Rojbin Bor: Wir werden das System der Zwangsverwaltung überwinden

Rojbin Bor, eine der Gründerinnen der Frauenvereins Star in Wan, beschreibt das System der kommunalen Zwangsverwaltung als systematische Zerstörung und spricht über dessen Überwindung.

Das Regime der Zwangsverwaltung, das während des zweijährigen Ausnahmezustands nach dem vermeintlichen Putschversuch 2016 in fast allen kurdischen Gemeinden im Südosten der Türkei eingerichtet wurde, war bei der Kommunalwahl 2019 abgewählt worden. Doch nur wenige Monate nach der Abstimmung missachtete der türkische Staat erneut den Willen der Bevölkerung und installierte sein Zwangsverwalter-Regime neu. Die demokratisch gewählten Ko-Bürgermeister:innen wurden abgesetzt und an ihrer Stelle regimetreue „Treuhänder“ ins Amt gebracht. Unter den Zwangsverwaltern wurden soziale Einrichtungen und insbesondere Fraueneinrichtungen der Kommunalverwaltungen geschlossen und eine Politik der Korruption und Türkisierung massiv vorangetrieben. Ende März stehen erneut Kommunalwahlen in der Türkei an, und damit auch eine Chance, die Herrschaft der Zwangsverwaltung loszuwerden. Im ANF-Interview berichtet Rojbin Bor, Mitbegründerin des Frauenvereins Star, über die Praxis der Zwangsverwaltung in der nordkurdischen Provinz Wan und die Perspektive des Widerstands dagegen.

Ab 2016 herrschte in der Provinz Wan der Ausnahmezustand. Welche Auswirkungen hatte das auf die Zivilgesellschaft?

Der Ausnahmezustand in Wan hatte erhebliche Auswirkungen auf die Zivilgesellschaft. Faktoren wie die zunehmende Schließung von Vereinen, Stiftungen und Medien/Publikationsorganen, eine wachsende Zahl von Menschenrechtsverletzungen und die Einsetzung von Zwangsverwaltern über die Kommunen haben die Aktivitäten der Zivilgesellschaft in Wan stark eingeschränkt. Während der Ausnahmezustand die zivilgesellschaftlichen Aktivitäten in der Region zum Erliegen brachte, schränkte auch die Entlassung und strafrechtliche Verfolgung von im öffentlichen Dienst arbeitenden Personen, die Wirksamkeit der Zivilgesellschaft stark ein. In diesem Prozess wurden die demokratische Teilhabe und die Äußerung pluraler Sichtweisen erschwert und die Zivilgesellschaft in Wan massiv beeinträchtigt.

Welche Auswirkungen hatte die Zwangsverwaltung auf den Frauenkampf?

Die Ernennung von Zwangsverwaltern hat sich besonders negativ auf den Kampf der Frauen ausgewirkt. In Anbetracht der unerbittlichen Angriffe des Zwangsverwalters auf die Errungenschaften der Frauen kann man das Treuhänderregime durchaus als misogyn bezeichnen. Allein in Wan haben die Zwangsverwalter 52 Fraueneinrichtungen geschlossen. Frauenberatungsstellen und Frauenhäuser in allen Kreisstädten wurden aufgelöst. In der Abteilung für Frauenpolitik wurden Männer eingesetzt. Die Notrufhotline gegen Gewalt an Frauen wurde eingestellt. Frauenzentren und Berufsbildungsstätten wurden arbeitsunfähig gemacht. So wurden Frauen gezwungen, in den Häusern und Räumen zu bleiben, in denen sie Gewalt ausgesetzt waren. Sie wurden in einen noch tiefgreifenderen Kreislauf der Gewalt gezogen.

