HDP-Delegation: Der IS wird von der Türkei unterstützt

Nach ihrem Besuch in Şengal und dem Flüchtlingslager Mexmûr in Südkurdistan berichtet die Delegation der HDP: „Menschen werden im Namen des MIT angerufen, zur Spionage genötigt und falls sie sich weigern, mit dem Tod bedroht.“

Eine Delegation der Demokratischen Partei der Völker (HDP) ist von ihrer Reise nach Südkurdistan zurückgekehrt. Anlass der Reise waren die türkischen Luftangriffe auf das ezidische Hauptsiedlungsgebiet Şengal und das Flüchtlingslager Mexmûr vom 1. Februar. Auf einer Pressekonferenz in der Parteizentrale in Ankara berichteten die außenpolitische Sprecherin Feleknas Uca und die Abgeordneten Murat Çepni, Hasan Özgüneş und Hüda Kaya über ihre Beobachtungen. Çepni äußerte sich zunächst alarmiert über die Situation in der Türkei und Nordkurdistan und sagte: „Während die AKP-Regierung auf der Politik der Spannung und des Krieges nach innen und außen beharrt, vertiefen sich deren Folgen in einer beispiellosen politischen, wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Zerstörung von Tag zu Tag.“

Die Instabilität der Region wird vertieft“

Çepni erklärte, die einzige Reaktion der Regierung auf die Krise seien noch mehr Krieg und Sicherheitspolitik, noch mehr Gefängnisse, Rassismus und Feindseligkeit gegenüber den Kurdinnen und Kurden. „An dieser Politik bereichern sich der Palast und seine Verbündeten“, so Çepni. „Millionen von Arbeiterinnen und Arbeitern werden zu Hunger und die Völker der Region zur Perspektivlosigkeit verurteilt. So wird die Instabilität der Region vertieft. Als HDP ist es unsere Aufgabe, sich im Namen der unterdrückten Völker gegen dieses System stellen und ein neues Leben aufzubauen, das gleich, frei, demokratisch und menschenwürdig ist. Mit der Regierungspolitik wird zuallererst ein Krieg gegen die Wahrheit geführt. Wenn die Wahrheit eingesperrt wird, dann ebnet dies den Weg für alle Arten von Übel und Unterdrückung. Dies ist der Grund für die Angriffe und Lynchkampagnen, denen die HDP ausgesetzt ist.“

Der türkische Kampf gegen den IS ist eine Lüge“

Angesichts der Situation in den bereisten Regionen bezeichnete Çepni die türkische Behauptung, gegen den sogenannten Islamischen Staat (IS) zu kämpfen, als eine Lüge: „Als HDP-Delegation besuchten wir zwischen dem 8. und 12. Februar die Şengal-Region und Mexmûr, Gebiete, die von der Türkei bombardiert wurden. Die auffälligste Tatsache, mit der unsere Delegation konfrontiert war und die wir nicht das erste Mal feststellten, ist, dass der angebliche Kampf der Türkei gegen den IS eine große Lüge ist und die internationale Gemeinschaft sich nur unzureichend mit diesem kritischen Thema befasst. Wir wollen an dieser Stelle sehr deutlich sagen, was die Welt bereits weiß: Das Land, aus dem der IS die meiste Kraft zieht, in dem er seine Strukturen aufbaut und das ihm seine Logistik bereitstellt, ist leider die Türkei. Zuletzt wurde dies deutlich, als eine Person, die sich als IS-Emir der Türkei vorstellte, aussagte, dass der IS in der Türkei in vielen Städten Waffen versteckt hat und das Land das neue Rückzugsgebiet des IS sei.“

Die ezidische Bevölkerung wird bombardiert“

Çepni erklärte weiter: „Besiegt durch massiven Widerstand der Bevölkerung von Nordsyrien und Rojava bereitet sich der IS auf eine erneute Invasion vor und stärkt seine Strukturen. Der Angriff auf das Gefängnis von Hesekê hat 121 Menschen aus Rojava das Leben gekostet. Der Angriff fand vor den Augen aller internationalen Mächte, der Türkei, des Irak und Syriens statt. Das ezidische Volk hat im Laufe seiner Geschichte 74 Massaker erlebt. Das schlimmste von ihnen begann am 3. August 2014 mit dem IS-Genozid in Şengal. Bei diesem Massenmord wurden Tausende Ezidinnen und Eziden getötet, Hunderttausende vertrieben und mindestens 7.000 Frauen und Kinder vom IS entführt und auf Sklavenmärkten verkauft. Heute ist das Schicksal von 2.800 ezidischen Frauen und Kindern weiterhin unbekannt. Auf der anderen Seite befinden sich in Şengal noch Massengräber, die bisher nicht geöffnet werden konnten. Es ist hochgradig bezeichnend, dass diese Menschen, die jetzt nach dem Massenmord in die Region zurückgekehrt sind, unter den Augen der internationalen Gemeinschaft vom Palastregime in Ankara aus der Luft bombardiert werden.

