Bürgermeister als „Terrorist“ verurteilt
Im Rathaus von Dersim (tr. Tunceli) halten Menschen seit zwei Tagen Wache, um eine staatliche Zwangsverwaltung zu verhindern. Der Ko-Bürgermeister Cevdet Konak (DEM-Partei) ist am Mittwoch wegen vermeintlicher Mitgliedschaft in einer Terrororganisation zu sechs Jahren und drei Monaten Freiheitsstrafe verurteilt worden. Im selben Verfahren wurde auch der Bürgermeister der Kreisstadt Pulur (Ovacık), Mustafa Sarıgül (CHP), zu einer Haftstrafe verurteilt. Im Rathaus in Dersim harren seitdem Tag und Nacht Menschen aus der Provinzhauptstadt aus, darunter auch die Ko-Bürgermeister:innen Birsen Orhan und Cevdet Konak, die DEM-Abgeordnete Ayten Kordu sowie Vertreter:innen des Parteienbündnisses für die Kommunalwahl im März dieses Jahres. Bei der nächtlichen Wache wurden bis zum frühen Morgen Lieder gesungen.
Tagsüber statteten viele weitere Politiker:innen und Anwohner:innen einen Solidaritätsbesuch im Rathaus ab. An dem Gebäude hängt ein Banner mit der Aufschrift „Wir sind mit Wahlen gekommen und werden wegen einem Zwangsverwalter nicht gehen“. Nach einem Protestzug durch die Stadt erklärte der Ko-Vorsitzende der sozialistischen Partei ESP, Murat Çepni, auf dem Seyit-Rıza-Platz, dass die Bürgermeister von Dersim und Pulur in einem offensichtlich politisch motivierten Prozess verurteilt worden seien. Das Urteil stelle einen Staatsstreich gegen den Wählerwillen dar.
„Kampf für direkte Demokratie“
„Die AKP/MHP-Regierung will sich mit einer despotischen Politik gegen die Völker an der Macht halten. Der Widerstand gegen Zwangsverwaltung ist ein Kampf für direkte Demokratie. Wenn wir diesen Kampf gewinnen, gewinnen wir auch unser Brot, unsere Freiheit und unsere Zukunft. Die Sicherheitskräfte der Regierung können unsere Rathäuser besetzen und unsere Bürgermeister können verurteilt werden, aber der Wille des Volkes wird niemals kapitulieren“, sagte Çepni und rief zur Unterstützung des Widerstands auf.
Hintergrund: Seit acht Jahren Zwangsverwaltung in der Türkei
Von der DEM und ihrer Vorgängerpartei HDP regierte Städte und Gemeinden werden seit acht Jahren nach jeder Kommunalwahl vom türkischen Innenministerium unter Zwangsverwaltung gestellt. Viele Bürgermeister:innen wurden verhaftet, Dutzende von ihnen leben inzwischen im Exil in Europa.
Fünf kurdische Bürgermeister:innen abgesetzt
Die Bürgermeister von Dersim und Pulur sind weiter im Amt. Die Urteile gegen sie sind noch nicht rechtskräftig, werden jedoch als Vorbereitung auf die Ernennung von staatlichen Treuhändern in den Gemeinden gesehen. Seit den Kommunalwahlen am 31. März 2024 sind bisher fünf Bürgermeister:innen des Amtes enthoben und durch Zwangsverwalter ersetzt worden.
Der erste verhaftete Bürgermeister nach den Wahlen war der kurdische DEM-Politiker Mehmet Sıddık Akış in Colêmerg (Hakkari), der im Juni in einem politischen Prozess zu fast zwanzig Jahren und vor zwei Tagen in einem ähnlichen Verfahren zu weiteren neun Jahren Haft verurteilt wurde.
Ende Oktober ist der Bürgermeister des Istanbuler Stadtbezirks Esenyurt, Ahmet Özer (CHP), als angebliches Mitglied einer Terrororganisation suspendiert und verhaftet worden. Das Rathaus von Esenyurt wurde unter Zwangsverwaltung gestellt, das türkische Innenministerium ernannte den stellvertretenden Gouverneur von Istanbul zum Treuhänder. Esenyurt ist ein großer Bezirk, in dem viele Kurdinnen und Kurden leben. Auch der CHP-Politiker Ahmet Özer ist Kurde, ihm werden vermeintliche Verbindungen zur PKK vorgeworfen.
Am 4. November wurden die Ko-Bürgermeister:innen Gülistan Sönük in Êlih, Ahmet Türk in Mêrdîn (Mardin) und Mehmet Karayılan in Xelfetî (Halfeti) des Amtes enthoben. Der frühere Parlamentsabgeordnete Ahmet Türk ist in der Provinzhauptstadt Mêrdîn bereits zum dritten Mal zum Oberbürgermeister gewählt und durch einen staatlichen Zwangsverwalter ersetzt worden.
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