Rûken: Als freie Frauen sind wir Kriegspartei
Die Kriege dieses Jahrhunderts zeigen den Grad des Grauens, den die patriarchale Vernunft erreicht hat. Es ist gleichzeitig das Jahrhundert der Frauen.
Die Kriege dieses Jahrhunderts zeigen den Grad des Grauens, den die patriarchale Vernunft erreicht hat. Es ist gleichzeitig das Jahrhundert der Frauen.
Als Koordinationsmitglied der Gemeinschaft der Frauen aus Kurdistan (KJK) hat Zerrîn Rûken anlässlich des Weltfriedenstags Fragen von ANF zum dritten Weltkrieg im Mittleren Osten und der Rolle der Frauenbewegung beantwortet.
Wie nahe sind Frieden und Freiheit unter den aktuellen Bedingungen?
Wir befinden uns in einer Zeit, in der die Hegemonialmächte unsere freie Zukunft mit Vernichtungskriegen auszulöschen versuchen. Dieses Jahrhundert soll zu einem Jahrhundert des Chaos, der Konflikte und Kriege gemacht werden. Die kapitalistische Moderne und die herrschsüchtige, kolonialistische und vom Chaos profitierende Politik der Nationalstaaten haben den Mittleren Osten in eine Kriegsarena verwandelt. Mit der Gier nach Profit und Macht findet eine grenzenlose Ausbeutung statt, mit der Ausbreitung des Liberalismus in alle Lebensbereiche wird die Gesellschaft zerstört. In allen Bereichen des Lebens und der Politik tritt das herrschsüchtige und sexistische Vorgehen der patriarchalen Denkweise hervor. Gegen Gesellschaftlichkeit, Freiheit und Demokratie finden Feminizide und Genozide statt. Die Natur wird zerstört. Für den eigenen Profit werden Konflikte zwischen Völkern und Konfessionen geschürt. Die Ausbeutung und Entrechtung von Frauen, Gewalt gegen Frauen und Feminizide, eskalieren als systematische und strategische Angriffswelle.
Gegen diese Angriffe wollen wir dieses Jahrhundert durch den organisierten Kampf der Unterdrückten und Ausgebeuteten zum Jahrhundert der Frauen machen.
Die AKP spielt zurzeit mit dem Feuer. Der gefährliche Umgang mit Abdullah Öcalan und die Einsetzung von Zwangsverwaltern als Kolonialherren in Nordkurdistan sind nicht hinnehmbar. Das kurdische Volk und alle demokratisch gesinnten Kreise müssen diese Angriffe radikaler bekämpfen. Ich bin davon überzeugt, dass die Freiheit von Rebêr Apo in einen Frieden in der Türkei und dem Mittleren Osten münden wird.
Wo stehen die Freiheits- und Demokratiekräfte in diesem dritten Weltkrieg und was verstehen Sie unter einem „Jahrhundert der Frauen“?
Der dritte Weltkrieg findet nicht nur militärisch statt, sondern in allen Bereichen des Lebens. Er zieht sich von der Wissenschaft zur Kunst, von Akademien zu Universitäten, von der Wirtschaft bis zur Politik und ist in alle Zellen der Gesellschaft eingedrungen. Die in diesen Bereichen geschaffenen Probleme werden zum eigenen Ende führen. Die Zeit, in der wir uns befinden, ist jedoch auch das Zeitalter von Frauen, die sich bis in kleinsten Zellen der Gesellschaft organisieren können. Unser Hauptziel ist, gegen diesen Krieg ideologisch, kulturell, politisch und militärisch zu kämpfen. Der Kriegsschauplatz sind die vier Teile Kurdistans. Das System geht am aggressivsten gegen Frauen vor und darüber gegen die Gesellschaften, die Völker, die Glaubensrichtungen und alle oppositionellen Identitäten. Der Charakter des 21. Jahrhunderts ist von grundlegenden Widersprüchen geprägt, die zur Einschränkung von Freiheiten, einer Krise der Moderne und Krieg führen. Die Definition als Jahrhundert der Frauen basiert darauf, dass der Geschlechterwiderspruch offen zutage getreten ist und sich Möglichkeiten für eine Lösung auftun. Aus diesen Gründen sind wir mit unserer von Rebêr Apo entwickelten Identität als freie Frauen Kriegspartei. Für diesen Kampf brauchen wir eine Frauenrevolution und eine Frauenidentität, die sich auf der Basis der Philosophie Abdullah Öcalans organisiert und aktiv ist. Es ist das Zeitalter der Geburt und Systematisierung eines Frauenparadigmas. Inmitten von Krise und Chaos findet der Kampf um die Geburt eines neuen Zeitalters mit Schmerzen, Zusammenbrüchen und Heldentaten statt. Die Kriege dieses Jahrhunderts zeigen den Grad des Grauens, den die patriarchale Vernunft erreicht hat. Für die Imperialisten geht es dabei um den Erhalt ihres Systems, die Unterdrückten, Frauen und Völker kämpfen für den Aufbau eines Systems der Demokratie und Freiheit.
