Zunehmende Gewalt an Frauen in der Türkei

Im Jahr 2023 wurden in den ersten zehn Monaten 250 Femizide registriert. Die Situation von Frauen in den Erdbebengebieten ist dramatisch. Gleichzeitig soll das Frauenschutzgesetz 6284 annulliert werden.

Während der 25. November, der Internationale Tag zur Beseitigung von Gewalt an Frauen, näher rückt, nimmt die Gewalt gegen Frauen in der Türkei und Nordkurdistan von Tag zu Tag zu. Die Gewalt ist nicht nur physisch, sondern zeigt sich auch im Entzug von Rechten. Frauen in den Erdbebengebieten befinden sich in einer besonders schwierigen Lage.

Die Initiative Kadın Cinayetleri erfasst die Zahl von Femiziden und veröffentlicht diese. Demnach wurden in der Türkei und Nordkurdistan zwischen 2010 und 2020 2.534 Frauen von Männern ermordet. Oft werden jedoch Femizide als Selbstmorde getarnt und bleiben straflos. Wenn man diese Zahl hinzunimmt, handelt es sich im Zeitraum zwischen 2010 und 2020 um 4.197 Fälle. Nach den Datenbankinformationen der Plattform wurden im Jahr 2021 280 Frauen von Männern ermordet; 217 Frauen wurden unter verdächtigen Umständen tot aufgefunden. Im Jahr 2022 wurden 334 Frauen von Männern ermordet; 245 Frauen wurden verdächtig tot aufgefunden. Obwohl der Jahresbericht für 2023 noch nicht vorliegt, wurden bereits in den ersten zehn Monaten des Jahres 253 Frauen von Männern ermordet und 194 Frauen unter verdächtigen Umständen tot aufgefunden.

In den meisten Fällen sind die Ehemänner die Mörder und die Wohnung der Tatort

Nach Statistiken der Jahre 2021 und 2022 werden Frauen in der Regel von ihren Ehemännern oder Partnern ermordet. Die meisten Morde finden im häuslichen Umfeld statt.

Im Jahr 2021 wurden 124 Frauen von ihrem Ehemann getötet, 37 Frauen von ihrem unverheirateten Partner, 24 Frauen von einem Bekannten, 21 Frauen von ihrem Ex-Mann, 16 Frauen von entfernten Verwandten, 13 Frauen von ihrem Ex-Freund, 13 Frauen von ihrem Vater, 11 Frauen von ihrem Sohn, 6 Frauen von ihrem Bruder, 3 Frauen von Unbekannten und eine Frau von einem Stalker ermordet. Bei 11 Frauen konnte die Beziehung der Personen zum Täter nicht festgestellt werden. Von den 280 Frauen, die im Jahr 2021 von Männern ermordet wurden, wurden 178 zu Hause ermordet. Das bedeutet, dass 64 Prozent der Frauen in ihrer Wohnung ermordet wurden.

Von den 334 Frauen, die 2022 von Männern ermordet wurden, wurden 154 von ihrem Ehemann, 35 von ihrem unverheirateten Partner, 27 von ihrem Ex-Freund, 26 von entfernteren Verwandten, 19 vom Ex-Mann, 19 von jemandem, den sie kannten, 17 von ihrem Vater, 10 von ihrem Sohn, 6 von ihrem Bruder, 4 von einem Unbekannten, eine von einem Stalker, eine von ihrem Patienten, eine von ihrem Arbeitgeber und eine von ihrem Stiefvater ermordet. Bei 13 Frauen konnte die Beziehung der Personen, die den Tod verursacht haben, nicht festgestellt werden. Im Jahr 2022 wurden 209 von 334 Frauen zu Hause ermordet.

Zu ähnlichen Schlussfolgerungen kann man kommen, wenn man nur einen Monat des Jahres 2023 analysiert. Allein im Mai wurden 40 Frauen von Männern ermordet. Von diesen 40 Frauen wurden 12 von ihrem Ehemann, 8 von einem Bekannten, 7 von ihrem Freund, 3 von ihrem Ex-Mann, 3 von ihrem Ex-Freund, 3 von ihren Söhnen, 2 von ihren Brüdern, 2 von ihren Verwandten ermordet. 30 dieser Frauen wurden zu Hause ermordet, 7 auf der Straße, eine in einem Auto und eine an einem verlassenen Ort. Bei einer Frau konnte der Tatort nicht ermittelt werden.

