Wie sah das Jahr 2023 rückblickend aus?
Bevor ich auf Ihre Frage eingehe, möchte ich anmerken, dass die YJA Star 2023 ihr dreißigjähriges Bestehen gefeiert haben. Rêber Apo hat das größte Werk unseres seit fünfzig Jahren andauernden revolutionären Marsches bewirkt. Aus diesem Anlass richte ich ihm unsere Grüße und unsere Liebe aus.
Derzeit wird auf Imrali ein massiver Krieg gegen Rêber Apo geführt. Für uns Frauen steht seine Person für Existenz, Identität und Freiheit. Ein Leben ohne Rêber Apo kommt für uns nicht in Frage. Dafür steht auch die internationale Kampagne „Freiheit für Öcalan und eine politische Lösung für die kurdische Frage“, an der sich die politischen Gefangenen mit einem Hungerstreik beteiligen. Als Guerilla der YJA Star verneigen wir uns vor dem Widerstand dieser Genossinnen und Genossen.
2023 war ein äußerst schwieriges Kriegsjahr, das grob gesagt unter der Ägide der Fedai bewältigt wurde. Allgemein waren es Frauen, die im Krieg und im Widerstand die Führung übernommen haben. Der totale Vernichtungskrieg des türkischen Besatzerstaates gegen unsere Befreiungsbewegung, der unter dem Etikett „Zersetzungsplan“ (tr. „Çöktürme Planı“, sinngemäß „In die Knie zwingen“: 2014 noch während des Dialogprozesses mit Abdullah Öcalan von Ankara hervorgebrachtes militärisches und politisches Vernichtungskonzept gegen die kurdische Gesellschaft) geführt wird, dauert auf höchster Ebene an. Diese Situation setzte sich auch während der Erdbebenserie im Februar fort, die in großen Teilen Kurdistan betraf. Die Besatzer haben ihre Angriffe trotz dieser Katastrophe intensiv fortgesetzt. Die YJA Star und HPG hingegen gingen nach einem Aufruf der KCK, angesichts dieses Unglücks, das über die Gesellschaft hereinbrach, und aufgrund der Wahlen eine Feuerpause einzulegen, zur passiven Verteidigung über.
Die Einstellung aller militanten Aktionen dauerte teilweise auch bis zu vier Monate nach den Wahlen in der Türkei noch an. Für das Land und die Regierung in Ankara bot sich damit eigentlich eine greifbare Chance, die kurdische Frage zu lösen. Die Realität sah jedoch anders aus und das Regime hielt an seinen brutalen Angriffen in allen Teilen Kurdistans – von Şengal bis nach Rojava – unbeirrt fest. Gleichzeitig wurden im Norden etliche Festnahmewellen durchgeführt und der politische Vernichtungsfeldzug nahm deutlich an Fahrt auf. Gegen das Zerstörungskonzept des Feindes begingen wir als YJA Star das Jahr mit der Inspiration, die wir vom Vorsitzenden erhalten haben. Mit Eigenkraft wurde 2023 von den YJA Star in ein Jahr des Widerstands verwandelt.
2023 wurde der türkische Staat mit eindeutigen Beweisen einer ganzen Reihe von Kriegsverbrechen gegen die Freiheitsguerilla Kurdistans überführt. Wie haben sich die Aktionen Ihrer Kräfte gegen diese Angriffe entwickelt?
Die Geschichte des faschistischen türkischen Staates ist immens reich an Verbrechen. Es gibt keinen anderen Staat auf der Welt, der von solch einer verbrecherischen Geschichte durchzogen ist, denn seine Existenz fußt auf der Vernichtung von Gesellschaften, Religionen und Kulturen. Diese Realität kennen wir nur allzu gut. Es handelt sich um einen Staat, der sogar seine eigenen Soldaten verbrennt. Derweil wurden gegen die Guerilla wieder chemische Kampfstoffe und andere geächtete Waffen eingesetzt. Das unausgesprochene Ziel war es, den Willen der Guerilla zu brechen. Doch erneut offenbarte sich die Realität, dass sich die Guerilla, die auf der Linie von Rêber Apo kämpft, nicht besiegen lässt. Der Feind kann den Willen der Guerrilla nicht brechen. Und weil er nicht in der Lage ist, den Sieg für sich zu entscheiden, greift er das Volk an.
Diese Angriffe äußern sich etwa dadurch, dass die sterblichen Überreste unserer im Krieg gefallener Weggefährtinnen und Kameraden ihren Familien in Plastikbehältern ausgehändigt werden. Unsere Gefallenen sind uns heilig. Sie sind unsere Würde und auch die des Volkes. Ihre in Kisten gepackten Leichen per Post an ihre Angehörigen zu verschicken, stellen Angriffe auf den Willen unserer Bevölkerung dar. Auch das sind Kriegsverbrechen. Unsere Familien wissen um diesen Umgang des Feindes, und sie wissen, dass sich in diesen Kisten die Würde des kurdischen Volkes und sein Wunsch nach Freiheit verbirgt. Und mit genau diesem Bewusstsein kämpft die Guerilla. Mit jeder oder jedem Gefallenen, die wir zu verzeichnen haben, steigt unsere Wut und unser Bedürfnis nach Vergeltung. Die YJA Star kanalisieren diese Wut in effektive Aktionen.
Sie bezeichnen die YJA Star als eine Kraft der Vergeltung. Nach dem Gefallenentod von Leyla Sorxwîn, die zum Kommandorat Ihrer Verbände gehörte, hat sich die Art des Krieges verändert und der Grad der Rache hat eine Steigerung erfahren. Wie kam dieser Geist bei den YJA Star zum Vorschein?
