In einem umfassenden Interview spricht Xebat Andok, Mitglied im Exekutivrat der Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK), über das alternative Modell des Demokratischen Konföderalismus und seine praktische Umsetzung. Dabei weist er im dritten Teil des Interviews auf Mängel bei der Realisierung im Nahen Osten hin und beschreibt den Aufbau der radikalen Demokratie in der PKK und in Rojava.

Regime wurden im „Arabischen Frühling“ gestürzt und durch neue Regime ersetzt

Der sogenannte „Arabische Frühling“ stellte einen großen Umbruch dar. Konnten Sie in dieser Zeit den Demokratischen Konföderalismus als Alternative zum Etatismus ausreichend vermitteln?

Historisch betrachtet werden solche Momente als Chaosintervalle betrachtet. Ein solches Intervall war der „Arabische Frühling“. Der Widerstand der Gesellschaft gegen das bestehende hegemoniale System im Nahen Osten war sehr stark, weil der Autoritarismus und Despotismus hier sehr stark und dominant sind. Die Region ist das historische Zentrum der Sklaverei, der Klassenherrschaft und des Etatismus. Wenn die Menschen eine Gelegenheit finden, sich zu erheben, dann nutzen sie diese. Der Iran ist ein gutes Beispiel dafür. Der aktuelle Kampf des kurdischen Volkes ist ein Beispiel dafür. Im „Arabischen Frühling“ haben wir gesehen, dass die Herrschenden sich als arabisch präsentieren, sich das arabische Volk aber überall gegen sie erhob. Bei dieser Art von Aufstand wollen die Menschen Gleichheit und Freiheit. Welche Alternative gibt es? Was hier an die Stelle des Herrschaftssystems treten muss, ist der Demokratische Konföderalismus, damit der Widerstand nicht erneut vom System aufgesogen wird. Wir haben diese Alternative vorgeschlagen, aber wir konnten sie nicht ausreichend in der Region vermitteln. Wir hatten keine Gelegenheit dazu, das zu organisieren. Es gab in dieser Hinsicht auf unserer Seite Mängel. Denn wir sind eine Bewegung, die um Sein oder Nichtsein kämpft und die durch ein äußerst umfassendes Vernichtungskonzept ausgelöscht werden soll. Daher ist es uns nicht gelungen, den Demokratischen Konföderalismus in ein Projekt zu verwandeln, das alle Völker des Nahen Ostens erreicht. Wir waren zu spät dran: Wenn wir die Lage betrachten, gab es mit dem „Arabischen Frühling“ überall in der arabischen Welt Aufstände. Regime wurden gestürzt, aber durch eine andere Version derselben Regime ersetzt. Das Ergebnis war nicht das, was die Völker wollten und wünschten. Mit anderen Worten: Freiheit, Gerechtigkeit, Gleichheit und Demokratie wurden nicht erreicht.

Demokratischer Konföderalismus in Rojava weiter im Aufbau

Ist die Praxis in Rojava nicht ein wichtiger Erfolg?