Katastrophale Situation von Frauen im Erdbebengebiet

Nach den beiden Erdbeben vom 6. Februar 2023, von denen 11 Provinzen betroffen waren, wurden unzählige Menschen obdachlos. Insbesondere Frauen, die seitdem in Zeltstätten oder Containersiedlungen leben, erlitten Gewaltvorfälle. Die Frauenorganisation Mor Çatı („Lila Dach“), die fünf Monate nach dem Erdbeben zwei Berichte erstellte, schreibt, dass trotz der verstrichenen Zeit nicht einmal die Grundbedürfnisse der Frauen befriedigt worden seien und dass die Frauen in den Lagern keinerlei Zugang zu Gewaltschutzmechanismen hätten.

In dem Bericht wird folgendes Beispiel dargelegt: „Die Lebensbedingungen in Zeltstädten machen die Gewalterfahrungen von Frauen noch dramatischer. Eine Migrantin, die mit ihren Kindern in einer Zeltstadt lebte und eine Verfügung erwirkte, die es ihrem Mann untersagte, sich ihr zu nähern, berichtete, dass sie im Zelt weiterhin Gewalt durch ihren Mann ausgesetzt war. Als Reaktion auf den Angriff im Zelt wurde eine neue einstweilige Verfügung erlassen, indem die Zeltnummer in das Zeltnummernprotokoll eingetragen und eine Entscheidung erlassen wurde, dass sich der Mann dem Zelt nicht nähern dürfe. Der Mann hielt sich weder an die einstweilige Verfügung, noch hörten die Drohungen gegen die Frau auf. Die Frau konnte keine Unterstützung durch einen Dolmetscher erhalten, erreichte nicht die Polizei und konnte aufgrund ihres Status als Migrantin und der Anzahl ihrer Kinder nicht verlegt werden. Sie verblieb in der Zeltstadt.“

Einem im August von der Ärztekammer veröffentlichten Bericht zufolge hatten Frauen in den Lagern keinen Zugang zu ihrem Recht auf Gesundheitsversorgung, und allein in Hatay wurden der Direktion für soziale Dienste 2.000 Fälle von Gewalt an Frauen gemeldet.

Gewaltschutzparagraph 6284 wird in Frage gestellt

Während die Gewalt gegen Frauen zu Hause, auf der Straße und in Erdbebengebieten weiterhin anhält, fanden die Wahlen vom 14. und 28. Mai inmitten von Diskussionen über das Gesetz Nr. 6284 statt. In diesem Gesetz ist der Schutz von Frauen und die Bestrafung von Tätern geregelt, unter anderem durch ein Annäherungsverbot für Gewalttäter und Schutzmaßnahmen für die Opfer. Dabei sind Maßnahmen von materieller Unterstützung bis hin zu einer neuen Identität für die Frauen definiert.

In ihren Koalitionsgesprächen mit der AKP forderte die Yeniden Refah Partisi (YRP) die Abschaffung des Gesetzes Nr. 6284 über den Schutz der Familie und die Verhinderung von Gewalt gegen Frauen und ging unter dieser Bedingung eine Allianz ein. Die islamistische Hüda Par, ebenfalls Bündnispartnerin der AKP, gab ebenfalls eine öffentliche Erklärung zu diesem Thema ab: „Wir haben der Presse bereits mitgeteilt, dass die Istanbul-Konvention die Wurzeln der Familie zerstört und dass das Gesetz Nr. 6284, auch wenn es als Gesetz zum Schutz der Familie bezeichnet wird, die Gewalt nicht verhindert.“ Die YRP, die die Debatte über das Gesetz Nr. 6284 eröffnet hat, hat fünf Abgeordnete und die Hüda Par dank der Volksallianz drei Abgeordnete in das Parlament entsandt. Das Familienministerium bezeichnete das Gesetz 6284 immer wieder als „Risiko“ für die Familie und bereitet offenbar eine Änderung des Gesetzes vor.

Auch die AKP hat sich immer wieder gegen das Gewaltschutzgesetz geäußert, und es droht in dieser Legislaturperiode gekippt zu werden. Der neue Justizminister Yılmaz Tunç (AKP) wies nach den Wahlen darauf hin, dass eine Verfassungsreform bevorstehe und man das „Zivilgesetzbuch von Grund auf neu schreiben“ werde. Er stellte in diesem Zusammenhang auch die Unterhaltszahlungen an Frauen zur Disposition.