An der Goethe-Universität in Frankfurt ist es für Studierende möglich, in ihren Fachbereichen Autonome Tutorien anzubieten und so Fragen und Themen zu behandeln, die im geregelten Studienangebot nicht oder nur zu wenig vorkommen. Studierende können sich mit einem Thema bei ihren jeweiligen Fachschaften bewerben. Auch kurdische Studierende, die in den Verbänden YXK und JXK aktiv sind, bewarben sich dieses Semester für ein Autonomes Tutorium, das Thema war „Wie Machtverhältnisse überwinden? Einführung in den Demokratischen Konföderalismus“. Die Fachschaft Gesellschaftswissenschaften nahm die Bewerbung an.
Am Anfang des Tutoriums wurden grundlegende Fragen zu dem nichtstaatlichen gesellschaftlichen Paradigma „demokratischer Konföderalismus“ behandelt und diskutiert. Ein historischer Abriss, der die Geschichte Kurdistans behandelte, lieferte ein erstes Verständnis. Entsprechend wurde die Vierteilung Kurdistans nach dem Ersten Weltkrieg, die Gründung des modernen türkischen Staates, dessen Existenz auf dem Genozid an der kurdischen Gesellschaft und anderer Minderheiten fußt, die Revolution der 68er-Bewegung sowie die Entstehung der kurdischen Freiheitsbewegung aus dieser heraus und zuletzt den ab den 2000er Jahren beginnenden Paradigmenwechsel behandelt.
Ein besonderes Augenmerk lag dabei auf dem Schaffen und Leben von Abdullah Öcalan, der als Vordenker der kurdischen Freiheitsbewegung eine Schlüsselrolle bei der kritischen Weiterentwicklung von emanzipatorischen Grundsätzen spielt. Aus dem Gefängnis heraus initiierte er den sogenannten Paradigmenwechsel innerhalb der kurdischen Freiheitsbewegung: Für die Befreiung des kurdischen Volkes und des Mittleren Ostens sei die Gründung eines unabhängigen Nationalstaates nicht nur nicht ausreichend, sondern sogar schädlich. Er identifizierte in einer (selbst-)kritischen Auseinandersetzung mit verschiedenen wissenschaftlichen, philosophischen und politischen Entwicklungen Fehler in den Befreiungsbewegungen des 20. Jahrhunderts. So kam er zur Schlussfolgerung, dass Emanzipation tiefer und weitergedacht werden müsse. Zum Beispiel könne ein Sozialismus, der nicht zugleich patriarchale Verhältnisse und Persönlichkeiten bekämpft und abschafft, sich nicht entwickeln und würde verkrusten und absterben. Dabei sind solche Ideen nicht weithergeholt. Archäologische Funde aus der Zeit des Neolithikums, etwa in Göbekli Tepe, mythologische und religiöse Texte des Altertums wie das Gilgamesch-Epos und die stammesgesellschaftlich-nomadische Sozialstruktur des kurdischen Volkes zeigen auf, dass über die Jahrtausende eine demokratisch-matrizentrische Kultur erhalten blieb. Zwar ist diese Kultur und Lebensweise aufgrund zahlreicher Eroberungszügen, Kriegen und Massakern stark marginalisiert worden, doch verschwunden ist sie nicht.
Öcalan nimmt selbst unter den Bedingungen der Totalisolation Position für die marginalisierten und unterdrückten Völker, Klassen und Geschlechter ein. Sein Denken artikuliert im Grunde die legitime Selbstverteidigung der unterdrückten Völker, Frauen, Arbeitenden und Jugendlichen. Das Paradigma, unter dem Öcalan diese Ansätze zusammenfasst, nennen wir Demokratischer Konföderalismus. Dem Aufbau eines Lebens, das sich entlang von Basisdemokratie, Frauenbefreiung und Sozialer Ökologie organisiert. Um diese drei Aspekte zu vertiefen, wurden Referent:innen von der Initiative Demokratischer Konföderalismus (IDK), Make Rojava Green Again (MRGA) und dem Verband der Studierenden Frauen aus Kurdistan (JXK) eingeladen, die in spannenden Sitzung ihre Erfahrungen und ihr Wissen mit den Teilnehmenden des Autonomen Tutoriums teilten und diskutierten. Ein weiterer Aspekt, der die Beteiligten besonders interessierte und behandelt wurde, war das Erbe der 68er-Bewegung in der Türkei für die Jugend heute. Es wurde festgestellt, dass die damals aufgebauten demokratischen Strukturen vor allem in den industriellen Zentren des Kapitalismus durch einen Individualismus beziehungsweise eine Atomisierung der Jugendlichen – auch an der Universität – ausgehebelt werden. Die Jugendlichen werden zu sich selbstausbeutenden Unternehmern ausgebildet. Demgegenüber hat sich im Globalen Süden und insbesondere in Kurdistan eine historische Widerstandslinie fortgesetzt, dessen Ideen und Erfahrungen heute weltweit Resonanz findet. In diesem Sinne könne die Jugend in Europa den Neoliberalismus durch einen neuen Internationalismus überwinden. Auf Wunsch der Teilnehmer:innen wurde das Tutorium mit der Dokumentation „Sara - Mein ganzes Leben war ein Kampf“ beendet.
Im Tutorium gab es aber auch Hürden, die auf erschwerte Studienbedingungen seit der Bologna-Reform zurückzuführen sind. Viele Studierende haben wenig Kapazitäten, alternative Bildung wahrzunehmen und sind zunehmend an ein verschultes und kanonisiertes Studienangebot gebunden. Die klassische Universität als Ort des freien Denkens wird zunehmend zugunsten der Privatwirtschaft zu einer Ausbildungsstätte von Fachkräften. Trotzdem war das Tutorium im Großen und Ganzen ein Erfolg und ein Novum, da die Ideen des Demokratischen Konföderalismus so noch keinen Einzug in die universitäre Landschaft in Deutschland fanden. Wir freuen uns, auch in Zukunft das Studienangebot der Goethe-Universität durch weitere Autonome Tutorien, Vorträge und Veranstaltungen zu ergänzen und mit der Frankfurter Studierendenschaft in einem freien Gedankenaustausch zu bleiben.