Die Bewegung kurdischer Frauen in Europa (TJK-E) ruft zum Kampf gegen patriarchale Gewalt auf und macht auf zwei Feminizid-Fälle Anfang Mai in Deutschland aufmerksam.
Am 1. Mai ist in Hamburg eine Frau mit ihren zwei Kindern von ihrem Ex-Ehemann lebensgefährlich verletzt worden. Die 40-Jährige wurde mit einem Messer angegriffen und liegt im Koma. Ihr zehnjähriger Sohn wurde von seinem Vater mit Benzin übergossen und angezündet. Er befindet sich auf der Intensivstation. Die zwölfjährige Tochter erlitt eine Rauchvergiftung und ist in der Obhut des Jugendamtes.
Am 2. Mai ist im hessischen Alsfeld eine Frau aus Rojava von ihrem Ehemann ermordet worden. Laut Polizeibericht ist der 35-jährige Täter verhaftet worden: „Ihm wird vorgeworfen, seine 36-jährige, getrennt von ihm lebende Ehefrau mit einem Gipserbeil getötet zu haben, weil sie sich weigerte, die Ehe mit ihm fortzuführen.“ Die gemeinsamen Kinder im Alter von sechs, acht und zehn Jahren befinden sich in der Obhut des Jugendamtes.
Albtraum Männlichkeitsvirus
In der am Dienstag veröffentlichten Erklärung der TJK-E heißt es: „Das Männlichkeitsvirus als Ideologie des patriarchalen Systems greift wie ein Albtraum auf alle Lebensbereiche von Frauen über und verfinstert ihr Leben. Die klassische Familie ist einer der am besten organisierten Bereiche des Nationalstaatssystems. Mit der Ideologie geheuchelter Heiligkeit und Religiosität wird versucht, die hierarchischen und verkehrten Familienstrukturen zu tarnen. In diesem System wird über anerzogene Geschlechterrollen jede Form von verbaler, ökonomischer, psychischer und physischer Gewalt legitimiert. Es vergeht kein Tag, an dem wir nicht mit einer Meldung über einen Feminizid aufwachen.
Für Gewalt an Frauen gibt es zu jeder Zeit einen Anlass: Krieg, Migration, Wirtschaftskrise, Naturkatastrophen und aktuell die Pandemie treten als Ursache für die ansteigende Gewalt in den Vordergrund. Wir sehen jedoch, dass sich der Fokus von der Ideologie des staatlichen Systems als Hauptursache auf ein zeitlich befristetes Phänomen verschiebt und keine Lösung entstehen kann, wenn das Problem nur in diesem Zusammenhang angegangen wird. Die Täter sind weder Migrationsbewegungen noch Pandemien. Die Mörder sind mitten unter uns oder zumindest im unmittelbaren Umfeld.
Das Paradox von Paradies und Hölle
In diesem System wird Frauen jede Form der Versklavung zugesprochen. Frauen wird befohlen, mit der konstruierten Vorstellung von Himmel und Hölle zu leben. Paradoxerweise sind Frauen in diesem verlogenen Heiligtum Lebenspartnerinnen, Mütter und Geliebte, denen das Paradies zu Füßen gelegt wird, und gleichzeitig Frauen, auf die verzichtet werden kann, gegen die Gewalt ausgeübt wird, die ermordet werden und denen das Leben zur Hölle gemacht wird.
Trotz dieses organisierten Angriffs durch den Staat und die Familie des patriarchalen Herrschaftssystems wird von Frauen erwartet, innerhalb des Stammes, der Familie, der Gemeinschaft, der sie angehören, und gegebenenfalls den Strukturen, in denen sie organisiert sind, zu jeder erlittenen Grausamkeit geduldig und verständnisvoll zu schweigen.
In diesem Netzwerk organisierter Verbrechen wird auch die Gesellschaft dazu angehalten, innerfamiliäre Probleme als ‚Privatangelegenheit‘ zu behandeln und darüber hinwegzusehen. Auf diese Weise wird die Gesellschaft zum Mittäter gemacht. Dass Frauen dazu gezwungen werden, zu ihren Erfahrungen zu schweigen, sie dadurch vereinsamen und keinen Ausweg mehr sehen, bereitet Frauenmorden ebenso wie die ausbleibende Reaktion der Gesellschaft den Weg.
