Vor zwei Jahren wurde das „Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt", die sogenannte Istanbul-Konvention, durch die Entscheidung von Präsident Tayyip Erdoğan in der Türkei außer Kraft gesetzt. Die Türkei war das erste Land, das die Konvention am 11. Mai 2011 unterzeichnete und am 24. November 2011 im Parlament ratifizierte.
Erdoğan hatte bereits im Februar 2020 eine „Überprüfung“ des Abkommens angekündigt. Parallel dazu erklärten verschiedene islamische Orden und Gemeinden, die Istanbul-Konvention zerstöre die Familienstruktur und schaffe eine rechtliche Grundlage für Homosexualität. Am 20. März 2021 erließ Erdoğan ein Dekret zu Annullierung der Konvention. Der Austritt aus der Konvention trat am 1. Juli 2021 in Kraft. Sie war Teil der frauenfeindlichen Politik der AKP-Regierung und führte zu einer Zunahme der Gewalt gegen Frauen.
Mindestens 600 Femizide
Laut einem Bericht, den die CHP-Abgeordnete Candan Yüceer am 8. März 2023 auf einer Sitzung der parlamentarischen Kommission für die Chancengleichheit von Frauen und Männern vorstellte, wurden unter der AKP-Regierung 7.990 Frauen von Männern ermordet. In den zwei Jahren seit der Aufhebung der Istanbul-Konvention sind in der Türkei mindestens 600 Frauen ermordet worden und mindestens 400 Frauen auf verdächtige Weise ums Leben gekommen. Diese Zahlen gehen aus Statistiken der Frauennachrichtenagentur JinNews, der Plattform „Wir werden Frauenmorde stoppen“ und weiterer Institutionen hervor.
In der ganzen Türkei gingen Frauen gegen die Aufkündigung der Konvention auf die Straßen und erklärten die Entscheidung für ungültig. Es wurden Kampagnen geführt und von Frauenorganisationen, Oppositionsparteien, Anwaltskammern und NGOs Klagen beim Staatsrat, dem obersten Verwaltungsgericht der Türkei, eingereicht. Der Staatsrat befand die Entscheidung von Erdoğan für gesetzeskonform und wies die Klagen ab.
„Frauen sind gemeinsam stark“
Özengül Ergün von der Organisation „Frauen sind gemeinsam stark“ sagt, dass der Kampf gegen Gewalt an Frauen und für den Erhalt der Istanbul-Konvention weitergeht. In einer Bewertung der Ereignisse in den zwei Jahren seit der Aufkündigung des Abkommens erklärte die Aktivistin gegenüber MA, dass sie die Konvention nicht aufgegeben haben: „Die Regierung, die die Istanbul-Konvention gekündigt hat, unsere Rechte und Errungenschaften angreift und mit frauenfeindlichen Diskursen tagtäglich Männlichkeit reproduziert und stärkt, ist für die weit verbreitete Männergewalt verantwortlich. Alle, die dazu schweigen und die Augen verschließen, sind verantwortlich für das, was wir durchmachen. Natürlich werden wir sie zur Rechenschaft ziehen. Sie werden zur Rechenschaft gezogen werden für die männliche Gewalt, die sie normalisieren, für die Angriffe auf das Lebensrecht von LGBTI+-Personen und für ihre menschenfeindliche Politik, für die Täter, die sie freisprechen, und für die Frauen, die wir verloren haben. Wir werden die Straßen, Plätze und Gerichtssäle nicht verlassen und unsere Rechte einfordern. Wir werden unseren Wunsch nach einer gleichberechtigten und freien Welt und unserem Leben nicht aufgeben."
Istanbul-Konvention als völkerrechtlich verbindliches Instrument
Die Istanbul-Konvention ist ein vom Europarat 2011 ausgefertigter Vertrag, der 2014 in Kraft getreten ist. Sie ist auf europäischer Ebene das erste völkerrechtlich verbindliche Instrument zum Schutz von Frauen, Mädchen und LGBTI+ (Lesben, Schwule, Bisexuelle, Trans- und Intergeschlechtliche Menschen) gegen jede Form von Gewalt. Das Abkommen verankert das Menschenrecht auf ein gewaltfreies Leben, definiert Gleichstellungsmaßnahmen und fordert finanzielle Mittel für Gewaltschutz und Gewaltprävention.