Am 23. April 2018 trat der damalige Ministerpräsident Sersch Sargsjan unter dem Druck von massenhaften Straßenprotesten zurück und ebnete damit den Sieg der sogenannten Samtenen Revolution. Was ist nach drei Jahren die Bilanz dieses Machtwechsels und der Regierung von Nikol Paschinjan?
Am Ende des ereignisreichen politischen Jahres 2018 in Armenien stand die Auszeichnung des Wirtschaftsmagazins Forbes als „Land des Jahres” sowie eine breite Konsolidierung der Regierung von Premierminister Nikol Paschinjan. Am 9. Dezember 2018 erhielt sein Parteienbündnis über 70 Prozent der Stimmen, während die Parteien der ehemaligen Regierung von Sargsjan aus dem Parlament flogen: Sowohl die zuvor 20 Jahre lang herrschende konservativ-republikanische Partei HHK als auch ihr Koalitionspartner ARF (Armenische Revolutionäre Föderation) schafften nicht den Sprung über die Fünf-Prozent-Hürde.
Der beeindruckende Sieg des Anführers der Straßenproteste des Frühjahrs 2018 warf allerdings schon damals seine ersten Schatten. Zwar waren die Parlamentswahlen fair und frei von Korruption und ohne nachträgliche Gewalt um den Ausgang, was in der armenischen Geschichte keine Selbstverständlichkeit ist. Allerdings beteiligten sich nur etwas mehr als 48 Prozent der Stimmberechtigten an den Wahlen. Paschinjan trat dennoch als Hoffnungsträger an, der die epidemische Korruption im Land beenden und einen dringend benötigten Wirtschaftsaufschwung einleiten sollte.
Drei Jahre später ist das Land angesichts der Kapitulation im zweiten Arzach-Krieg traumatisiert und liegt wirtschaftlich wegen einer weltweit grassierenden Pandemie nahezu am Boden. Wie und warum konnte es dazu kommen?
Ein inadäquates Programm
Die Massenproteste im April/Mai 2018 entzündeten sich an der Ankündigung Sersch Sargsjans, nach zehn Jahren als Staatspräsident in einer veränderten Verfassung nun als Premierminister anzutreten, um so quasi seine Regierung fortzusetzen, weil die armenische Verfassung die Amtszeit des Präsidenten auf zwei Legislaturperioden begrenzt. Er selbst folgte im Februar 2008 auf Robert Kotscharjan, der seinerseits schon zehn Jahre im Amt war und aus der gleichen Partei — sowie aus der gleichen Region kam: Arzach.
Kotscharjan und Sargsjan zeichneten sich in der Arzach-Frage dadurch aus, dass sie den Status quo aufrechterhalten konnten. Strategisch eng an Russland gebunden blieb Arzach unter ihrer Ägide armenisch, was selbst ein Angriffskrieg 2016 seitens Aserbaidschans nichts ändern konnte, obwohl schon damals die Schwächen des Staates und seiner wichtigsten Institution — der Armee — offensichtlich wurden. Besonders unter Sersch Sargsjan stagnierte die Wirtschaft infolge einer lähmenden Erholung der Weltwirtschaft insgesamt nach Beginn der Finanzkrise 2008.
Diese Stagnation und der Mangel an demokratischen Reformen in den letzten Jahrzehnten führten dazu, dass die zu Tausenden auf die Straßen gehenden Menschen sowohl demokratische als auch soziale Forderungen erhoben. Die Bewegung war weder monoton auf die Forderung nach dem Ende der Korruption ausgerichtet, noch war sie alleine durch Paschinjan oder seine damals noch kleine Partei „gesteuert”. Nichtsdestotrotz konnte er sich klar und eindeutig zum Anführer der Proteste aufschwingen und seine Basis ausbauen, deren fester Kern ihn seitdem bedingungslos folgt. Selbst heute würde er Umfragen zufolge rund 30 Prozent der Stimmen auf sich vereinigen und damit die stärkste Kraft im Parlament werden.
Auch wenn Paschinjan es selbst ablehnte, als Liberaler bezeichnet zu werden („Ich betrachte mich nicht als liberal. In der modernen Welt haben die ‚Ismen’ die Bedeutung verloren, die sie früher hatten […]”), so ist sein Programm klar auf den (Neo-)liberalismus ausgelegt. Der Schlüssel zum wirtschaftlichen Aufschwung und damit der Verbesserung des Alltags der breiten Bevölkerung sieht er in der Stärkung der Unternehmen, deren etwaige Erfolge sich Stück für Stück auf die Angestellten und Arbeiter*innen auswirken würden, so die Theorie, die in sehr ähnlicher Hinsicht auch ein Emmanuel Macron vertritt.
