Uğurlu: Heute ist der Tag, um für unsere Rechte einzutreten

Die Ko-Sprecherin des HDK, Idil Uğurlu, spricht im ANF-Interview über die Angriffe der AKP/MHP-Regierung auf die frauenrechtlichen Errungenschaften der Istanbul-Konvention. „Heute ist der Tag, um für unsere Rechte einzutreten“, sagt sie.

Obwohl die türkische Regierung Erstunterzeichnerin der Istanbul-Konvention ist, wird diese nicht umgesetzt. Stattdessen wird mit ihrer Annullierung gedroht. Gleichzeitig nimmt die Männergewalt gegen Frauen deutlich zu. Während gewalttätige Männer immer wieder freigesprochen werden, finden täglich neue Frauenmorde statt. „Der Staat legitimiert Männergewalt ganz offen“, so die Ko-Sprecherin des Demokratischen Kongresses der Völker (HDK), Idil Uğurlu.

Uğurlu weist darauf hin, dass die Regierung die Annullierung der Istanbul-Konvention wolle, aber bisher nicht den Mut gefunden habe, diesen Schritt zu gehen. Daher sei die Umsetzung von Artikel 6284 zum Schutz von Frauen vor Gewalt unter dem Vorwand der Pandemie auf Eis gelegt worden. Die AKP hat sich zunehmend auf das Gesetz 6284 eingeschossen. Die Regimepartei sieht darin eine Gefahr für die Familien. Einige regierungsnahe Kolumnisten schreiben sogar von „Frauenterrorismus“.

Erdoğan wird in diesem Zusammenhang nicht müde zu betonen, die Istanbul-Konvention sei nicht bindend. Uğurlu warnt, die Regierung habe ein Auge auf diese niemals umgesetzte Konvention geworfen. Sie erinnert daran, dass es nur wenige Jahre her ist, dass die Regierung, die heute mit Annullierung der Konvention droht, sich selbst für die Unterzeichnung gelobt habe. Die AKP sei damals der EU mehr zugewandt gewesen und habe sich seitdem weiter vereinheitlicht und vermännlicht. Uğurlu analysiert, es gehe der AKP darum, die Gesellschaft einer monistischen Männermentalität entsprechend zu formen. Sie warnt davor, dass Frauen in eine dem System entsprechende Form gezwungen werden sollen.

Die Istanbuler Konvention – eine internationale Frauenverfassung

Uğurlu beschreibt die Istanbul-Konvention als eine „internationale Frauenverfassung“, die darauf abziele, jegliche Gewalt gegen Frauen zu verhindern. Die Konvention sei nicht nur für Frauen in der Türkei, sondern weltweit lebenswichtig. Es handele sich daher um einen Vertrag, der nicht nach Gutdünken von den Regierungen unterzeichnet und dann wieder annulliert werden könne, „denn die Istanbul-Konvention ist eine Errungenschaft, welche die Frauen in einem langen Kampf mit Zähnen und Klauen errungen haben“.

Der Frauenkampf ist universell

Das AKP/MHP-Regime wolle seine monistische Ideologie weiter institutionalisieren und betrachte den Frauenkampf als großes Hindernis für die Durchsetzung des Faschismus. „Wenn die Istanbul-Konvention umgesetzt wird, dann bekommen Frauen und LGBTI+ ebenso wie die Gesellschaft Luft zum Atmen. Aber das will das Regime nicht", erklärt sie. „Die Regierung geht von der Maxime aus, dass sie die Gesellschaft über die Unterwerfung von Frauen formen kann. Das ist der Gipfel von 5.000 Jahren Patriarchat. Aber sie sollte wissen, dass sich der Frauenkampf nicht so leicht auslöschen lässt. Der Frauenkampf kennt keine Grenzen, es ist kein Kampf, den die Staaten dorthin drängen können, wohin sie ihn gerne möchten. Der Frauenkampf ist universell.“

Frauen von Lateinamerika bis Rojava stärken sich gegenseitig

Uğurlu spricht über die fortgeschrittene Vernetzung von Frauen und die weltweite, wellenförmige Ausbreitung der Proteste von Lateinamerika bis in den Mittleren Osten, bis nach Rojava: „Frauen nehmen sich gegenseitig aneinander ein Beispiel und stärken sich.” Hinter der Politik der Vergewaltigung und den Übergriffen stehen die Staaten, sagt Uğurlu, denn sie versuchen, die Gesellschaft durch die Frauen zu erziehen. Das müssten auch die Frauenorganisationen in ihrem Kampf gegen Männergewalt mit einbeziehen.

Aggression gegen die, die am meisten Widerstand leisten

Uğurlu spricht auch die pausenlosen Festnahmen und Inhaftierungen von Frauenaktivistinnen in der Türkei und Nordkurdistan an und sagt, mit steigendem Widerstand steige auch die Repression: „Wer starken Widerstand leistet, wer an der Spitze dieses Kampfes steht und ‚Nein‘ zur monistischen Haltung sagt, der wird zum Angriffsziel. So wie der IS Şengal angegriffen, Frauen vergewaltigt und auf Sklavenmärkten verkauft hat, um alle Frauen einzuschüchtern und zu bedrohen, so versucht man nun, aus der gleichen Mentalität heraus, die Istanbul-Konvention in Frage zu stellen und durch Angriffe auf Frauenorganisationen das gleiche Gefühl der Bedrohung zu verbreiten.“

Herrschaft durch Bedrohung des Körpers von Frauen

Auch die zunehmenden Übergriffe von Militärangehörigen auf Frauen in Nordkurdistan sind Teil dieser Politik, erklärt Uğurlu. So wolle man die Herrschaft über den Körper der Frau erlangen. Die HDK-Sprecherin verurteilt die aktuellen Diskussionen über die Aufhebung der Istanbul-Konvention und macht diese für den Anstieg der Frauenmorde und Angriffe verantwortlich. So seien auch die Zahlen von sexuellen Übergriffen auf Kinder angestiegen, als das Gesetz zur faktischen Amnestie von Kindesmissbrauch die Diskussion bestimmte. Täter, die ihre minderjährigen Opfer heiraten, sollen nach dem Gesetzentwurf straffrei ausgehen. Es sei absolut inakzeptabel, dass solche Vorhaben trotz aller Proteste immer wieder in die Diskussion gebracht werden, um die Macht der Männer zu stärken.

Frauen werden das Ein-Mann-Regime weiter behindern

Die AKP wolle mit dieser Politik die Gesellschaft homogenisieren und zum Schweigen bringen. Das Land soll durch antidemokratische Praktiken, durch gewaltfördernde und frauenfeindliche politische Diskurse und durch einseitige Nachrichten in eine religiös-fundamentalistische, männerbeherrschtes Form gebracht werden. Uğurlu kündigt an, dass Frauen dagegen weiter Widerstand leisten werden. Der HDK informiere die Gesellschaft und insbesondere Frauen mit Broschüren über den Artikel 6284. Idil Uğurlu schließt mit den Worten: „Heute ist nicht der Tag des Schweigens, es ist der Tag für die Rechte einzutreten.“