Ich gedenke mit Ehrfurcht Leyla Sorxwîn, der Kommandantinnen Axîn Mûş, Hêjar Zozan, Gulçiya Gabar, Baharîn Efrîn, Hevala Dilgêş und aller anderer Gefallener, die 2023 ihr Leben ließen. Zu Ihrer Frage: Der türkische Besatzerstaat versuchte die Strategie umzusetzen, die Guerilla aus dem nördlichen Kurdistan zu vertreiben. Der Widerstand der Gefallenen setzte diesem Vorhaben Schranken. Leyla Sorxwîn war bereits seit den Anfängen der autonomen Frauenguerilla im Widerstand. Sie ging in Botan in die Berge und war eine der führenden Kommandantinnen, die Großes für die Frauenarmee der Guerilla leistete. Ihre Haltung war immer ein Beispiel für uns. Hevala Leyla war eine Persönlichkeit, die den Widerstand sowohl im Krieg als auch im Alltag immer auf ein höheres Niveau brachte. Als wir die nach ihr benannte revolutionäre Guerillaoperation einleiteten, wurden wir damit konfrontiert, dass es eine tiefe Verbundenheit zu der von Leyla geschaffenen Linie gab. Alle Gefallenen verdeutlichen die Existenz dieser Linie. Die YJA Star hat das Jahr 2023 damit verbracht, in den Spuren unserer Kommandantin zu wandern und die Gefallenen zu rächen.
Was können Sie über die wirksamen Aktionen der YJA Star im zu Ende gehenden Jahr sagen?
Als YJA Star haben wir prägende Aktionen umgesetzt und eine führende Rolle im Krieg gespielt. Die Widerstandslinie wurde durch die Fedai-Aktionen von Sara, Rûken, Rojhat und Erdal nochmal gefestigt. Diese Aktionen haben eine große Moral geschaffen und eine wichtige Botschaft an den Feind gesendet. Der Feind wollte den Völkermord an den Kurdinnen und Kurden vollenden, indem er den Krieg aus der Türkei herausführte, ohne dass jemand Notiz davon nahm. Die Fedai von Rêber Apo ließen dies jedoch nicht zu. Im Jahr 2023 spielten die Einheiten der YJA Star vor allem im Krieg an der Westfront der Zap-Region eine führende Rolle. So wurden beispielsweise Offensivangriffe, Überfälle und koordinierte Aktionen durchgeführt.
Gerade im Gebiet Şehîd Delîl wurden viele Pionierinnen sichtbar. Eine von ihnen war Hevala Doğa. Ich gedenke ihrer mit Respekt. Sie war verantwortlich für die mobilen Einheiten, ihre Aufgaben erfüllte sie sowohl im Geländekrieg als auch in den Widerstandstunneln zielorientiert und wirkungsvoll. Sie beteiligte sich an etlichen Aktionen. Die Kräfte der YJA Star haben sich sowohl verteidigt als auch den Feind angegriffen. Das ist wichtig. Viele Taktiken, vom Einsatz schwerer Waffen bis hin zur Sabotage, sind von weiblichen Kämpferinnen geprägt worden. Hier zeigte sich die Kompetenz der Frauen. Im Vergleich zum letzten Jahr war das Niveau des Krieges und des Widerstands in diesem Jahr viel höher. Das Know-how der Frauen im Krieg ist fortgeschrittener und dadurch entscheidend. Die YJA Star haben die Kriegsführung verinnerlicht. Im Norden, in Metîna, Avaşîn, Xakurke, Zap waren es Frauen, die an der vordersten Front des Krieges standen. Bei der Aktion Girê Cûdî zum Beispiel drangen die Genossinnen in die feindlichen Stellungen ein und beschlagnahmten die Waffen der Besatzer. Das ist sehr wichtig. Insgesamt 510 Aktionen haben die YJA Star 2023 durchgeführt.
Die letzte Frage: Wie bewerten Sie das Jahr 2023 und was sind Ihre Ziele für 2024?
So wie 2023 ein Jahr des Krieges war, wird auch das bevorstehende ein solches sein. Die Kampagne „Freiheit für Öcalan und eine politische Lösung für die kurdische Frage“ dauert an. Als YJA Star sehen wir uns verantwortlich für den Erfolg dieser Initiative. Die Isolation gegen Rêber Apo inakzeptabel. Wir kämpfen für das Ende der Isolation und die physische Freiheit unseres Vorsitzenden. Wir werden niemals zurückweichen. Wir werden jeden Preis zahlen, der nötig ist, aber die Freiheit werden wir in jedem Fall erreichen. Der Stil und die Taktik der gegenwärtigen Phase wurde von den Freunden Rojhat und Erdal am 1. Oktober in Ankara vorgegeben. Dieses Jahr werden wir in der Linie von Zîlan, Sara und Rûken kämpfen. Dies ist die Angriffsart dieser Zeit. Wir werden nichts anderes als Erfolg akzeptieren. Es wird ein erfolgreiches Jahr für die YJA Star sein. Gewiss wird es schwierige Phasen geben, denen wir mit Widerstand begegnen – so wie es Leyla Sorxwîn und Axîn Mûş taten. Wir haben einen hohen Preis auf dem Weg zum Erfolg gezahlt, aber wie hoch der Preis auch sein mag, der Sieg wird unser sein. Auf dieser Grundlage sind wir bereit für das neue Jahr.