Armenien im Fokus des Verteilungskrieges

Armenien steht im Fokus des türkischen Expansionismus und einer Abhängigkeit zu Russland. Auch eine vermeintliche Annäherung zwischen der Türkei und Armenien verspricht keine Verbesserung der Lage.

In den letzten Tagen war von einer gewissen Annäherung zwischen der Türkei und Armenien die Rede, die sich unter anderem in der gegenseitigen Eröffnung von diplomatischen Vertretungen zeigte. Um diese vermeintliche Annäherung zu verstehen, muss der Kontext des 3. Verteilungskriegs betrachtet werden.

Armenien ist leider eine der Regionen, die diesem Krieg zum Opfer gefallen ist. Die Niederlage im zweiten Bergkarabach-Krieg führte zu einer weiteren Erosion in Armenien. Das Land, dessen Wirtschaft vor allem auf Landwirtschaft und Devisen von Arbeiter:innen im Ausland sowie internationalen Hilfen beruht, hatte bereits mit der „samtenen Revolution“ eine ernsthafte Polarisierung erlebt. Nikol Paschinjan konnte, obwohl er bei den Wahlen vor Kurzem seine Position als Premier wahrte, weder die Polarisierung noch die Probleme des Landes überwinden. Das Land bewegt sich offensichtlich immer weiter in eine ausweglose Lage hinein.

Nach dem zweiten Bergkarabach-Krieg folgte die Aufteilung der Region. Das unterzeichnete „Friedensabkommen“ festigte Russlands Vorherrschaft. Neben Russland sind China, Indien, Iran, die Türkei, die USA, Großbritannien und andere Mächte in der Region. Natürlich wollen diese Mächte auch jeweils das größte Stück vom Südkaukasus abbekommen. Auf dem Tisch befindet sich nicht nur Armenien. Obwohl Aserbaidschan sich nicht vollständig von Russland getrennt hat, steht das Land bereits weitgehend im Einfluss der Türkei. Das gilt insbesondere für den wirtschaftlichen und militärischen Bereich. Georgien steht in ähnlicher Weise unter türkischem Einfluss, aber die NATO-Vertretung steht hier im Vordergrund. Der Wunsch der NATO, in der Ukraine Land zu gewinnen, hat auch in dieser Region Folgen.

Im Vergleich zur russischen Hegemonie ist dies aus Sicht dieser Staaten eine logische Wahl. Gleichzeitig werden Hoffnungen auf eine Annäherung an die EU und die NATO wiederbelebt. So kann in Armenien zumindest Hoffnung geschaffen werden, welche die Überwindung des Gefühls der Niederlage und die daraus folgende Erosion unterstützen kann.

Wenn die Türkei ihren Einfluss ausdehnt, dann wird das für die Länder allerdings sehr schmerzhaft. Die Türkei versucht seit langem, eine Einflusssphäre zu etablieren, die sich bis nach Pakistan erstreckt und die Länder Georgien, Armenien, Aserbaidschan sowie die sogenannten „Turkstaaten“ einschließt. Während der türkische Staat das tut, sucht er nach Wegen, auch mit der Regionalpolitik der USA und von Großbritannien im Einklang zu stehen. Gleichzeitig befindet sich Armenien jedoch auch in einer zerbrechlichen Abhängigkeit von Russland. Russland stellt, wenn es in die Konjunktur passt, ein Hindernis für den türkischen Expansionismus dar.

Entwicklungen wie die Ernennung gegenseitiger Vertreter durch die Türkei und Armenien und die zeitweise Öffnung der Grenzen können natürlich auf ersten Blick positiv wirken. Wenn man jedoch sieht, welche imperialistisch-expansionistischen Ziele die Türkei verfolgt, erscheint diese Entwicklung weniger hoffnungsvoll.

Die aktuelle Regierung wird diesen Kurs nicht ändern. So wie die Türkei Anatolien an das Kapital vergibt, ausplündert und zerstört, wird es auch Armenien gehen. Das ist die Realität des Kapitalismus.

Wir befinden uns in einem postmodernen Verteilungskrieg. Es handelt sich auch um eine Phase, in der unklar ist, wer mit wem unter einer Decke steckt. Es reicht dabei nicht aus, die Geometrie zu kennen, denn die geometrischen Regeln gelten nicht für diese Prozesse. Es geht mehr darum, wie und auf welche Weise Energie im aktuellen Krieg eingesetzt wird. Daher wird es entscheidender sein, wer das Spiel gewinnt und fortsetzt, als wer das Spiel aufgestellt hat. Die eigentlich wichtige Frage ist, wie die Völker jenseits der Kapitalisten auf ihrer Suche nach Freiheit und Gleichheit vorankommen.

Der Kommentar von Aykan Sever erschien im Original bei Yeni Özgür Politika