Rêber Apo [Abdullah Öcalan] hat jahrelang große Arbeit für Rojavayê Kurdistanê geleistet. Er hat die Kraft, die Gesellschaft zu beeinflussen. Die Menschen in Rojava haben Tausende von jungen Leuten in den Freiheitskampf entsandt. Rojava ist eine der Regionen, in denen die Ideen von Rêber Apo am wirksamsten sind. Als das Chaosintervall Rojava erreichte, hat das Volk sofort die Revolution umgesetzt. Die Region ist gegenwärtig Vernichtungsangriffen ausgesetzt. Es wird versucht, die Revolution von ihrem Weg abzubringen. Da die Region einem so starken Druck ausgesetzt ist und es viele Unzulänglichkeiten aufgrund von Einstellung, Organisation und internen Problemen gibt, ist dort nur sehr wenig vom Demokratischen Konföderalismus in die Praxis umgesetzt worden. Trotzdem befindet sich die Revolution von Rojava in der Position, die gesamte Menschheit anzuziehen und zu faszinieren. Araber:innen, Kurd:innen, Turkmen:innen, Tscherkess:innen, Armenier:innen, Assyrer:innen und Suryoye sind autonom innerhalb des Systems in Rojava organisiert. Es gibt keine kurdische Hegemonie über Araber:innen. Es gibt keine arabische Hegemonie über Tscherkess:innen. Alle organisieren sich autonom ihrem Willen entsprechend auf der Grundlage ihrer eigenen Kommunen und Räte. Sie wissen, dass sie sich nicht allein retten können, sondern einander gegen den gemeinsamen Feind brauchen. Daher bündeln sie ihre Kräfte. Sie sind sowohl autonom als auch kollektiv und bauen ein System auf, in dem sich alle Teile der Gesellschaft selbst organisieren. Das alles findet unter den Bedingungen des Dritten Weltkriegs statt, in dem der genozidale türkische Staat all seine Macht mobilisiert, um die Revolution zu zerstören. Dabei hat er die volle Unterstützung der internationalen Gemeinschaft und erhält gleichzeitig Unterstützung durch kurdische Kollaborateure und Verräter alle Arten. Trotz der vielen Feinde wird der Demokratische Konföderalismus in Rojava, wenn auch in begrenztem Maße, verwirklicht. Der Grund, warum Menschen aus verschiedenen Teilen der Welt nach Rojava kommen und sich am Kampf beteiligen, ist der Demokratische Konföderalismus. Sie sehen, wie sozial, egalitär und freiheitlich dieses System ist. Die Menschen gewinnen dort Erfahrungen, tauschen sich aus und versuchen, die Revolution gegen die Angriffe der herrschenden, etatistischen Kräfte zu schützen.

Im Heute etwas jenseits des Staates schaffen und verteidigen

Setzt der Demokratische Konföderalismus das Ende der Existenz von Staaten voraus?

Es ist eine historische Notwendigkeit, dass die Kämpfe für Freiheit und Gleichheit nun in einem nicht-staatlichen Gesellschaftssystem verwirklicht werden. Das ist auch für die Verwirklichung der Ziele des Freiheitskampfes der PKK notwendig, damit alle Beziehungen innerhalb der kurdischen Gesellschaft gleich, frei und demokratisch seien können und nicht verdreht und korrumpiert werden. Es finden Versuche statt, etwas jenseits des Staates zu schaffen. Rêber Apo stellte das Projekt des Demokratischen Konföderalismus 2005 unter den Bedingungen des Dritten Weltkriegs vor. Der Demokratische Konföderalismus wird nicht erst nach dem Verschwinden der Staaten auf der Erde entstehen. Das ist gar nicht sein Ziel. Es ist vollkommen klar, dass wir uns in einem Zeitalter der Staaten befinden, und der Demokratische Konföderalismus ist eine Struktur dafür, wie man mit den Staaten und innerhalb staatlicher Grenzen in Würde und Selbstverteidigung zusammenleben kann. Er steht in einem ständigen Spannungsverhältnis und Widerspruch zu den Zuständen, die immer und überall vorhanden sind, denn seine innere Struktur und Haltung ist eine ganz andere. Wie wir bereits erwähnt haben, sprechen wir nicht über etwas, das in der Zukunft geschehen wird. Es geht um etwas, das jetzt geschieht und geschehen muss.

Welche Veränderungen kann der Demokratische Konföderalismus im Leben mit sich bringen?

Die PKK hat Zehntausende von Kadern und ist auch ein Beispiel für eine Gesellschaft. Sie hat ihre eigene Lebensweise. Die derzeitige Lebensweise der PKK ist ganz im Sinne des Demokratischen Konföderalismus organisiert. Wir leben ihn. Wir sprechen nicht über etwas, das wir nicht erlebt haben. Wir propagieren nicht etwas, das wir nicht realisiert haben, das wir nicht leben. Konkreter: Was verändert sich, was kann sich verändern? Da die Veränderung auf einem Paradigma beruht, ist es sinnvoll, das Paradigma zu betrachten. Der Demokratische Konföderalismus basiert auf dem Paradigma einer demokratischen, ökologischen Gesellschaft und der Frauenbefreiung. Dies ist eine Lesart. Wir definieren das Leben so, wie es sein sollte. Diese Definition leiten wir aus der Natur der Gesellschaft und des Menschen ab. Wir suchen nach einem System, das dafür geeignet ist. Wenn wir uns die Säulen des Paradigmas ansehen, wird klarer, was der Demokratische Konföderalismus für ein Leben bietet. Unser Paradigma ist demokratisch.