Die Einsetzung von Zwangsverwaltern erschwerte es den Frauenorganisationen und den Organisationen der Zivilgesellschaft, ihren Kampf für die Rechte von Frauen fortzusetzen. So schränkte die Ernennung von Treuhändern die demokratische Teilhabe ein und begrenzte die Aktivitäten von Frauen im öffentlichen Leben. Darüber hinaus zielten die Repressalien auf die Vereinigungs- und Meinungsfreiheit von Frauen, die Kriminalisierung der Frauenarbeit, insbesondere in Kurdistan, und die schrittweise Verhaftung und schwere Bestrafung von Frauenrechtsaktivistinnen darauf ab, den Kampf der Frauen zu stoppen und zu beenden. Diese Bedingungen haben die Fähigkeit der Frauen, sich Gehör zu verschaffen und wirksam für ihre Rechte zu kämpfen, erheblich beeinträchtigt. Trotz alledem ist der Freiheitskampf der Frauen zu stark, um von Zwangsverwaltern beendet oder auch nur gebremst zu werden. All diese Hindernisse und das Feindrecht haben die Frauen nicht nur nicht eingeschüchtert, sondern auch dazu geführt, dass andere Organisationsformen entwickelt wurden. Heute sehen wir, dass, wie stark die Angriffe auch sein mögen, unsere widerstandsfähige Haltung gegenüber diesen Angriffen wächst und sich entwickelt.

Was sollte die Aufgabe der Frauen nun sein?

Unsere Mission gegenüber dem Treuhänderregime ist klar: Wir werden nicht zulassen, dass diese unterdrückerische Ordnung die Frauen weiter zurückdrängt. Wir werden mit Entschlossenheit kämpfen, um den Kampf für die Gleichberechtigung der Geschlechter zu verstärken, die Rechte der Frauen zu verteidigen und sicherzustellen, dass Frauen eine aktive Rolle in der lokalen Verwaltung spielen. Es wird unsere Hauptaufgabe sein, uns gegen die Treuhänder zu stellen und Demokratie und Freiheiten aus einer frauenbefreienden Perspektive zu betonen.

Wan ist die wichtigste Stadt der Region Serhed. Wie bewerten Sie die Arbeit der Zwangsverwalter?

Es ist vollkommen klar, was die Treuhänder hier in Wan machen: Besatzung! Wan wurde geplündert, zerstört, verkauft und so weit wie möglich ruiniert. Warum? Weil sie wissen, dass sie niemals durch Wahlen gewinnen können. Die Zerstörung wird immer größer, je näher die Wahlen rücken. Diese Stadt hat aber auch ihre wahren Besitzer:innen. Sie sind hier und sie bleiben hier. Sie werden dem Zwangsverwalter und seiner Zerstörungswut definitiv ein Ende bereiten und Wan zu einer gerechten und hoffnungsvollen Stadt machen. Das hat diese Stadt verdient.

Wie haben sich Femizide und Gewalt an Frauen unter den Zwangsverwaltern entwickelt?

Das Vakuum, das die Treuhänder durch die Schließung von Frauenorganisationen, Frauenhäusern, Notruf-Hotlines und die Abschaffung frauenpolitischer Maßnahmen geschaffen haben, hat dazu geführt, dass Frauen in den Bereichen, in denen sie Gewalt erfahren, ungeschützt und ohne Unterstützung sind. Dies hat bewirkt, dass die Frauen noch stärker in den Kreislauf der Gewalt hineingezogen wurden. Die Abschaffung der Hilfsangebote für Frauen durch die Treuhänder hat die Fähigkeit der Frauen, mit der Gewalt umzugehen und ihr zu entkommen, stark eingeschränkt und das Risiko von Femizid und Gewalt gegen Frauen erhöht. Mit anderen Worten: Die Treuhänder und ihre Praktiken sind zu einem wichtigen Faktor geworden, der den Weg für Femizide und Gewalt gegen Frauen direkt ebnet.

Wie sollte die gesellschaftliche Opposition damit umgehen? Wie bewerten Sie ihr Vorgehen in der jüngeren Vergangenheit?