Vom patriarchalen Herrschaftssystem vergiftet
In einem in diesem Jahr veröffentlichten UN-Bericht zur ‚Familie in einer sich verändernden Welt‘ wird festgehalten, dass das häusliche Umfeld der gefährlichste Ort für Frauen ist. Weltweit werden täglich 137 und jährlich 50.000 Frauen von Männern aus ihrer engsten Umgebung ermordet. Das sind die veröffentlichten Angaben. Die Dunkelziffer ist sehr viel höher. Vom patriarchalen Herrschaftssystem vergiftete Männer führen einen endlosen Krieg gegen Frauen.
Dieses seit 5000 Jahren währende System der Männerherrschaft zerstört mit seiner globalen Politik der Gewalt, der Vergewaltigung und des Genozids die gesellschaftliche Struktur. So wie die Forderungen der Völker und Gemeinschaften nach Selbstbestimmung und freiem Ausleben ihrer Identität, ihres Glaubens und ihrer Sprache gewaltsam zurückgewiesen werden, wird auch mit Frauen umgegangen. Dass Frauen, die sich gegen männliche Gewalt wehren, sich nicht beugen, sich trennen oder scheiden lassen und auf eigenen Füßen stehen, systematischer Gewalt ausgesetzt und getötet werden, liegt in der patriarchal-faschistischen Denkweise begründet.
Eine von uns
Jeden Tag werden Frauen aus unserem Umfeld von ihren Ehemännern, Exmännern oder Partnern ermordet. Am 1. Mai 2020 ist Meryem S., eine in Hamburg lebende politisch aktive Frau, zusammen mit ihren Kindern von ihrem Exmann durch Messerstiche und Feuer lebensgefährlich verletzt worden. Meryem S. und eines ihrer Kinder sind in stationärer Behandlung. Wir verurteilen diesen grausamen Mordversuch und wünschen ihr und ihren Kindern gute Besserung.
Am 2. Mai ist eine Frau in Alsfeld vom ihrem Mann ermordet worden. Beide Frauen stammen aus Kurdistan und gehen uns daher direkt etwas an. Jedoch ist jede Frau, die ermordet wird oder ermordet werden soll, unabhängig von ihrer Identität eine von uns. Es spielt keine Rolle, ob es sich um eine Migrantin, Kurdin, Alevitin, Ezidin, Muslima oder Deutsche handelt, wir alle tragen Verantwortung.
Verbal revolutionär, praktisch feudal und gewalttätig
Uns Frauen fällt es zu, uns gegen dieses organisierte und gewalttätige Verbrechertum zu organisieren und zu stärken. Wir müssen den Boden austrocknen lassen, auf dem Gewalt und Massaker gedeihen. Wir müssen Lösungsmechanismen entwickeln. Und es gehört zu unseren Hauptaufgaben, unabhängig von der Person des Täters zu Gewalt nicht zu schweigen, ein Bewusstsein dazu aufzubauen und unsere Selbstverteidigung zu organisieren. Es darf nicht übersehen werden, dass Männer, die verbal für Freiheit, Revolution, Patriotismus, linkes oder sozialistisches Denken und Geschlechtergleichberechtigung eintreten und in der Praxis reaktionär, feudal, gewalttätig und despotisch sind, sich aus derselben Quelle nähren wie der Staat.
Sowohl im institutionellen als auch im gesellschaftlichen Maßstab auf einen freiheitlichen Umgang mit Frauen zu setzen, sich gegen Individuen und eine Auffassung zu positionieren, die verbal und praktisch widersprüchlich sind, sie anzuprangern und einen entsprechenden gesellschaftlichen Kampf zu führen, ist der wesentliche Maßstab für ein Leben als Revolutionär, Patriot, Sozialist und vor allem als Mensch.
Egal wo der Ursprung ist, Gewalt gegen Frauen darf niemals hingenommen werden. Gewalt an Frauen ist politisch. Zu Gewalt schweigen, heißt Frauen aus dem Leben zu reißen und der Gesellschaft ihre Werte zu nehmen. Gewalt gegen Frauen ist ein Verbrechen an der Menschheit, beteiligt euch nicht an diesem Verbrechen!