„In der PKK leben wir direkte Demokratie“

Wie wird Demokratie in der PKK gelebt? Wie funktioniert Demokratie im Demokratischen Konföderalismus?

Die Demokratie ist die größte Lüge der Staaten. Es handelt sich um einen der Begriffe, die sich die Staaten angeeignet haben. Die Demokratie hat nichts mit Staaten zu tun, denn Demokratie ist das System, in dem sich das Volk selbst regiert. Wer kann sich in einem staatlich organisierten System selbst regieren? Geht Selbstverwaltung in irgendeinem Staat darüber hinaus, alle vier bis fünf Jahre an die Wahlurne zu gehen?

Ist das keine Demokratie?

Nein. Selbst in den fortschrittlichsten Staaten ist die Demokratie äußerst begrenzt, aber in der PKK leben wir in direkter Demokratie. Wir treffen alle Entscheidungen über unser Leben selbst und führen alle Diskussionen in erster Person. Alle haben das Recht, das Wort zu ergreifen. Niemand hat das Recht, an unserer Stelle über uns hinweg zu sprechen. Wir entscheiden über uns selbst, über unser eigenes Leben und unsere Probleme. Wir treffen die Entscheidungen selbst. Unsere kleinste Einheit sind die Teams, und jedes Team trifft seine eigenen Entscheidungen. Wenn es Probleme im Leben gibt, entscheidet es, wie man sie löst. Es setzt keine Entscheidungen von irgendjemand anderes um. Es bestimmt auch, wie die von ihm getroffenen Entscheidungen in die Praxis umgesetzt werden. Es wählt für sich selbst eine Leitung. Im Demokratischen Konföderalismus werden alle Vertretungen gewählt. Diese gewählten Vertreter:innen sind keine Vorgesetzten. Ihre Aufgaben sind es, die gefassten Beschlüsse in die Praxis umzusetzen. Andernfalls ist es für diese Leitung nicht möglich, das Team, den Rat oder die Kommune zu stellen. Sie kann keine Entscheidungen in deren Namen treffen. Sobald die Gemeinschaft wahrnimmt, dass die Leitung eine solche Anmaßung vornimmt und Entscheidungen nach eigenem Gutdünken trifft, wird diese aus dem Amt entlassen.

Können Sie zum Beispiel das staatliche System mit dem System vergleichen, in dem Sie leben und das Sie verteidigen?

In der von uns gelebten und als Grundlage betrachteten Demokratie ist der Mensch wertvoll und einzigartig. In den etatistischen Systemen sieht der Mensch sich nicht als wertgeschätzt, denn alles wird an ihm vorbei umgesetzt. Der Mensch wird bis in jede Faser hinein beherrscht. Menschen werden wie eine Herde Vieh behandelt. Alles, was vom Menschen verlangt wird, ist folgendes: Verdiene Geld, um die Bedürfnisse deines Lebens zu decken, renne diesem Geld hinterher, widme ihm dein ganzes Leben. Der Mensch zerbricht unter diesem Stress und verfällt in Depressionen. Ein sehr, sehr großer Teil der Probleme, die die Menschen innerhalb des auf Herrschaft basierenden, staatlich organisierten Systems erleben, insbesondere unter den Bedingungen der kapitalistischen Moderne, rührt aus dem fehlenden Wert her, der ihnen beigemessen wird. Sie rühren daher, dass ihnen das Gefühl vermittelt wird, sie seien überflüssig. Im Demokratischen Konföderalismus ist für uns der Mensch der größte Wert. In unserem System konkurrieren die Menschen, um sich gegenseitig zu entwickeln, und nicht, um sich gegenseitig auszurotten, nicht, um etwas gegeneinander zu tun. Alles dient dem Menschen. Was wir meinen, ist nicht ein auf den Menschen zentriertes Verständnis des Universums, sondern den Menschen als einzigartig zu betrachten. Alle Religionen, Wissenschaften und Philosophien sagen, dass der Mensch einzigartig, erfüllt und voller Potential ist. Die Herrschenden sagen das nicht, weil es ihnen nicht ins Konzept passt. Aber wir sind keine Anhänger der Herrschaft. Wir wollen mit unserem Wesen und der Natur im Einklang leben. Das wollen wir für alle Menschen. Im Modell des Demokratischen Konföderalismus ist der Mensch sehr wertvoll, einzigartig, politisch, hat eine Stimme, die den Diskurs beeinflusst. Sein Gehirn, seine Zunge und sein Herz sind offen. Er sieht sich verantwortlich für die Probleme der gesamten Menschheit, für die Probleme, die er mit sich selbst und seinen Mitmenschen erlebt. Sein Geist ist permanent kreativ. In einem solchen System ist der Mensch so aktiv wie möglich. Der Mensch wirft so die Trümmer ab, unter denen er verschüttet ist, und formt sich seiner eigenen Realität, seinem Wesen und seinem Potenzial entsprechend.

