YPJ-Kommandantin Rojîn Evrim: Was wir aus Kobanê gelernt haben

Eine andere Welt ist möglich, ein System, in dem alle sich selbst finden und sich frei fühlen können. Ein System, das auf der Freiheit von Frauen beruht, ist möglich, sagt die YPJ-Kommandantin Rojîn Evrim.

Vor vier Jahren waren die Augen der gesamten Welt auf Kobanê gerichtet, wo die Selbstverteidigungskräfte YPJ und YPG gegen den sogenannten Islamischen Staat (IS) kämpften. Die Befreiung Kobanês war nicht nur ein militärischer Sieg, sondern auch die Demonstration einer starken antifaschistischen Selbstverteidigung und ein Vorbild einer freien, auf Basisdemokratie und Frauenbefreiung beruhenden Gesellschaft. Der 1. November wurde als Welt-Kobanê-Tag ausgerufen, um das Erbe dieses Widerstandes geltend zu machen, der auf Selbstorganisierung von Frauen und einer breiten Partizipation der Menschen in der Verteidigung ihres Landes basiert. Die Erinnerung an Kobanê inspiriert viele dazu, den Kampf für die Befreiung Efrîns, gegen die Angriffe der Türkei, für die Freiheit Abdullah Öcalans und aller politischen Gefangenen fortzuführen, wie auch dazu, das Andenken an die Menschen, die im Kampf gefallen sind, lebendig zu halten.

Heute, vier Jahre nach dem Widerstand von Kobanê, geht der Widerstand gegen die Attacken des türkischen Staates weiter. Die jüngsten Angriffe haben bereits zu Toten geführt und Menschen gezwungen, ihr Zuhause zu verlassen; das türkische Militär feuert Mörser und schießt mit Panzern auf die grenznahen Dörfer bei Kobanê und Girê Spî.

Im ANF-Interview hat sich die YPJ-Kommandantin Rojîn Evrim, die auch in Kobanê gekämpft hat, zu dem damaligen Widerstand und der Rolle von Frauen dabei geäußert.

Was war deine Rolle in der Bewegung in der Zeit des Kobanê-Widerstands und wie hast du entschieden, dorthin zu gehen?

Als der Kampf um Kobanê anfing, war ich als Kommandantin der YPJ in der Nähe der Stadt eingesetzt. Ich habe mich dem Kampf am vierten Tag angeschlossen, als der IS noch außerhalb Kobanês in den umliegenden Dörfern war. Wir wollten sie dort mit den Kräften der YPG und YPJ und mit anderen Freiwilligen aus vielen verschiedenen Orten, speziell aus Nordkurdistan, aufhalten. Viele Frauen und junge Menschen kamen nach Kobanê, um als Freiwillige zu kämpfen.

Was war die Rolle der Frauen in Kobanê?

