Mit einer Kundgebung unter der Losung „Unsere Rebellion wird verändern“ hat die Istanbuler Initiative „Frauen sind gemeinsam stark“ (KBG) an diesem Sonntag den Startschuss für ihr neues Kampfjahr gegeben. Die Türkei habe in den vergangenen zwei Jahrzehnten unter der AKP-Herrschaft einen dramatischen Wandel durchlebt, der nirgendwo so eklatant sichtbar sei wie bei den Frauen sowie anderer unterdrückter Geschlechter und der Beschneidung ihrer Rechte und Freiheiten, sagte die Aktivistin Cemile Baklacı im Namen der Gruppe. „Deshalb müssen wir unsere Kämpfe ausweiten, intensivieren und verstetigen. Nur durch entschlossenen Widerstand lassen sich unter diesem Regime Rechte erkämpfen und Errungenschaften von Frauen und LGBTI+ (Lesben, Schwule, Bisexuelle, Trans- und Intergeschlechtliche Menschen) verteidigen.“
„Lang lebe die Solidarität der Frauen“
Als Ort der Kundgebung wurde der Hafenplatz im asiatischen Stadtteil Kadıköy ausersehen. Die Polizei war mit deutlich mehr als 100 Beamten, darunter Mitglieder der sogenannten Anti-Aufruhr-Trupps, vertreten und zog eine Absperrung um die Zusammenkunft. Damit sollte eine Teilnahme gezielt erschwert werden. Die Demonstrierenden blieben unbeeindruckt und drängten die Polizisten zurück. An der Spitze positionierten sich Frauen von der kurdischen Gefangenensolidarität und dem Rat der Friedensmütter, um den Weg zum Hafenkai freizumachen. Unter den Teilnehmenden befanden sich auch Mitglieder der HDP-Fraktion im türkischen Parlament, darunter Züleyha Gülüm, Serpil Kemalbay, Oya Ersoy und Ebru Günay, sowie die Istanbuler HDP-Vorsitzende Ilknur Birol und Perihan Koca, Sprecherin der Gesellschaftlichen Freiheitspartei (TÖP).
„Freiheit für gefangene Frauen“
In der Mitte des Platzes wurde ein riesiges und kreativ gestaltetes Transparent ausgelegt, auf dem einige Schlagwörter zu lesen waren: „Wir halten an der Istanbul-Konvention fest“, „Kindesmissbrauch lässt sich nicht gesetzlich legitimieren“ und „Männer töten - Staat und Justiz schützen“. Auf anderen Spruchbannern standen Parolen wie „Nein zu diskriminierenden Verfassungsänderungen“, „Frauenmorde sind politisch“ und „Das Patriarchat wird verschwinden - Wir werden bleiben“. In eine Art Wahlurne warfen Beteiligte außerdem kleine Zettel ein, auf denen sie Wünsche für das neue „Kampfjahr“ vermerkt hatten. Im Anschluss verlas eine Aktivistin die Forderungen. Eine davon erklang besonders häufig durch das Mikrofon: „Die AKP und Männer loswerden.“
„Dinge, die wir in diesem Jahr hinter uns lassen wollen“
In Begleitung kurdischer Lieder wurde ausgiebig getanzt, die immer wieder gerufenen Parolen „Keine männliche Gerechtigkeit, wirkliche Gerechtigkeit“ sowie „Jin, Jiyan, Azadî“ ließen die Erde förmlich erzittern. Bevor Cemile Baklacı eine Erklärung der Initiative „Frauen sind gemeinsam stark“ verlas, nannte sie Namen von einigen Frauen und LGBTI+, die Opfer von Femizid geworden sind oder verschwunden gelassen wurden. Nach jeder Namensnennung riefen die Anwesenden lautstark „hier!“.
„Es lebe der Widerstand der Frauen“ und „Nicht zu patriarchaler Gewalt schweigen“
In dem anschließenden Statement betonte Baklacı: „Die AKP hat ein patriarchales Gewalt- und Zwangssystem installiert, das sich auf alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens auswirkt, und versucht mit allen Mitteln, ihr System aufrecht zu erhalten. Die Aufkündigung der Istanbul-Konvention ist der Gipfel der menschenverachtenden Politik dieses Regimes.“ Doch die Lebensdauer des Patriarchats sei nicht auf das Herrschaftssystem der AKP begrenzt, da die privat organisierte männliche Vorherrschaft die Lebensader des Patriarchats bilde. Daher sei es von existenzieller Bedeutung, den Widerstand gegen die patriarchale Macht, der den Kampf gegen das Patriarchat in der Familie, der Sexualität und Kontrolle über den Frauenkörper miteinschließt, an allen Fronten und damit in allen Lebensbereichen zu führen.
„Das Patriarchat wird verschwinden - Wir werden bleiben“
„Wir müssen das Patriarchat als Ganzes bekämpfen, um diesen Krieg in den Kampf um unsere Befreiung und für Frieden in diesem Land zu überführen. Dieser Kampf beinhaltet auch das Ringen um Gerechtigkeit für die entrechteten Geflüchteten und Migrant:innen, die Verteidigung der von Zwangsverwaltung und Verbotsverfahren betroffenen HDP, deren Mitglieder zu Tausenden im Knast sind, die Freiheit der politischen Gefangenen. Wir wollen unsere Freundinnen zurück – Şebnem Korur Fincancı, Mücella Yapıcı und viele andere, die in Geiselhaft gehalten werden. Und wir kündigen an: Durch unsere Rebellion wird eine neue Welt entstehen. Wenige Monate vor den Wahlen werden wir unsere Kämpfe ausweiten. Wir werden uns weiter auflehnen, gegen das ‚Ein-Mann-Regime‘, die Ungerechtigkeiten in diesem Land, die nicht enden wollenden Gesetzlosigkeiten und das Gefühl der Hoffnungslosigkeit, das unsere Schwestern erfasst. Unser Kampf wird erst enden, wenn ein neues Leben in Freiheit und Gleichberechtigung, frei von Gewalt und Ausbeutung, erreicht ist.“