Mehr als 7.000 ezidische Kinder und Frauen wurden bei dem am 3. August 2014 begonnenen IS-Angriff auf Şengal verschleppt. Die Frauen und Kinder wurden von der islamistischen Terrororganisation „Islamischer Staat“ (IS) verkauft und in verschiedene Länder als Sklavinnen geschmuggelt. Etliche von ihnen wurden durch das Engagement ihrer Angehörigen in der Türkei wiedergefunden. Vor kurzem wurde eine ezidische Frau im Bezirk Kazan bei Ankara befreit, nachdem in Kanada lebende Verwandte sie für 8.000 Dollar freigekauft hatten. Sie war in Kazan drei Jahre lang im Haus eines IS-Mitglieds gefangen gehalten worden. Dies ist nur ein Beispiel, bis heute werden noch 2.600 ezidische Frauen und Kinder vermisst.
Die Befreiung der Ezidin aus IS-Gefangenschaft in Ankara brachte erneut die Frage nach den Verbindungen zwischen dem IS und dem türkischen Staat auf die Tagesordnung. Im Parlament wurden Fragen laut, wie sich der IS in Ankara so sicher fühlen kann, wie die Grenze passiert wurde, warum der Staat nichts von den verschleppten Frauen weiß und ob gegen die IS-Mitglieder irgendeine Ermittlung eingeleitet wurde oder nicht. Die Regierung verweigerte jedoch die Antwort.
Die HDP-Abgeordnete Feleknas Uca kämpft seit 2014 für die Aufklärung der Hintergründe des IS-Genozids und des Schicksals der verschleppten Frauen und Kinder. Im Gespräch mit der Nachrichtenagentur Mezopotamya berichtet sie über ihre Recherchen und Erfahrungen.
Frauen wurden auf Sklavenmärkten verkauft
Uca erklärt: „Zum ersten Mal in der Geschichte wurden Frauen vor den Augen der Weltöffentlichkeit auf Sklavenmärkten verkauft. Ihre Fotos wurden an den Wänden der Geschäfte und auf den Märkten aufgehängt. Tausende von Frauen, die im Bados-Gefängnis in Mosul festgehalten wurden, sind Zeuginnen der Traumata dieser Zeit. Die Frauen sagten, dass sie nicht einmal am Tag, sondern zehn Mal getötet worden seien. Sie sagten: ‚Wir können diesen Schmerz nicht mehr hinnehmen. Sagt den Regierungen, dass sie dieses Gefängnis bombardieren sollen, damit wir ein für alle Mal gerettet sind.‘ Es ist eine tiefe Wunde.“
In der damaligen Zeit wurden von den Stadtverwaltungen in Nordkurdistan und zivilgesellschaftlichen Organisationen Krisentische zur Unterstützung der in die Region geflohenen Ezid:innen eingerichtet. Uca erklärt: „Damals sind mehr als 33.000 Ezidinnen und Eziden aus Şengal hergekommen. Sie wohnten hier in Silopiya, Cizîr, Şirnex, Riha (tr. Urfa), Wêranşar (Viranşehir), Êlih (Batman), Mêrdîn und Amed (Diyarbakır) in Schulen, bei den Menschen zu Hause oder in extra eingerichteten Camps. Ich kenne das Trauma dieser Zeit sehr genau. Zu dieser Zeit herrschte eine große Unsicherheit, und dieses Trauma besteht immer noch.“
Die Traumata
Über die Geschehnisse dieser Zeit berichtet Uca: „In einem Dorf bei Silopiya brachen die dort untergebrachten Ezidinnen und Eziden in Panik aus, als sie den Ruf des Muezzin hörten. Sie wollten den Ort verlassen. Als sie die Entführungen und Morde erlebten, hatten sie immer wieder der Ausruf ‚Allah-u Ekber‘ gehört. Deshalb machte ihnen der Gebetsruf Angst. Wir erklärten ihnen die Situation und sagten, sie sollten nicht gehen. So war ihre psychische Verfassung. Die Frauen, die vor dem IS gerettet wurden, wurden auch nach Kobanê gebracht. Wir fuhren als Delegation dorthin. Damals brachten wir als Plattform des Kampfes für die verschleppten Frauen fünf Kinder und ihre Mütter in die Türkei. Wir bestiegen zwei Autos. Als sie erfuhren, dass ich ebenfalls Ezidin bin, trauten sie sich und stiegen in das Fahrzeug ein, in dem ich auch saß. Auf dem Weg ließen sie es nicht zu, dass wir eine Pause machten. Sie fürchteten, der IS würde kommen, wenn wir anhielten. Was sie erlebt hatten, hatte ein tiefes Trauma hinterlassen. Wir brachten sie hierher und sie wurden behandelt. Die Kinder malten bei ihrer Psychotherapie nur Bilder von IS-Dschihadisten. Sie sprachen nur von der Folter, die sie erlebt hatten. Niemand war ihnen zur Seite gestanden. Wir blieben tagelang beieinander in einem Raum, bis sie an ihre Familien in Dihok übergeben werden konnten.“
Verschleppte Ezidinnen tauchen in Ankara wieder auf
Feleknas Uca erinnert daran, wie leicht es für den IS war, die Grenzen der Türkei zu überqueren. Das war bereits damals allgemein bekannt. Uca hatte das Thema immer wieder in parlamentarischen Anfragen zur Sprache gebracht. „Selbst als Abgeordnete werden wir auf dem Weg von einer Stadt in die andere an Dutzenden von Kontrollpunkten aufgehalten. Doch die Frauen, die aus Şengal entführt wurden, sind bis in die Hauptstadt Ankara gebracht worden. Wie viele Kontrollpunkte gibt es von Şengal bis hierher? Wie haben sie die Grenze überquert? Auf welchen Schmuggelrouten wurden sie transportiert? Die Regierung kann diese Frauen nicht identifizieren und ihre Eltern nicht finden, aber den Angehörigen gelingt es, sie freizukaufen. Der Staat verschließt die Augen davor.“