Für uns war es sehr wichtig, als Frauen unseren Platz im Krieg einzunehmen, weil wir wussten, dass der IS insbesondere Frauen angriff. Von anderen Orten wussten wir, dass der IS keine Grenzen der Unterdrückung von Frauen kennt, sie tötet und vergewaltigt. Deshalb war es für die Frauen so wichtig, an diesem Kampf teilzunehmen, um IS an der Front aufzuhalten. Weil wir nicht genügend Kräfte hatten, konnten wir IS nicht in den Dörfern aufhalten. Wir wiesen die Bevölkerung an, die Dörfer zu verlassen und ins Stadtzentrum von Kobanê zu kommen. Die Menschen aus den Dörfern warteten in einem Camp an der Grenze, um in den Norden Kurdistans zu gehen und die Stadt wurde sehr schnell leer. Auf der anderen Seiten der Grenze halfen viele Menschen weiterhin den kämpfenden Einheiten; sie gaben Informationen über Positionen des Feindes und halfen uns, uns zu koordinieren. Obwohl es nun sogar einfacher für den IS war, Kobanê zu erreichen, gab es in einigen Dörfern immer noch Widerstand, die Freundinnen und Freunde haben großartig gekämpft. Als der Krieg noch sehr am Anfang war, opferte eine Kämpferin sich selbst und stoppte den IS für einige Tage. Diese Art von Angriff war gegen den IS sehr effektiv. Aufgrund des Frauenbilds der Dschihadisten waren wir Frauen diejenigen, die sie stoppen mussten. Frauen verübten Sabotageaktionen, es gab Scharfschützinnen und Frauen, die schwere Waffen benutzten. Der IS wusste, dass er gegen Frauen kämpfte. Das machte die Dschihadisten wahnsinnig, denn für sie sind Frauen nur Körper, die benutzt werden und deren Zweck es ist, Kinder zu bekommen und für sie zu kochen. Wir haben das genutzt, um sie psychologisch zu zerstören. Sie denken, dass du direkt in die Hölle kommst, wenn du von einer Frau getötet wirst und das machte ihnen Angst vor den Kämpferinnen. Häufig versuchten sie die männlichen Freunde damit zu beschämen, dass diese sich hinter Frauen verstecken würden, dass sie nicht stark genug wären, um selbst zu kämpfen. Aber natürlich ließen die Freunde sich nicht provozieren und kämpften mit den Frauen gemeinsam.

Der IS kam nach dem Überfall auf Şengal nach Kobanê. Es war seine stärkste Zeit. Die Dschihadisten hatten viele schwere Waffen, auch chemische Waffen und Panzer. Es war nicht leicht, gegen sie zu kämpfen, da sie uns zahlenmäßig überlegen waren und stärkere Waffen hatten. Kobanê war umzingelt und es kam nichts von außerhalb in die Stadt. Es war nicht möglich, irgendwelche schweren Waffen zu bekommen, also mussten wir mit dem kämpfen, was wir hatten. Diese Ausgangslage war sehr schlecht; wir kämpften in den Häusern mit unseren Kalaschnikows, während sie das ganze Haus bombardierten. Keine guten Waffen zu haben, war ein sehr großes Problem und erlaubte es dem IS, Kobanê mit Panzern zu umzingeln. Aber in der Stadt konnten sie mit ihnen nicht schießen, weil sie eine größere Distanz zum Feuern brauchen. Später versuchten sie Miştenûr zu besetzen, ein strategisch wichtiger Punkt, von dem man ganz Kobanê sehen kann. Die Besatzung wurde zu einem Massaker, an einem Tag wurden mehr als 300 Freundinnen und Freunde verletzt und 100 sind gefallen. Da hat Arîn Mîrkan ihre Sacrifice-Aktion gemacht, um die IS-Panzer zu stoppen, was den Freund*innen viel Moral und Stärke gab, um ihren Kampf fortzuführen. Nachdem Miştenûr gefallen war, mussten wir uns sogar noch weiter zurückziehen. In diesem Moment waren 80 Prozent der Stadt unter der Kontrolle des IS. Wir schützten den Rest der Gegend, indem wir zunächst zur östlichen und westlichen Seite eine Grenze zogen, aber später kam der IS auch über die türkische Grenze. Unsere Einheiten haben sehr gut gekämpft und hielten stand, um den IS nicht passieren zu lassen. Um das Andenken an diesen Widerstand zu erhalten, wurde dieser Teil Kobanês so gelassen, wie er nach dem Krieg war, ohne Wiederaufbau.