Ist die Widerstandskraft der PKK, allen Angriffen zum Trotz, ein Resultat dieser inneren Struktur?

Natürlich. Wie könnte die PKK sonst unter den Bedingungen dieses staatlichen Systems, unter den Bedingungen der kapitalistischen Moderne, in einem Umfeld, in dem die Republik Türkei die Unterstützung der ganzen Welt bekommt und gegen uns vorgeht, weiterbestehen? Wir wissen, wie wertvoll unser Leben ist, wie wertvoll jede und jeder von uns ist, was für eine Kraft im Menschen steckt. Wir bringen diese Kraft aus uns selbst hervor. Mit dieser Kraft stellen wir uns all diesen Angriffen entgegen. Allein die Tatsache, dass die PKK weiter besteht und sich immer weiter nach vorne entwickelt, zeigt deutlich, wie sehr sich Menschen in dieser Art von Organisation verändern und entwickeln. Sowohl innerhalb unserer Bewegung als auch innerhalb des demokratischen konföderalen Systems verwirklichen sich die menschlichen Gemeinschaften ihrem eigenen Wesen entsprechend selbst und bringen so Stärke und ihr ganzes Potential hervor. Die Menschen fühlen sich wertgeschätzt. Sie bilden Kommunen. Die emotionale Verbindung ist viel stärker. Sie werden zu einem Ganzen. Es handelt sich um das Umfeld, in dem sich der Mensch am stärksten verwirklicht.

„Die PKK ist eine Frauenpartei“

Warum legen Sie einen so großen Schwerpunkt auf Frauenbefreiung?

Die Frau war historisch betrachtet die erste Sklavin. Sie wurde durch den herrschaftsorientierten Mann versklavt. In diesem Sinne ist die Frau auch die erste Freiheitskämpferin. Sogar unsere Feinde sagen: „Die PKK ist eine Frauenpartei.“ Es ist wahr, die PKK ist eine Frauenpartei. Sie ist nicht nur eine Partei mit einer großen Anzahl von Frauen, sie ist eine Partei, die viele ihrer grundlegenden, strategischen und ideologischen Prinzipien auf Frauen stützt. In dieser Hinsicht ist sie eine Frauenpartei. Sie sieht die Lösung der Probleme in der emotionalen Intelligenz von Frauen. Die Frauen und Männer innerhalb der PKK argumentieren, dass es notwendig ist, außerhalb des bestehenden patriarchalen Denkens zu denken, und dass die mentale Struktur, in der die männlich dominierte Ideologie des herrschenden/staatlichen Systems eingeschrieben ist, verändert werden muss. Die patriarchale Denkweise ist die Ursache für viele Probleme. Wir müssen uns davon befreien. An die Stelle dieser Denkweise muss die emotionale Intelligenz der Frauen treten. Alle Männer und Frauen in der PKK haben die Aufgabe, sich im Sinne der weiblich gelesenen emotionalen Intelligenz zu entwickeln. In dem Maße, in dem sie dies für sich übernehmen, werden sie bescheidener, demokratischer, überzeugter, sensibler, verantwortungsvoller und stärker. Deshalb ist die PKK eine Frauenpartei. Die PKK orientiert sich an der Natur der Gesellschaft und strebt die natürliche Gesellschaft an. Wenn die Gesellschaft nicht immer wieder von außen vom Weg abgebracht wird, ist die natürliche Gesellschaft eine um die Frau organisierte Gesellschaft. Es handelt sich um eine von Frauen geführte Gesellschaft. Daher ist das Ziel der PKK die Verwirklichung einer von Frauen geführten Gesellschaft, und auch die PKK wird von Frauen angeführt. Das Wertvollste für uns ist eine starke weibliche Haltung, die ihrem eigenen Wesen und ihrer Natur entspricht. Die Ermächtigung der Frauen bedeutet die Ermächtigung der Männer, denn sie verändert und transformiert sie. Sie bekämpft die bestehenden etatistischen, machtorientierten Aspekte in den Männern und wirft sie über den Haufen. Die Führung durch starke Frauen ist für alle Männer in der PKK selbstverständlich, daran glauben sie und darauf vertrauen sie. Die Gesellschaftsform, auf die sich die PKK stützt, ist eine natürliche Gesellschaft, die von Frauen geführt wird. Das macht die Natur der Gesellschaft aus.

