Mit einem von Präsident Tayyip Erdoğan am 20. März 2021 unterzeichneten Dekret trat die Türkei aus der Istanbul-Konvention aus, die als Ergebnis eines langen und entschlossenen Kampfes von Frauen für ihre Rechte unterzeichnet worden war. Viele Frauen und Frauenorganisationen legten beim türkischen Verwaltungsgericht Einspruch gegen diese Entscheidung ein. Die 10. Kammer des Verwaltungsgerichts hat die Entscheidung trotz eines Antrags der Staatsanwaltschaft für rechtmäßig erklärt. Kürzlich befand auch das oberste Verwaltungsgericht der Türkei, dass der Rückzug des Landes aus der Istanbul-Konvention „im Einklang mit dem Gesetz“ stehe.
Frauen protestieren weiterhin gegen das Urteil. Die Ko-Vorsitzende der Demokratischen Partei der Völker (HDP) des nordkurdischen Bezirks Cizîr (tr. Cizre), Zilan Ecevit, sprach mit der Frauennachrichtenagentur JinNews über die Entscheidung. Ecevit sagt, dass die Regierung Angst vor dem Aufstand und dem Kampf von Frauen habe und die Frauen auseinanderbringen wolle. Der Kampf gehe aber trotz allen Drucks weiter.
„Es ist ein politisches Urteil“
Zilan Ecevit weist darauf hin, dass juristische Entscheidungen in der Türkei nach politischen Gesichtspunkten getroffen werden: „Die Istanbul-Konvention war seit langem ein Angriffsziel der Regierung. Das Urteil gegen die Istanbul-Konvention ist politisch. Die Entscheidung des Staatsrates ist nicht rechtens. Das Ministerium für Familie und Soziales erklärte, das Gesetz Nr. 6284 schütze die Rechte der Frauen und der Familie und daher bestehe kein Bedarf an der Istanbul-Konvention. Allerdings gibt es einen großen Unterschied zwischen der Istanbul-Konvention und diesem Gesetz. Die Istanbul-Konvention erkennt internationales Recht an, während sich das Gesetz Nr. 6284 nur auf nationales Recht bezieht. Es ist nicht ersichtlich, dass dieses Gesetz nach dem Austritt aus der Istanbul-Konvention umgesetzt wird. Im Jahr 2021, dem Jahr, in dem das Übereinkommen zurückgezogen wurde, wurden 280 Frauen ermordet. 227 weitere Todesfälle von Frauen sind verdächtig. 33 Frauen wurden ermordet, obwohl sie bei der Polizei gemeldet hatten, dass sie gefährdet sind. Es zeigt sich, dass Gewalt gegen Frauen und Feminizide mit dem Ausstieg aus der Istanbul-Konvention zugenommen haben."
„Feminizide werden legitimiert“
Frauen werden aufgrund der Politik der Regierung systematisch ermordet, unterstreicht Ecevit und erklärt weiter: „Die Ermordung von Frauen kann nicht losgelöst von der Politik der Geschlechterungleichheit betrachtet werden. Die Politik der Regierung versucht jedoch, Feminizide in einen persönlich-privaten Kontext zu stellen, oder gibt den Opfern eine Mitschuld. Auf diese Weise werden Feminizide legitimiert, darüber hinaus ebnet die Politik der Straffreiheit den Weg für weitere Gewalttaten gegen Frauen. Die Istanbul-Konvention wurde aufgehoben, um Frauen daran zu hindern, ihre Rechte einzufordern und sich gegen die Politik der Regierung auszusprechen. Nach dem Austritt der Türkei begann jedoch auch der Kampf der Frauen zur Verteidigung der Istanbul-Konvention. Seitdem haben die Frauen ihren Kampf ausgeweitet. Doch der Kampf ist noch nicht genug. Sowohl türkische als auch kurdische Frauen müssen gemeinsam kämpfen.“
„Sie wollen die Frauen auseinander bringen“
Durch die geplante Kopftuchregelung versuche die Regierung, einen Teil der Gesellschaft ihrer Rechte zu berauben. „Einer der Gründe für die Aufkündigung der Istanbul-Konvention war das Bestreben, LGBTI-Personen ihrer Rechte zu berauben“, sagt Ecevit und fügt dem hinzu: „Die Kopftuchregelung ist eine Fortsetzung davon. Es wird behauptet, dass die Rechte von Frauen, die Kopftuch tragen, geschützt werden sollen, aber in Wirklichkeit will man LGBTI-Personen ihre Rechte nehmen. Sie wollen mit diesen Diskussionen eine Spaltung der Frauen bewirken. Sie wollen die Frauen kategorisieren.“
„Sie wollen eine angepasste Frau schaffen“
Ecevit erklärt, die Regierung wolle eine „angepasste Frau“ schaffen: „Die Istanbul-Konvention wurde aufgekündigt, weil sie angeblich ‚die Institution der Familie zerstören‘ würde. Aber in Wirklichkeit wollen sie eine fügsame Frau schaffen. Die Rechte von Frauen, Kindern und LGBTI-Personen sind in der Türkei nicht geschützt. Gesetze und Rechtsvorschriften funktionieren nach ihren Vorstellungen. Wenn Menschen die Politik und das Denken der Regierung nicht akzeptieren, wird ihnen das Recht auf Schutz verweigert.“
„Der Aufstand der Frauen macht ihnen Angst“
Mit der Feststellung, dass der Kampf von Frauen ein universeller Kampf ist, kommt Ecevit schließlich zu folgender Einschätzung. „Frauen kämpfen am stärksten innerhalb der Gesellschaft. Der Kampf der Frauen führt zu einer Änderung des bestehenden Systems. Frauen werden weiterhin in der Gesellschaft am stärksten ausgebeutet, und ihre Rechte werden häufig verletzt. Trotz alledem kämpfen Frauen aktiv für ihre eigenen Rechte und gesellschaftliche Freiheit. Ihr Kampf spielt überall auf der Welt eine wichtige Rolle. Im Iran kam es nach der Ermordung von Jina Amini zu einem Volksaufstand. Dieser Aufstand macht den Staaten Angst, die die Frauen an ihr System binden wollen. Deshalb zielen sie darauf ab, dass sich die Frauen von den Straßen und Plätzen zurückziehen. Auf diese Weise wollen sie ihre Kämpfe unterdrücken.“