„Unsere Inspiration kam von den Guerillakämpferinnen“

Die PYD-Politikerin Sara Xelîl berichtet über die Geschichte des Frauenkampfs in Rojava, von klandestinen Versammlungen bis zur Revolution.

Die Revolution von Rojava ist weltweit als Frauenrevolution bekannt geworden. Eine entscheidende Rolle dafür spielt die Selbstorganisierung von Frauen in autonomen Frauenräten. Sara Xelîl ist Mitglied des Frauenrats der PYD (Partei der Demokratischen Einheit). Im ANF-Interview spricht sie über die Geschichte der Frauenrevolution von Rojava, die in Kobanê begann.


Könnten Sie uns zunächst etwas über die Zeit vor der Revolution erzählen?

So wie die Freiheitsbewegung eine Quelle der Inspiration für Millionen von Menschen war, war sie es auch für uns als Frauen in Rojava. Die Frauen, die im feudalen System der Gesellschaft verloren waren, sahen ihre Freiheit in der Philosophie des Apoismus. Tausende von Frauen, die von dieser Philosophie aufgeklärt worden waren, gingen in die Berge Kurdistans. Diese Frauen wurden zu unseren Pionierinnen. Şehîd Dicle war die erste Frau, die sich aus Kobanê angeschlossen hatte. Sie hat für uns eine großartige Grundlage geschaffen.

In Kobanê gab es aufgrund der dortige Stammesstruktur sehr harte und strenge Vorschriften für Frauen. Frauen spielten keine Rolle in der Gesellschaft und in der Familie. Entscheidend war der Mann. Vater, Bruder, Ehemann, das waren diejenigen, die über das Schicksal der Frauen entschieden. Damals waren Frauen, die sich der Freiheitsbewegung anschlossen, in der Gesellschaft nicht sehr gut angesehen. Die Frauen versuchten, dem Druck der Familie und des Staates zu widerstehen und zu kämpfen. Vielleicht lebten die Männer nur unter der Repression des Staates, aber die Frauen standen unter dem Druck des Staates, der Gesellschaft, der Familie und sogar ihrer Mütter. Eine Frau, die von ihrem Mann Gewalt erfuhr, vermittelte ihrer Tochter, dass dies auch ihr Schicksal sei und sie damit leben müsse.

Frauen, die der Philosophie von Rêber Apo [Abdullah Öcalan] und der Frauenbefreiungsideologie anhingen, begannen dagegen zu kämpfen. Sie entschieden sich, Widerstand zu leisten und gegen diese Art von Leben zu kämpfen. Die Frauen arbeiteten politisch, obwohl sie wussten, dass dies einen hohen Preis haben und Konsequenzen nach sich ziehen würde. Wir waren uns bewusst, dass neben der Familie auch der Staat großen Druck ausüben würde. Wenn damals eine Frau in Kobanê durch den Staat inhaftiert wurde, dann wurde das als große Schande empfunden. Dennoch nahmen Frauen an Aktivitäten und Demonstrationen teil. Sie lernten heimlich Lesen und Schreiben auf Kurdisch und brachten es anderen Frauen in ihren Vierteln bei. Wenn Frauen Treffen abhielten, taten sie das heimlich. Frauen hielten draußen Wache, bis die Sitzung beendet war. Trotz aller Schwierigkeiten bemühten sich die Frauen sehr darum, sich selbst wirklich kennenzulernen. Sie bestanden darauf, die Philosophie von Rêber Apo kennenzulernen. Obwohl sie von ihren Ehemännern und Vätern zu Hause daran gehindert wurden, versuchten sie alles, um an diesen Treffen teilzunehmen, und sie kamen. Auch hier verursachte der Staat zu viele Schwierigkeiten. Wenn es eine Aktion, eine Gedenkfeier oder eine Demonstration gab, setzte der Staat alle seine Agenten in Bewegung. Die Frauen waren sich all dessen bewusst. Obwohl sie wussten, dass sie verhaftet werden könnten, nahmen sie trotzdem an diesen Demonstrationen teil. Unsere Demonstrationen fanden meist am Abend statt. Die Menschen ließen die Türen ihrer Wohnungen währenddessen offen. Wenn der Staat angriff, konnten wir die Häuser leicht betreten und uns retten.