Wie sind die Beziehungen zwischen Männern und Frauen im demokratisch-konföderalen System in Rojava?

Wenn man die Revolution von Rojava betrachtet, dann sieht man, wie die Beziehungen zwischen Männern und Frauen sich den Angriffen zum Trotz entwickelt haben, was die Frauen für eine aktive Rolle spielen und wie sehr die Männer von ihrem machtorientierten Denken befreit wurden. Man sieht, dass der Wandel sehr tiefgreifend und nachhaltig ist. Wir sehen, wie ein sinnvolles Leben und gleichberechtigte und freiheitliche Beziehungen das Potenzial der Frauen hervorbringen und wie das Leben schöner wird. Im demokratisch-konföderalen System werden die Beziehungen zwischen Männern und Frauen gleich und frei sein. Niemand wird über anderen stehen. Niemand wird irgendjemanden beherrschen. Alle werden in ihrer Einzigartigkeit leben, als gleiche und freie Wesen. Da es für niemanden Hindernisse gibt, können die Menschen ihr Potenzial so weit verwirklichen, wie sie es wollen. Alle Möglichkeiten stehen ihnen offen. Das gilt auch für den Mann. Das Leben innerhalb des Systems des Demokratischen Konföderalismus ist ein sinnvolles, gleichberechtigtes und freies Leben. In seiner reinsten Form wird es in der PKK zu leben versucht.

„Die PKK betrachtet die Natur als lebendes Wesen“

Ihr Paradigma hat auch eine ökologische Dimension. Warum ist das wichtig?

Sehen Sie, derzeit herrscht eine Dürre. Alle reden von Dürre, aber es ist bekannt, dass sie nicht natürlichen Ursprungs ist. Es ist klar, dass sie ein Produkt der kapitalistischen Moderne ist. Treibhausgase und fossile Brennstoffe heizen das Klima auf. Es gibt so viele Umweltkatastrophen und ökologische Probleme, die alle durch den machtorientierten und unersättlichen Menschen verursacht werden. Die Hauptursache für ökologische Katastrophen und Umweltprobleme ist das herrschende System. Es sind die Kräfte der kapitalistischen Moderne. Es herrscht ein Krieg gegen die Natur. Die Natur leidet. Es stellt sich die Frage, wie lange überhaupt noch eine Lebensgrundlage besteht. Die herrschenden Klassen in den Staaten richten sich so einerseits gegen die gesamte Gesellschaft, andererseits aber insbesondere gegen die Frau. Sie betrachten die Natur als etwas, das ihnen gegeben wurde, um sie sich untertan zu machen. Die Natur wird nicht als lebendes Wesen, sondern als Maschine, als Objekt und als Ressource betrachtet.