Die gesellschaftliche Opposition sollte sich auf Einheit und Solidarität, auf der Grundlage demokratischer Werte, der Menschenrechte und des Prinzips der sozialen Gerechtigkeit stützen. In der Vergangenheit hat die soziale Opposition versucht, ihre Stimme gegen Unterdrückungspolitik und Rechtsverletzungen zu erheben, aber es gibt einige Meinungsverschiedenheiten über den Erfolg dieses Kampfes und darüber, ob der richtige Weg eingeschlagen worden ist. In Anbetracht des heutigen politischen Umfelds ist es ein schwieriger Prozess, überhaupt Opposition zu betreiben. Ein Blick auf vergangene Kämpfe zeigt, dass eine geeinte und effektive Opposition erfolgreich sein kann. Es gibt viele Faktoren, die den Erfolg der sozialen Opposition bestimmen. An diesem Punkt ist es wichtig, dass die politischen Akteur:innen zusammenkommen und Einigkeit und Solidarität in den Vordergrund stellen, die Öffentlichkeit und die junge Generation mit wirksamen Kommunikationsstrategien erreichen und die sozialen Medien effektiv nutzen. Darüber hinaus sollten sie durch legale Kämpfe im Einklang mit demokratischen Werten unterstützt werden und sich auf der internationalen Bühne Gehör verschaffen. Jeder politische Prozess ist einzigartig, und um erfolgreich zu sein, ist es wichtig, sich ständig an die sich verändernde Dynamik anzupassen und sich in diesem Sinne zu entwickeln.

Möchten Sie noch etwas anfügen?

Im Allgemeinen hat die Opposition keine wirksame Rolle gegen die Treuhänder gespielt. Es konnte kein angemessener Diskurs jenseits der Argumentationswelt des Regimes etabliert werden. Es konnte keine ernsthafte Öffentlichkeit über die Folgen, Auswirkungen und die politische, soziale und institutionelle Zerstörung durch das Treuhänderregime geschaffen werden. In allen Bereichen, von den Universitäten bis zu den zivilgesellschaftlichen Organisationen, von den Frauenverbänden bis zu den Anwaltskammern, nutzte das Regime den Vorteil, den es durch das Treuhandregime erlangte, für sein eigenes politisches Überleben und seinen Selbstschutz. Um die Politik der Zwangsverwaltung erklären zu können, muss sie zunächst richtig verstanden und geistig überwunden werden. Unserem Volk und unserer Tradition ist es in der Vergangenheit gelungen, mit politischer Intelligenz und Organisierung viele Hindernisse zu überwinden. Wir konnten alle möglichen Hindernisse überwinden, die unserem Volk nach und nach in den Weg gelegt wurden: die Zehnprozenthürde, politische Verbote, brutale Gewalt und Tarnorganisationen. In diesem Sinne habe ich großes Vertrauen in unser Volk und unsere Tradition. Für uns ist der Treuhänder eine Klammer, die geschlossen werden muss, ein Hindernis, das überwunden werden muss, und der Name einer schlechten Administration, die der Vergangenheit angehören muss. Zwangsverwaltung ist Verleugnung, Zwangsverwaltung ist das Verbot unserer Sprache und Identität, Zwangsverwaltung bedeutet Korruption, Armut und Missbrauch. Wir haben unserem Volk die politische Seite der Zwangsverwaltung erklärt und werden dies auch weiterhin tun.

Wir wollen unserem Volke dienen. Wir wollen das ungerechte System, das als natürliche Folge der ungleichen Behandlung von Identitäten entstanden ist, mit dem Einfluss, den wir in den Kommunalverwaltungen schaffen werden, überwinden und die Folgen schnell beheben. Wir lieben und vertrauen unserem Volk zutiefst. Wir sehen die Bedürfnisse der Menschen und wir kennen die Lösungen, sowohl auf der Ebene der Politik als auch auf der Ebene der Dienstleistungen. Wir haben Projekte und einen Verwaltungsansatz, der dieses bizarre System überwinden wird. Wir haben ein Konzept, das unsere Lebensräume stärken und eine echte Demokratie auf lokaler Ebene mit einem fairen und partizipativen Verwaltungsansatz aufbauen wird.