Wie hat sich diese Arbeit entwickelt?

All diese Arbeit, Mühen und Widerstände bereiteten den Boden für die Entstehung einer Frauenbewegung. Yekîtiya Star wurde als Dachverband gegründet. Damals fand in Kobanê zum ersten Mal eine Frauenkonferenz statt. Wir wussten nicht einmal genau, welche Funktion die Konferenz haben würde, aber als beschlossen wurde, eine Konferenz in Kobanê zu veranstalten, nahmen Frauen mit großer Begeisterung daran teil. Die Konferenz fand mit 150 Frauen in einem Haus statt. Es wurde ein Rat aus acht Frauen gebildet. Ich war eines der Mitglieder dieses Rates. Natürlich war die Arbeit in dieser Zeit nicht einfach. Es gab große Schwierigkeiten. Wir mussten alle unsere Mittel mobilisieren, nur um eine Demonstration zu machen. Der Staat war sich dieser Formation ebenfalls bewusst. Aus diesem Grund hat er uns mehrmals vor Gericht gebracht. Er hat aber nicht verstanden, dass eine von der Philosophie des Apoismus überzeugte Person nicht davon abzubringen ist. Im Gegenteil: Nach meiner Verhaftung haben sich viele Frauen der Arbeit angeschlossen. Der Staat konnte die Frauen nicht einschüchtern. Im Gegenteil, er hat sie dazu gebracht, sich noch stärker dem Kampf anzuschließen.

Was waren die Auswirkung der Revolution von Rojava?

Die Revolution vom 19. Juli 2012 basierte auf diesem Kampf. Natürlich begann mit dem 19. Juli eine viel größere Entwicklung für die Frauen. Frauen begannen, ihre eigenen Institutionen zu gründen. Yekîtiya Star wurde unter großen Schwierigkeiten aufgebaut. Danach wurde Kongra Star gegründet. Es gab Institutionen, die sich für die Rechte der Frauen einsetzten, die Frauen schützten und ihre Probleme lösten. Aus diesem Grund kamen unzählige Frauen zu uns. Für die Frauen war etwas, wovon sie nicht einmal zu träumen gewagt hatten, Wirklichkeit geworden. Mit Kongra Star entstand eine Bewegung, in der Frauen aus allen Völkern zusammenkamen und für ihre Rechte kämpften. Jede Frau nahm mit ihrer eigenen Kultur, Farbe und Sprache teil.

Nach der Revolution vom 19. Juli gingen die Drohungen und Angriffe gegen die Rojava-Revolution weiter. Der Kampf, der sich durch die YPJ entwickelt hat, und der Kampf der YPJ gegen den IS hatten einen großen Einfluss weltweit. Nach der Befreiung von Kobanê kamen Tausende von Frauen aus der ganzen Welt und schlossen sich dem Kampf an. Sie wollten die YPJ und die Frauen aus Rojava kennenlernen und sahen mit eigenen Augen, dass die Entwicklungen hier nicht nur ein Hirngespinst oder eine Fiktion der Medien waren. Sie sahen Frauen an der Kriegsfront.

Angesichts des Kampfes in Rojava fragten sich Frauen auf der ganzen Welt, wer der Architekt der Linie der freien Frauen ist. Heute wird Rêber Apo weltweit viel stärker anerkannt und gelesen. Die Revolution, die in Kobanê ihren Anfang nahm, ist inzwischen universell. In diesem Sinne sind wir Rêber Apo zu Dank verpflichtet. Von nun an wird unser Kampf für die Frauen in der ganzen Welt weitergehen. Wenn einer Frau irgendwo noch Gewalt angetan wird, sehen wir das als unser eigenes Versagen an. Wir werden das 21. Jahrhundert zum Jahrhundert der Freiheit der Frauen machen, und jede Frau wird sich in dieser Bewegung wiederfinden.