„Ein Dorn im Auge des Feindes“
„Tötet mich – aber ihr müsst auch wissen, dass nach meinem Tod Tausende von Kurden aus ihrem Tiefschlaf aufwachen werden. Ich bin froh, im Stolz für ein unabhängiges Kurdistan zu sterben!” – das waren die Worte Leyla Qasims an den Richter, der ihr Todesurteil sprach. Heute vor 50 Jahren wurde der Dorn im Auge der Baath-Partei unter der Herrschaft Saddam Husseins, wie Qasim in Kurdistan genannt wird, in Bagdad mit dem Strick gehenkt. Sie war die erste Frau, die im Irak hingerichtet wurde.
Leyla Qasim wurde 1952 in Xaneqîn geboren, wo sie auch aufwuchs. Sie war die Tochter einer faili-kurdischen Familie und kam schon in jungen Jahren mit den Ideen des Befreiungskampfes des kurdischen Volkes in Berührung. Den Sturz von dem damaligen Staatspräsidenten Abdul Rahman Arif durch die Baath-Partei erlebte Qasim als 16-Jährige. Sie war von der gewaltsamen Machtübernahme in der Hauptstadt verstört und schrieb zusammen mit ihrem Bruder Çiyako Pamphlete über die Schreckensherrschaft der Baathisten, die sie relativ schnell als Gegner der kurdischen Unabhängigkeit ausgemacht hatte.
1971 ging Leyla Qasim nach erfolgreichem Abschluss der Oberstufe in Xaneqîn zum Studieren nach Bagdad. Dort schrieb sie sich an der staatlichen Universität für Soziologie ein und trat schon bald der Union der kurdischen Studierenden und der Demokratischen Partei Kurdistans bei. Mit Gleichgesinnten ging sie zur Bevölkerung, stellte ihre ideologischen und politischen Ideale vor, warnte vor dem Klammergriff des Panarabismus, der die Kurdinnen und Kurden einer beabsichtigten Auslöschung entgegensteuerte, organisierte die Gesellschaft. Gleichzeitig wollte sie auch die internationale Aufmerksamkeit auf das Schreckensregime Saddam Husseins und den Widerstand des kurdischen Volkes dagegen lenken.
Leyla Qasim als Studentin in Bagdad (c) Archiv Sabiha Qasim
Am 24. April 1974 versuchten Leyla Qasim und ihre vier Freunde Jawad Hamawandi, Nariman Fuad Masti, Hassan Hama Rashid und Azad Sleman Miran, auf dem Flughafen von Bagdad ein Flugzeug zu entführen. Durch die Aktion wollte die Gruppe den kurdischen Kampf in den Fokus der Weltöffentlichkeit rücken. Der Coup missglückte und endete in einer dramatischen Festnahme. Das Regime von Saddam Hussein richtete einen Schauprozess gegen Leyla Qasim und ihre Freunde aus, ließ die juristische Farce im Fernsehen und Radio landesweit übertragen und sie schließlich wegen angeblichen Mordversuchs an dem Diktator zum Tode verurteilen. In Haft im Abu-Ghuraib-Gefängnis, das schon zu damaligen Zeiten wegen seiner Folter-Praktiken berüchtigt, schwer gefoltert und gequält, wurden die Fünf in den frühen Morgenstunden des 12. Mai 1974 in Bagdad erhängt.
Bevor Leyla Qasim hingerichtet wurde, so steht es in kurdischen Quellen, schaute sie ihrem Henker in die Augen und rezitierte die kurdische Nationalhymne „Ey Reqîb“ (deutsch: „O Feind“). Der 1986 in Mahabad verstorbene Dichter Hêmin Mukriyanî schrieb zu ihrem Andenken die Zeilen:
„In der Stille der Nacht bist du aus dem Blickfeld verschwunden,
Mein Mond verblasst unter dem Schatten deiner Haarpracht.
Majnun, achte nicht auf den flüchtigen Ruhm deiner Leyla,
Denn meine brennt hell mit einer zeitlosen Flamme.
Sie spottete: „Du, der Henker, bist blind, um zu sehen!“
Doch seine Verachtung ist nur ein Abzeichen, nicht Dekret.
Denn in den Annalen des Muts erhebe ich meinen Anspruch,
Eine Heldin, geboren aus Liebe zum Namen meines Volkes.“
Leyla Qasims Leiche wurde am Tag nach ihrer Hinrichtung ihren Eltern übergeben – die Augen hatte man ihr ausgestochen. Eine würdevolle Beisetzung wurde der Familie verweigert und so mussten die Eltern hinnehmen, dass die Tochter jenseits der Heimat in der südirakischen Stadt Nadschaf beerdigt wurde. Doch Leyla Qasims Tod mobilisierte eine ganze Generation von Frauen in Kurdistan, sich dem Widerstand gegen die Unterdrückung anzuschließen, auch wenn sie selbst nicht mit der Waffe in der Hand kämpfte. In Rojava blickt ihr Antlitz von der Wand in nahezu jeder Einrichtung der Frauenverteidigungseinheiten YPJ.