Wir möchten daran erinnern, dass Bagdad und Hewlêr am 9. Oktober 2020 mit Unterstützung der Vereinten Nationen, der Vereinigten Staaten und der Türkei ein Abkommen zu Şengal getroffen haben. Nach der Unterzeichnung des Abkommens nahmen die Repression und die Angriffe auf Şengal und die ezidische Bevölkerung zu. Aus diesem Grund hat unsere Delegation die Region besucht. Wir besuchten die demokratische Selbstverwaltung von Şengal, die Frauenbewegung, den Frauenrat, den Volksvertreter Seyid Mahmud, den Rat der ezidischen Stämme, das Serdeşt-Camp, wo die Menschen nach der Invasion des IS Zuflucht suchten, das Gebäude des Volksrates von Xanêsor, das Anfang Februar von der Türkei aus der Luft bombardiert wurde, die Partei PADÊ und ein Massengrab, in dem 400 vom IS ermordete Ezidinnen und Eziden liegen.

Die Menschen werden vom MIT angerufen“

In Şengal leben 200.000 Menschen. Viele Menschen sind in verschiedene Länder geflohen, darunter Australien, die USA und Kanada. Einige sind gezwungen, in Lagern unter UN-Aufsicht zu leben. Es gibt insgesamt 13 solcher Lager. Nach Angaben aus der Bevölkerung von Şengal werden die Menschen daran gehindert, die Lager zu verlassen, und sind einer intensiven religiösen und kulturellen Assimilationspolitik unterworfen. Es wird immer schwieriger, Familien zusammenzubringen und viele von ihnen bleiben zerrissen. Eine der auffälligsten Informationen, die uns in unseren Gesprächen mitgeteilt wurde, ist folgende: Im Namen des MIT werden Menschen angerufen, zur Spionage genötigt und mit dem Tod bedroht, wenn sie sich weigern. Eine weitere wichtige Information, die wir erhalten haben, ist die Tatsache, dass die YBŞ und YJŞ, die von der Türkei als ‚Terroristen‘ betrachtet werden, vom irakischen Staat offiziell als 80. Brigade anerkannt und versorgt werden.

Die irakische Regierung und die kurdische Regionalregierung haben die Menschen nicht vor dem IS geschützt. Um einen weiteren IS-Angriff zu verhindern und die Menschen in der Region vor einem weiteren Massenmord zu schützen, waren die Bewohnerinnen und Bewohner der Şengal-Region gezwungen, ihre eigenen Selbstverteidigungskräfte aufzubauen. Am 16. August 2021 sollte ein formelles Treffen zwischen dem irakischen Premierminister Mustafa al-Kadhimi und der Selbstverwaltung von Şengal stattfinden. Die Delegation, die im Namen der Bevölkerung von Şengal mit der irakischen Delegation sprechen sollte, wurde auf dem Rückweg von einem Vorgespräch von der türkischen Luftwaffe angegriffen, wobei Seîd Hesen als Leiter der Delegation und der Fahrer des bombardierten Autos getötet wurden. Am 17. August 2021 wurde das Krankenhaus im Dorf Sikênîyê bombardiert. Vier Sanitäterinnen und Sanitäter sowie vier Sicherheitskräfte wurden getötet, darunter ezidische und arabische Menschen. Im Dezember wurde das Fahrzeug von Merwan Bedel, dem Ko-Vorsitzenden des Exekutivrats in der Demokratischen Selbstverwaltung von Şengal, in der Nähe seines Hauses im Stadtzentrum aus der Luft angegriffen. Bedel starb, zwei seiner Kinder, die sich mit im Fahrzeug befanden, wurden verletzt.

Das Gebäude des Volksrats von Xanêsor wurde am 11. Dezember 2021 bombardiert. In der Nacht vom 1. auf den 2. Februar 2022 wurden stundenlang 21 verschiedene Orte bombardiert. Zu den bombardierten Orten gehörte die heilige Region Çimerê. Drei Menschen wurden bei diesen Angriffen getötet. Bei allen Angriffen auf Şengal sind Menschen aus der Zivilbevölkerung getötet worden und es entstanden Sachschäden. Auf der einen Seite versucht die ezidische Gemeinschaft, unter der Bedrohung durch den IS zu überleben, auf der anderen Seite ist sie türkischen Luftangriffen ausgesetzt.“

Forderungen der Bevölkerung von Şengal

In dem von der HDP-Delegation vorgelegten Bericht werden die Forderungen der Bevölkerung von Şengal benannt. Demnach ist die dringlichste Forderung die Sperrung des Luftraums für Kampfbomber und Killerdrohnen. Die Bevölkerung appelliert an die gesamte Menschheit, sich für ein Ende der stattfindenden Terrors einzusetzen. Da die Region massiven Angriffen ausgesetzt ist und belagert wird, erwarten die Menschen Unterstützung von den Völkern aus der Türkei und weltweit. Alle demokratischen Kräfte, Frauen- und Ökologie-Organisationen, politische Parteien, Intellektuelle und Kunstschaffende werden zu einem Besuch in Şengal eingeladen.