Historisch gesehen standen alle Herrschenden der Gesellschaft den Frauen und der Natur feindselig gegenüber. Im demokratisch-konföderalen System gibt es keinen solchen Ansatz. Die Natur wird als Mutter betrachtet. Wir kommen alle aus der Natur. Wir definieren diese Natur als Erste Natur. Wir sehen uns als Teil der Natur, als ihre Kinder. So wie ein Kind seiner Mutter nichts antun sollte, sollten wir als Zweite Natur nichts unserer Mutter, der Ersten Natur, antun wollen. Wir müssen begreifen, dass es sich um ein Lebewesen handelt. Indem wir mit dem System dieses Lebewesens spielen, heben wir unsere Existenzbedingungen auf. Die PKK sieht die Natur als lebendig an. Das ist die Einstellung zur Natur innerhalb der PKK. Zumindest bemühen wir uns darum, dass sich dieser Stil durchsetzt, und wir kämpfen auch in unserem Inneren dafür. Wir sind eine Gemeinschaft, die der Natur nicht schadet und versucht, mit dem zu leben, was die Natur uns schenkt. Wenn wir dieses Denken in der gesamten Gesellschaft verbreiten, wird die Menschheit nicht länger eine Entität sein, die Verbrechen gegen die Natur begeht.

Immer wieder wird auch von der „Dritten Natur“ gesprochen. Was meinen Sie damit?

Die Dritte Natur ist die Vereinigung von Mensch und Natur auf richtige Weise, die Beteiligung des Menschen am Leben der Natur. In dem hierarchischen Staatssystem wurden so viele Verbrechen gegen die Natur begangen und ihr Gleichgewicht wurde gestört. Wir müssen hier eine Korrektur vornehmen: In dem Maße, in dem man die herrschende staatsorientierte Mentalität zurückdrängt, ihre Dominanz über das Leben bricht und Raum für Demokratie, Freiheit, Gleichheit und Offenheit schafft und die soziale Organisation entsprechend entwickelt, verbessert man auch die Kommunikation mit der Natur. Er wird eine Generation und eine menschliche Gesellschaft geschaffen, die sensibler, verantwortungsvoller und demokratischer mit der Natur umgeht.

Die vom Patriarchat und der Machtorientierung hervorgebrachte Korrumpierung verstaatlicht sich selbst. Sie brachte die Klassengesellschaft hervor, deren Herrschaft bis heute anhält. Der Mensch, die Gesellschaft, die Frau und die Natur können damit nicht leben. Die Kämpfe in der ganzen Welt zeigen, dass dieses System ohnehin nicht überleben kann. Das hierarchisch-etatistische System ist ein Irrweg. Mit ihm kann man nicht leben. Die gegenwärtige Version dieses Systems ist die kapitalistische Moderne. Das Leben in ihr ist nicht lebbar. Das einzige Ziel ist der Profit, der Egoismus. Ihre Seele ist voll von Egoismus.

„Ein nichtstaatliches System, das der Natur des Menschen entspricht“

Stellt der Demokratische Konföderalismus dagegen eine realistische Alternative dar?

Der Demokratische Konföderalismus ist ein kommunales System, das der Natur des Menschen und der Gesellschaft entspricht. Es basiert auf einem Leben in Harmonie mit der Natur. Als Bewegung wollen und kämpfen wir für die Verwirklichung des Demokratischen Konföderalismus in Kurdistan, in der Region und weltweit. So wie sich die herrschenden Mächte gegenwärtig überall auf der Welt durch staatliche Organisation zu einem System etabliert haben, so sollte es sich beim Demokratischen Konföderalismus um ein System handeln, in dem sich alle unterdrückten Menschen überall auf der Welt, alle sozialen Komponenten, die der Unterdrückung und dem Angriff dieses Systems ausgesetzt sind, zusammenfinden, ihre Kämpfe vereinigen und sich organisieren können. Auf der einen Seite gibt es den Demokratischen Konföderalismus, auf der anderen Seite den Staat. Das System der herrschenden, machtorientierten Kräfte ist der Staat. Genau genommen ist sein heutiger Name der Nationalstaat. Das System der Gesellschaft ist der Demokratische Konföderalismus. Das mag in Kurdistan KCK heißen und an anderen Orten anders, aber das Wesen ändert sich nicht. Es geht darum, ein nichtstaatliches System zu schaffen, das der Natur des Menschen und der Gesellschaft entspricht.