Was ist die Rolle der Frauenbefreiungsbewegung Kurdistans dabei? Geht die Verantwortung über Kurdistan hinaus?
Der Mittlere Osten ist die Wiege der ersten Frauenrevolution. Ein Ausweg aus Krise und Chaos ist nur mit einer zweiten Frauenrevolution möglich. Es gibt eine fünftausendjährige Widerstandsgeschichte und heute gibt es eine Frauenbewegung, die als Frauenbefreiungsbewegung Kurdistans organisiert ist und über eine starke ideologische Linie, eine Massenbasis und Selbstverteidigungskräfte verfügt. Der dritte Weltkrieg bietet große Möglichkeiten und ist gleichzeitig ein großes Risiko. Um die Risiken auszuschalten und die Möglichkeiten zu nutzen, kämpfen wir für die Entwicklung einer wirksamen Strategie. Dafür muss die aktuelle Realität von Frauen im Mittleren Osten begriffen werde. In den Ländern des Mittleren Ostens finden sehr wichtige Entwicklungen in der Situation von Frauen, in ihren Kämpfen, Bewegungen und aktuellen Themen statt. Mit einer gemeinsamen Frauenidentität und Organisierung können wir uns gegen das patriarchale Inferno stellen.
Parallel dazu ist es wichtig, das Paradigma Abdullah Öcalans allen Völkern im Mittleren Osten zugänglich zu machen. Die Verbreitung dieses Paradigmas ist von strategischer Bedeutung.
Die wichtigsten Standbeine beim Aufbau des Nationalstaates in den letzten 200 Jahren im Mittleren Osten sind Nationalismus, religiöser und konfessioneller Fanatismus sowie Sexismus. Daher gibt es für uns als Frauenbewegung viel Arbeit im gesellschaftlichen Bereich, um eine starke Veränderung zu schaffen. Gegen Sexismus setzen wir auf Frauenbefreiung, gegen Nationalismus auf das Modell der demokratischen Nation und gegen Fanatismus auf kulturelle Vielfalt.
Im Zentrum der Arbeit, die wir im Mittleren Osten leisten müssen, steht die Frauenbefreiung. Ein weiterer Fokus ist der Kampf gegen die kapitalistische Moderne. Wir arbeiten daran weitere Mittel und Wege zu finden, um die Organisierung auf der Grundlage der gesellschaftlichen und kulturellen Vielfalt voranzutreiben.
Der Widerstand kurdischer Frauen ist zu einer Quelle der Inspiration geworden. Als Frauenbefreiungsbewegung Kurdistans haben wir den Anspruch an uns selbst, den Frauenbefreiungskampf auf universeller Ebene anzuführen. Neben diesem Anspruch liegen die Erwartungen von Frauen und eine historische Verantwortung vor uns. Mit Frauenbewegungen weltweit müssen wir Mittel und Instrumente eines gemeinsamen Kampfes gegen das patriarchal-kapitalistische System entwickeln. Dieses Ziel verfolgen wir konsequent weiter.