrigen NATO-Angriffskrieg auf Jugoslawien mit den Worten „Nie wieder Ausschwitz“.


Dr. Nikolaus „Nick“ Brauns ist Autor, Historiker und Journalist und lebt in Berlin. Er veröffentlichte Bücher und Artikel zur Geschichte der Arbeiterbewegung in Deutschland sowie zur Geschichte und Politik der Türkei, der Kurd:innen und des Nahen und Mittleren Ostens, unter anderem bei junge Welt und Yeni Özgür Politika. Mehrmals war er als Mitglied diverser Delegationen in den Regionen unterwegs und berichtete ausführlich über seine Eindrücke. Mit Brigitte Kiechle schrieb Brauns das Buch „PKK – Perspektiven des kurdischen Freiheitskampfes: zwischen Selbstbestimmung, EU und Islam“, mit Murat Çakır verfasste er das Werk „Partisanen einer neuen Welt – Eine Geschichte der Linken und Arbeiterbewegung der Türkei“.