Während also die Steuerlasten für die Unternehmen gesenkt werden, führte Paschinjan 2019 eine Art einheitliche Kopfsteuer auf die Einkommen ein, die 2020 mit 23 Prozent begann und schrittweise auf 20 Prozent reduziert werden soll. Dieses Prinzip verkennt aber, dass die Lasten damit zwischen Gering- und Hochverdienenden ungleich verteilt werden, de facto die Geringverdienenden sogar stärker belastet werden. Diese in Bezug auf ein halbkoloniales Land anachronistische Politik, wo die soziale Ungleichheit seit der Unabhängigkeit ein großes, wenn nicht sogar das größte Problem darstellt, führte nur im ersten Jahr zu einem Wirtschaftsaufschwung: Das Bruttoinlandsprodukt stieg 2019 von 12,46 Milliarden US-Dollar auf 13,67 Milliarden USD; mit Beginn der Covid19-Pandemie sowie dem verheerenden Krieg sank das BIP allerdings sogar unter das Niveau der Prä-Paschinjan-Zeit.
Die Türkei-Frage
Seit der Unabhängigkeit und dem Zerfall der Sowjetunion treibt die armenische Politik die Frage um, wie mit der Türkei zu verfahren ist, zumal die Grenze 1993 von der Türkei geschlossen wurde und keinerlei diplomatische Beziehungen untereinander existieren. Diese Frage ist an zwei Achsen verknüpft, die ungleich und gleichzeitig miteinander kombiniert sind: Einerseits die Frage der Anerkennung des Genozids vor 106 Jahren durch die Türkei und andererseits die nach wie vor ungelöste Arzach-Frage, in der die Türkei seit jeher Verbündete Aserbaidschans ist. Trotz der ganzen Symbolik und dem Druck der Diaspora spielt die Frage der Anerkennung des Genozids für die armenische Bourgeoisie und ihre verschiedenen Regierungen, von Lewon Ter-Petrosjan (1991-1998) über Robert Kotscharjan (1998-2008) und Sersch Sargsjan (2008-2018) bis Nikol Paschinjan (seit 2018), keine Rolle. Sie alle haben ausnahmslos wiederholt, dass die Anerkennung durch die Türkei keine Vorbedingung für die Aufnahme diplomatischer Beziehungen darstellt.
Dieser Verrat an der eigenen Geschichte wird aber durch die kompromisslose türkische Haltung konterkariert, da sie mindestens verlangt, dass sich die Armenier*innen aus Arzach zurückziehen. Die Frage der Anerkennung wird derweil instrumentalisiert, aber es wird wenig bis gar nichts in die Richtung unternommen, dass zusammen mit der Anerkennung auch Reparationen und territoriale Ansprüche (oder dem Rückkehrrecht der Nachkommen der Überlebenden) erhoben würden. Die Kapitulation in dieser Frage wird seit November auch mit der Kapitulation in Arzach begleitet, wo selbst hochrangige armenische Politiker*innen „Frieden und Koexistenz” mit zwei Regimen predigen, die wiederholt mit der Vernichtung des armenischen Volkes drohen und armenische Gebiete beanspruchen. Und zwar von Arzach bis Jerewan.
Die Position der Regierung von Paschinjan in der Türkei-Frage ist von einem erratischen Populismus gekennzeichnet: Einerseits gibt es eine Annäherung sondergleichen, wo die Ansprüche der Türkei und Aserbaidschans auf die Gebiete in und um Arzach anerkannt werden und von einer „Neujustierung der Beziehungen” die Rede ist. Die Handelsbeziehungen zu beiden Ländern sollen ausgebaut werden und während das Regime in Baku noch bis zu 260 armenische Kriegsgefangene hält, foltert und sogar ermordet, preist der Premierminister die Vorteile des wirtschaftlichen Handels. Andererseits wurde der Boykott türkischer Produkte auf das gesamte Jahr ausgedehnt, obwohl die Importe türkischer Waren (über Georgien) 2019 so hoch waren wie noch nie und 268 Millionen US-Dollar umfassten. Zwischen 2010 und 2019 umfassten die Importe mehr als 2,3 Milliarden US-Dollar, während armenische Exporte in die Türkei so gut wie nicht existierten.
Angesichts der wirtschaftlichen Überlegenheit der Türkei und einer Wirtschaft Aserbaidschans, die dank der Öl- und Gasexporte dreimal so groß ist wie Armeniens Wirtschaft, hat Paschinjan das Land in eine Sackgasse manövriert, in der weder Krieg noch Frieden herrschen. Von Stabilität kann schon gar keine Rede sein, zumal das Waffenstillstandsabkommen zunächst nur auf fünf Jahre befristet ist und Ilham Aliyev erst jüngst mit seinem rassistischen Kriegspark wieder einmal zeigte, dass er nicht vorhat, sein eigenes Fundament der Herrschaft — den anti-armenischen Hass — abzubauen.
In eigener Sache
Obwohl im Waffenstillstandsabkommen vom November der Austausch der gegenseitigen Kriegsgefangenen vereinbart wurde und obwohl Armenien alle aserbaidschanischen Kriegsgefangenen frei ließ, befinden sich immer noch hunderte armenische Kriegsgefangene in den Gefängnissen von Baku. Vor der aserbaidschanischen Botschaft in Berlin finden deshalb regelmäßig stille Kundgebungen und Proteste statt.