Außerdem wurden Guerilla-Gruppen gebildet, die sich hinter die Linien des IS schlichen, um von dort aus anzugreifen. Während im Stadtzentrum gegen die Dschihadisten gekämpft wurde, waren andere Freundinnen und Freunde in den Dörfern, sprengten ihre Fahrzeuge, Panzer und ihre Waffendepots. Das verschaffte den in der Stadt kämpfenden Einheiten Luft. Nach einem Monat konnte schließlich Miştenûr befreit werden und die Situation wendete sich. Dieser Moment war für die Moral der Freundinnen und Freunde sehr wichtig. Es kamen mehr und mehr gute Nachrichten; Straße für Straße, Haus für Haus wurden ganze Nachbarschaften befreit und die Moral wuchs weiter. Von Anfang bis Ende des Krieges in Kobanê haben Frauen als YPJ gegen den IS gekämpft.

Die YPJ steht für die demokratische Moderne und kann deshalb nicht nur als eine Armee betrachtet werden. Die YPJ ist nicht nur eine wunderschöne Frauenarmee, sie steht für die Erinnerung an die natürliche Gesellschaft, die nun gegen die kapitalistische Moderne kämpft, den Feind. In der YPJ sind verschiedene Nationalitäten vertreten, nicht nur die kurdische, in den letzten Jahren sind neben anderen internationalen Frauen auch arabische Frauen beigetreten. Wir müssen dafür sorgen, dass sie in diesem Andenken zusammenkommen. Das gibt uns die Stärke zu kämpfen. Der beste Widerstand gegen IS war es, als Frauen zu kämpfen.

Wie hast du von dem Welt-Kobanê-Tag erfahren? Was bedeutet er für dich?

Im Krieg hatten wir nicht die Möglichkeit, die Nachrichten zu verfolgen. Das Einzige, was wir hörten, war dass Erdoğan sagte, Kobanê würde in drei Tagen fallen. Dadurch ist der Wille, nicht aufzugeben, nur noch stärker geworden. Viele Menschen haben erwartet, dass wir verlieren und viele Menschen wollten Abdullah Öcalans Ideen scheitern sehen. Das hat uns noch härter kämpfen lassen, wir haben es nicht geschehen lassen. Wir sind von Abdullah Öcalans Ideen inspiriert und von ihm haben wir gelernt, niemals aufzugeben. Kobanê ist eine kleine Stadt und wir hatten schon vorher viel gegen den IS gekämpft, daher wussten wir nicht, dass alle von Kobanê gehört hatten. Aber als ich verletzt und ins Krankenhaus gebracht wurde, erfuhr ich, dass es einen Welt-Kobanê-Tag gibt. Wir sahen, dass überall auf der Welt Demonstrationen für Kobanê stattfanden. Eigentlich hat dieser Angriff das kurdische Volk zusammengeführt und die Menschen dazu gebracht, sich zu unterstützen und gegenseitig zu helfen. Wenn wir von Kobanê reden, ist es wichtig, sich an die Menschen aus Nordkurdistan zu erinnern. Sie waren die ganze Zeit bis zum Sieg in Kobanê nahe der Grenze, machten Wachschichten, halfen Menschen aus Kobanê, gaben ihnen Moral und zeigten ihre Solidarität. Das war so wunderschön. Wegen der Politik des Feindes wurde Kurdistan zugunsten größerer Nationalstaaten in vier Teile zerteilt. Daher war es, als die Menschen aus allen Teilen Kurdistans durch die Angriffe zusammenkamen, wirklich wunderschön für uns. Viele Menschen kamen als Freiwillige, um in Kurdistan und Rojava zu kämpfen, und viele von ihnen sind gefallen. An viele wird sich jetzt nicht erinnert, aber wir müssen ihrer gedenken. Viele von ihnen haben keinen Namen auf ihrem Grab stehen, weil niemand sie kannte, als sie in Kobanê gefallen sind. Als wir in Kobanê gekämpft haben, war unser einziger Fokus, nicht aufzugeben. Denn wir wussten, wenn wir zulassen, dass sie uns in Kobanê schlagen, wäre es eine Niederlage für alle kurdischen Menschen und ebenso die Niederlage der Ideen Abdullah Öcalans. Daher war es sehr bedeutsam zu sehen, dass die Welt Rojava und Kobanê kennt, die Kämpferinnen, das kurdische Volk und die Kinder, die sich widersetzen. Es war für uns sehr bedeutsam zu wissen, dass es jetzt einen Tag gibt, um an Kobanê zu erinnern. Vor diesem Krieg wussten die Menschen nicht von Kobanê und Rojava, aber eigentlich herrschte dieser Krieg bereits vorher. Diese Zeit war sehr hart, denn viele sagten, dass wir verlieren würden. Und es wurde für die Menschen sehr interessant, den Krieg zu beobachten; einerseits war dort eine Terrororganisation und andererseits Frauen und junge Menschen, die Widerstand leisteten. Wir sahen auch die Solidarität von anderen Frauen in der Welt. Kobanê brachte die Frauen zusammen. Es war wie eine Quelle der Revolution, der Stärke und der freien Zukunft für Frauen. Daher schlossen sich nach Kobanê viele Frauen aus aller Welt der YPJ an, denn Kobanê hat uns alles gezeigt. In diesen Tagen, wenn wir an Kobanê erinnern, müssen wir die Ideen, für die wir kämpfen, fühlen, um eine freie Gesellschaft auf der Basis des Systems des demokratischen Konföderalismus zu schaffen. Diese Ideologie war sehr ausgeprägt und gab den Menschen die Kraft zu kämpfen.

