„Neues Vollzugsgesetz ist Amnestie für Frauenmörder und Vergewaltiger“

Das neue Vollzugsgesetz in der Türkei kommt einer Amnestie für Frauenmörder und Vergewaltiger gleich, sagt die Aktivistin Tuana Gençer und kündigt entschlossenen Widerstand an.

Am 31. Juli tritt das neue Vollzugsgesetz in der Türkei in Kraft. Es handelt sich um ein Paket neuer Straferleichterungen für die meisten Delikte jenseits politischer „Straftaten“. Sogenannte „Terrorstraftaten“ sind ausgenommen, während Mord, Drogenhandel und sexualisierte Gewalt de facto als Bagatelldelikte abgehandelt werden. So soll eine Person, die 20 Jahre wegen Mord erhalten hat, nur drei Jahre und fünf Monate im geschlossenen Vollzug bleiben müssen. Eine Person, die zu zwölf Jahren und sechs Monaten wegen Drogenhandel verurteilt wurde, soll nach fünf Monaten aus dem geschlossenen Vollzug entlassen werden. Bei einer Gefängnisstrafe von zehn Jahren wegen sexualisierter Gewalt kann der Täter schon nach neun Monaten auf freien Fuß gelangen.

Das Leben von Frauen steht auf dem Spiel“

Tuana Gençer von der Frauenplattform „Wir werden Frauenmorde stoppen“ (Kadın Cinayetlerini Durduracağız Platformu, KCDP) kritisiert, dass die Opfer männlicher Täter nicht einmal informiert werden sollen, wenn ihre Peiniger auf freien Fuß gelangen: „Die Tatsache, dass Frauenmörder und Vergewaltiger von Kindern von Straflosigkeit profitieren, zeigt, was eigentlich beabsichtigt ist. Diese Regelung beinhaltet nicht einmal, dass die Frauen und Kinder informiert werden, wenn ihre Angreifer oder Vergewaltiger auf Bewährung entlassen werden. In der Istanbul-Konvention heißt es aber explizit, dass die Frauen informiert werden müssen. Auch in der Verordnung während der Pandemie war das so. Wir wurden während der Pandemie nicht informiert, und wir haben die Folgen davon gesehen. Frauen sollten auf jeden Fall benachrichtigt werden, wenn diese Männer zur Bewährung freigelassen werden. Denn hier steht das Leben von Frauen auf dem Spiel.“

Die Täter werden von den Äußerungen der Regierung bestärkt“

Gençer sieht in der Regelung einen direkten Angriff auf das Recht auf Leben von Frauen und sagt: „Die Tatsache, dass Mörder von Frauen durch Amnestien freikommen, während politische Gefangene weiterhin im Gefängnis einsitzen, führt dazu, dass Frauen als leicht zu töten betrachtet werden. Die Täter schöpfen aus solchen Gesetzen und den frauenfeindlichen Reden der Regierung Kraft und betrachten Frauen als leichte Opfer. Es ist nie nur ein Mann der Mörder.

Frauen werden von den Sicherheitskräften nicht ernst genommen“

Wenn wir zur Polizei gehen, erleben wir als Frauen verschiedene Schwierigkeiten und werden von den Vollzugsbeamten zurückgeschickt. Wir wenden uns an die Gerichte, und es werden uns Steine in den Weg gelegt. Die Regierung stützt die Täter mit ihrer frauenfeindlichen Politik und ihren frauenfeindlichen Äußerungen. Das führt dazu, dass Frauen Gewalt ausgesetzt sind oder ermordet werden. Diejenigen, die die Rechte von Frauen nicht schützen, finden auch die Mörder von Deniz Özarslan oder von Ezgi Zerkin nicht. Aber alle, die ihre legitimen verfassungsmäßigen Rechte wahrnehmen, können sofort verhaftet werden. Die Gesellschaft ist sich dieses doppelten Standards bewusst.“

Nun wird das Frauenschutzgesetz 6284 angegriffen

Nach dem Austritt aus der Istanbul-Konvention greift das türkische Regime nun das Frauenschutzgesetz 6284 an. In dem Gesetz ist der Schutz von Frauen und die Sanktionierung von Tätern, unter anderem durch ein Annäherungsverbot für Gewalttäter und Schutzmaßnahmen für die Opfer, geregelt. Dabei sind Maßnahmen von materieller Unterstützung bis zu einer neuen Identität für die Frauen definiert. Auch dieses Gesetz ist dem islamistischen AKP/MHP-Regime ein Dorn im Auge. Gençer kommentiert: „Wenn wir sagen, dass wir für unser legitimes Recht kämpfen, geht es konkret um unser Recht auf Leben. Nach den Wahlen stellen wir fest, dass diejenigen, die behaupten, es sei sehr wichtig, dass Kinder lernen, und dass sie der Beteiligung von Mädchen an der Bildung große Bedeutung beimessen, gegen geschlechtergemischte Ausbildung sind. Und sie tun so, als ob ihnen die Bildung der Mädchen am Herzen liege. Wurden denn Untersuchungen und Kontrollen bezüglich der Kinder durchgeführt, die nicht zur Schule geschickt werden? Nein, das ist nicht passiert. Die Tatsache, dass Mädchen nicht zur Schule geschickt werden und dass der Teilnahme von Frauen am Geschäftsleben verschiedene Hindernisse in den Weg gelegt werden, ist in Wirklichkeit ein Indikator dafür, dass man versucht, uns nach und nach aus dem öffentlichen Raum und dem Bildungsleben zu entfernen. Das Gesetz 6284 wird attackiert. Diejenigen, die ihre Unterschrift unter der Istanbul-Konvention, die konkret das Leben von Frauen rettet, rechtswidrig zurückgezogen haben, haben nun das Gesetz 6284 ins Visier genommen, ein Gesetz, das ebenfalls das Leben von Frauen schützt. Sie versuchen, das Gesetz durch Neuregelungen abzuschaffen."

Keine Frau soll sich fürchten“

Gençer betont, dass sich keine Frau einschüchtern lassen soll, und sagt abschließend: „Wir denken, es ist leicht zu erkennen, dass das Recht der Frauen auf Leben von allen Seiten angegriffen wird. Als Gesellschaft und als Frauen werden wir uns organisieren, um diese Angriffe abzuwehren. Von hier aus möchte ich allen Frauen, die sich angesichts dieser Angriffe allein fühlen, sagen: Habt keine Angst, es gibt die Frauenräte. Ihr könnt unsere Hotline zu jedem Thema erreichen. Ihr könnt gemeinsam mit uns kämpfen. Wir werden uns immer weiter organisieren, kämpfen und uns mit unserem organisierten Kampf gegen sie stellen. Habt also keine Angst; die Frauen werden niemals allein stehen. Frauen und Mädchen werden studieren. Frauen werden weiterhin im Geschäftsleben, im öffentlichen Bereich und in allen Lebensbereichen existieren. Wir werden nicht zulassen, dass das Gesetz 6284 angetastet wird.“