Die Bevölkerung von Şengal fordert zudem die Anerkennung des Genozids am ezidischen Volk durch alle Staaten. Die Vereinten Nationen (UN) und weitere internationale Mächte werden zum Handeln aufgefordert, um weitere Angriffe zu verhindern.

Die Situation in Mexmûr

In Mexmûr hat die HDP-Delegation den Volksrat, den Frauenrat Iştar, den Jugendrat und die Verwaltung besucht und Gespräche mit Bewohner:innen des Camps geführt. In dem auf der Pressekonferenz in Ankara vorgestellten Bericht wird festgehalten, dass Tausende Kurdinnen und Kurden aus der Türkei in den Jahren 1993 und 1994 in das unter Verantwortung der UN gegründete Camp geflüchtet sind, als in Nordkurdistan 4000 Dörfer entvölkert wurden und immer mehr Menschen in staatlichem Gewahrsam verschwanden. Diese Menschen haben mit eigenen Anstrengungen ein Lager aufgebaut, in dem ein menschenwürdiges Leben möglich ist. Laut dem Bericht leben inzwischen ungefähr 13.000 Menschen in Mexmûr. „Es handelt sich um einen zivilen Lebensbereich mit fünf Kindergärten, vier Grundschulen, einem Gymnasium, einer Schule für Kinder mit Down-Syndrom, einer Gesundheitsstation und einer zivilen Leitung und Verwaltung“, so der HDP-Bericht:

„Seit 2018 wird den Menschen aus Mexmûr der Zugang für die Arbeit in den Städten der KRI (Kurdistan Region Iraq) verweigert. Sogar Kranke können nicht in Krankenhäuser gebracht werden. Laut den übermittelten Informationen haben mehrere Frauen Fehlgeburten erlitten, weil sie nicht rechtzeitig ins Krankenhaus gekommen sind.

Die KRI-Leitung wendet ein Embargo gegen Mexmûr an. Die Menschen können nur nach Bagdad fahren und erleben Schwierigkeiten bei der Rückfahrt. Die jungen Menschen wurden bis 2018 mit Zustimmung der UN in allen Universitäten und in Erbil [ku. Hewlêr] angenommen. In den letzten drei Jahren werden sie von den Universitäten abgewiesen, obwohl sie die Aufnahmeprüfungen bestanden haben. Tausenden jungen Menschen wird damit das Recht auf ein Studium genommen, und sie suchen nach einer Lösung. Einigen ist es gelungen, nach Erbil zu kommen, aber sie können nicht mehr zurückkehren. Ein Teil hat nach eigenen Angaben seit zwei Jahren die eigene Familie nicht mehr sehen können.“

Ziviles Siedlungsgebiet bombardiert

Die HDP weist darauf hin, dass das Camp weiterhin vom IS bedroht ist und die Bevölkerung mit eigenen Mitteln für die Sicherheit sorgt: „In einer Region, in der fast jeder Stamm über bewaffnete Kräfte verfügt und der IS weiterhin Angriffe durchführt, befinden sich die Kurdinnen und Kurden in Mexmûr 24 Stunden am Tag in Lebensgefahr. Gleichzeitig ist das Camp auch von Luftangriffen der Türkei betroffen. Bei unserem Besuch haben wir ein weiteres Mal gesehen, dass es sich bei den als ,Terrorpunkte' bombardierten Orten um ziviles Siedlungsgebiet handelt.“

Forderungen der Bevölkerung von Mexmûr

Laut dem HDP-Bericht fordert die Bevölkerung von Mexmûr ein Ende der Bombardierungen, die Aufhebung des Embargos und des Reise- und Arbeitsverbots, freien Zugang zu den Universitäten und eine militärisches Flugverbot über dem Camp. Von den UN fordern die Menschen, sich für den Schutz ihrer Grundrechte und ein Ende der Angriffe einzusetzen.

Falsche Darstellung in den Medien

Die HDP-Delegation hat außerdem die Vertretung der Autonomieverwaltung von Nord- und Ostsyrien in Silêmanî besucht, um ihr Beileid für die 121 Toten bei dem IS-Angriff in Hesekê zum Ausdruck zu bringen. Anschließend fand ein Gespräch mit Abgeordneten der Patriotischen Union Kurdistan (YNK) statt. In dem Bericht über die Südkurdistan-Reise wird abschließend darauf hingewiesen, dass der Besuch in verschiedenen Medien und digitalen Netzwerken als „Besuch von PKK-Lagern“ dargestellt worden ist. Dabei hätten sich vor allem von Rassisten und IS-Anhängern in der Türkei betriebene Accounts hervorgetan.