Kurdische Menschen haben hier immer unter der Unterdrückung anderer Staaten gelebt. Daher ist es nach diesem unglaublichen Widerstand so schön zu sehen, dass der demokratische Konföderalismus nun begründet wurde. Eine andere Welt ist möglich, ein System, in dem alle sich selbst finden und sich frei fühlen können. Ein System, das auf der Freiheit von Frauen beruht, ist möglich. Und jetzt sehen wir, dass es in Rojava Wirklichkeit ist. Wir sehen die Strukturen des Systems, wir sehen Frauen, die sich früher nicht verteidigen konnten, aber nun die Kontrolle über ihr Leben haben und sich selbst ausdrücken können. Nach Kobanê wurde das Vertrauen der Menschen gegenüber der YPJ immer größer und wächst seitdem stetig. In Efrîn spielte die YPJ eine wichtige Rolle gegen den türkischen Staat. Die Freundinnen in Efrîn waren sehr gute Kämpferinnen, sie wichen nicht einen einzigen Schritt zurück. Ein gutes Beispiel ist Avesta Xabur, die eine wunderschöne Aktion gegen das „Gehirn” des Feindes machte. Wir erzählen nicht von ihrer Aktion, um zu zeigen, wie viele Menschen sie getötet hat, sondern um zu zeigen, dass Frauen niemals einen Schritt rückwärtsgehen. Die Rache, die der Feind nicht aus dem Kopf bekommen kann, versuchte er an ihren toten Körpern zu nehmen. Der Feind hat mit den Leichen von Frauen gespielt, aber all die Schnitte und Quetschungen haben ihnen nichts von ihrer Schönheit genommen.

Seit Beginn des Krieges haben wir offengelegt, dass der türkische Staat den IS unterstützt, ihn mit Waffen, Essen und Ausbildung versorgt. Alle können diese Allianz wahrnehmen, aber seit die anderen Staaten von der türkischen Regierung profitieren, sind sie einfach still geworden. Wir können den IS nicht deshalb von der türkischen Regierung separieren, weil die Türkei ein Nationalstaat ist, denn beide arbeiten auf die gleiche faschistische Weise. Beide sind Terroristen, beide attackieren Frauen, besetzen das Land der Menschen, unterdrücken und töten sie. In Efrîn werden wir weiter kämpfen und wir werden der türkischen Regierung dort niemals Ruhe lassen, niemals. Wir werden es nicht zulassen, dass sie den Kindern in der Schule die türkische Sprache lehren oder die Olivenbäume der Menschen fällen. Sie werden dort niemals einfach atmen können.