Kein Ermittlungsverfahren
Als Uca im Parlament ansprach, dass sich in Ankara verschleppte Ezidinnen befinden, wurde sie von AKP-Abgeordneten verbal bedroht. Uca erklärt: „Es wurden viele Ezidinnen in Ankara gefunden. Gegen die Entführer der ezidischen Frauen und Kinder wurde nicht ermittelt. Sie wurden nicht bestraft. Das deutsche Fernsehen berichtete, dass ezidische Frauen an einer extra eingerichteten Stelle in Dîlok (Antep) verkauft wurden. Also haben wir als Plattform eine Strafanzeige eingereicht, die jedoch nicht verfolgt wurde. Sie überqueren die Grenze, sie tauchen in Ankara auf, aber die Polizei von Ankara, die jeden Tag Festnahmeoperationen gegen Kurdinnen und Kurden durchführt, unternimmt gegen den IS rein gar nichts. Der IS versteckt in aller Ruhe die Frauen, die er entführt und über die Grenze gebracht hat, in Ankara.“
Der Staat verheimlicht die Wahrheit
Uca weist darauf hin, dass der Staat weiterhin keine Fragen zu diesen IS-Verschleppungen beantwortet und das Schicksal der Frauen vertuscht. Die Regierung hat wiederholt Antworten auf parlamentarische Anfragen mit der Begründung verweigert, die Formulierung der Fragen sei „verletzend“. Feleknas Uca erklärt dazu: „Solange die Regierung nichts erklärt und die Verantwortlichen nicht bestraft, können die IS-Söldner noch entspannter herumlaufen. Der IS hat keine Probleme, aber den Abgeordneten der HDP wird die Immunität entzogen. Die IS-Söldner verschleppen Frauen und bringen sie nach Ankara, aber wir können nicht einmal von einem Dorf ins nächste fahren, ohne an Kontrollposten aufgehalten zu werden. Es ist nicht möglich, dass der Staat nichts von dieser Situation weiß. Wir werden 24 Stunden, rund um die Uhr überwacht, wie kann der Staat dann davon nichts wissen. Mit einem so großen Geheimdienst ist es unmöglich, davon keine Kenntnis zu haben.“
Die Familien wenden sich an die HDP
Uca berichtet, dass die Angehörigen der Verschleppten Kontakt mit ihr aufnehmen: „Die Familien finden selbst heraus, wo sich ihre verschleppten Angehörigen befinden. Sie haben uns einige genannt. Wir wissen, dass ihre Kinder hier sind, und verfolgen ihre Spur. Die Familien versuchen sie auf eigene Faust zu finden, da der Staat nichts unternimmt. Sie sagen, ihre Töchter hätten mit ihnen Kontakt aufgenommen und ihnen sei ein Foto ihrer Tochter geschickt worden, nachdem sie dafür Geld gegeben hatten. Zuletzt haben wir erfahren, dass eine Frau mit ihrer Familie gesprochen hatte. Sie wollte weg, aber es gab Probleme. Es gibt immer noch Unsicherheit, die Frauen wollen sich nicht offenbaren. Denn sie fürchten, dass der türkische Staat sie wieder dem IS ausliefert. Sie leben in großer Angst.“
„Wir müssen eine Brücke zwischen Şengal und den Frauen sein“
Die HDP-Abgeordnete Feleknas Uca erklärt: „Der IS wollte die Frauen der ganzen Welt durch die ezidischen Frauen angreifen. Heute werden in vielen Teilen der Welt Frauen entführt, nicht nur Ezidinnen. Deshalb geht dieses Thema alle etwas an. Wir fragen seit Jahren danach, aber die Regierung antwortet nicht. Wenn Ermittlungen durchgeführt würden, könnten Dutzende vom IS entführte Ezidinnen gefunden werden. Die Regierung macht nichts, sie verschließt ihre Augen, so dass die IS-Banden immer von neuem ermutigt werden. Aber wir werden weiterhin unsere Fragen stellen.“
Uca schließt mit den Worten: „Vor den Augen der Weltöffentlichkeit sind Frauen massakriert worden. Die europäischen Staaten sagen in ihren Erklärungen, sie würden das ‚verurteilen‘. Aber ‚verurteilen‘ ist keine Lösung. Deshalb müssen alle Frauenorganisationen und alle auf der Welt gemeinsam kämpfen. Wenn wir den Schmerz von Şengal nicht vollständig verstehen, können wir den Frauen keine Stimme verleihen. Wir können nicht über die Kämpfe der Frauen sprechen, wenn wir nicht den Schmerz der ezidischen Frau verstehen. Als Frauenorganisationen müssen wir einen gemeinsamen Kampf führen. Wenn wir die Ezidinnen verstehen wollen, wenn wir begreifen wollen, was in Şengal passiert ist, müssen wir zuerst dorthin gehen. Es sollten Delegationen gebildet werden, die nach Şengal reisen und lernen, was die Frauen, die aus der IS-Gefangenschaft befreit wurden, für ein Leben dort aufbauen. Nur wenn wir unseren Kampf vereinen, können wir sowohl die ezidischen Frauen als auch die Frauen auf der ganzen Welt befreien. Deshalb ist es wichtig, dass die Delegationen dorthin fahren. Wir müssen die Brücke zwischen Şengal und den Frauen der Welt sein.“