Das ganze Wochenende über haben in etlichen Städten Nordkurdistans und der Türkei Proteste gegen den Austritt der türkischen Regierung aus der Istanbul-Konvention zum Schutz von Frauen vor Gewalt stattgefunden. Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan wurde aufgefordert, die Entscheidung umgehend rückgängig zu machen und dem Abkommen wieder beizutreten. Der Rückzug gefährde das Leben von Millionen Frauen, warnten Frauenrechtsorganisationen.
In einer Nacht-und-Nebel-Aktion hatte Erdoğan am Samstag die vom Europarat ausgearbeitete Frauenrechts-Konvention per Präsidialdekret aufgekündigt. Mit seiner Entscheidung kam er konservativen und islamistischen Kreisen entgegen. Diese hatten den Austritt mit der Begründung gefordert, das Abkommen schade der Einheit der Familie, da sie zu Ehescheidung ermutige und traditionelle Werte untergrabe. Außerdem fördere sie Homosexualität durch den Gebrauch von Begriffen wie sexueller Orientierung, Geschlecht und Geschlechtsidentität. Regierungsvertreter verteidigen den Austritt aus dem Abkommen damit, dass die Türkei andere nicht imitieren müsse. Die Lösung für den Schutz von Frauenrechten „liegt in unseren eigenen Bräuchen und Traditionen“, sagte Vizepräsident Fuat Oktay. Innenminister Süleyman Soylu sprach sogar davon, sein Land gehe im „Kampf gegen Gewalt an Frauen“ nun mit gutem Beispiel voran. Die Diskussion um einen möglichen Austritt hatte im vergangenen Jahr eine konservativ-religiöse Plattform losgetreten.
Proteste von Istanbul bis Şirnex
Am Samstag protestierten tausende Menschen mit Kundgebungen und Demonstrationen, unter anderem in Istanbul, Ankara, Izmir, Antalya, Mersin, Adana, Artvin, Iskenderun, Hatay, Amed, Mêrdîn, Wan, Şirnex, Riha und Dersim, und zeigten Plakate mit den Porträts ermordeter Frauen. Am Sonntagabend gab es fast überall im Land Topfschlagen: Frauen auf Balkonen und an Fenstern trommelten lautstark auf Töpfen und riefen, sich ihr „hart erkämpftes Recht“ nicht nehmen zu lassen. „Zieh Deine Entscheidung zurück und halte Dich an den Vertrag“, lautete die Ansage an den AKP-Chef. Auf den Veranstaltungen zum kurdischen Neujahrsfest Newroz wurde die Istanbul-Konvention ebenfalls verteidigt. Der Frauenrat der Demokratischen Partei der Völker (HDP) hatte dazu aufgerufen, den Protest auf die Newroz-Feiern zu tragen.
Kaum ein Tag ohne Femizid
Patriarchale Gewalt ist in der Türkei weit verbreitet, kaum ein Tag vergeht ohne mindestens einen Femizid. Nach Angaben der Plattform „Wir werden Frauenmorde stoppen“ (KCDP) sind allein im vergangenen Jahr 300 Frauen von Männern aus ihrem Umfeld ermordet worden, seit Anfang des Jahres zählte die Organisation 78 Frauenmorde. Hinzu kommen Fälle von hunderten Frauen, die auf verdächtige Weise tot aufgefunden worden sind. Frauenbewegungen haben bereits angekündigt, auf die Barrikaden zu gehen, sollte der Entschluss über den Rückzug aus der Istanbuler Konvention nicht rückgängig gemacht werden. Das nächtliche Topfschlagen samt ordentlichem Lärm soll zum Dauerprotest werden, teilte KCDP mit.
Scharfe Kritik übte die Frauenplattform auch an der Art und Weise des Austritts aus dem Vertrag. Die Anwaltskammer Istanbul und zahlreiche zivilrechtliche Vereinigungen monierten, der Präsident habe nicht die Befugnis, internationale Abkommen ohne Zustimmung des Parlaments, das den Vertrag 2012 ratifizierte, per Dekret aufzukündigen. Damit liege ein klarer Verstoß gegen Art. 90 und 104 der türkischen Verfassung vor. Allerdings gingen nach der Wiederwahl Erdoğans 2018 weitreichende Machtbefugnisse auf den Präsidenten über, die zulasten des parlamentarischen Systems mit erweiterten Rechten für die Exekutive einhergehen.
Die Übereinkunft des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen ist das weltweit erste verbindliche völkerrechtliche Abkommen dieser Art und gilt als Meilenstein im Kampf gegen patriarchale Gewalt. Sie verpflichtet die Unterzeichnerstaaten, geschlechtsspezifische Gewalt zu bekämpfen sowie die Präventions- und Hilfsangebote durch Gesetze und politische Programme zu verbessern. Als Gewalt gilt dabei nicht nur physische Gewalt, sondern auch geschlechtsspezifische Diskriminierung, Einschüchterung oder wirtschaftliche Ausbeutung. Die Übereinkunft wurde am 11. Mai 2011 in Istanbul zur Unterschrift ausgelegt. Sie wurde inzwischen von 45 Staaten und der Europäischen Union (EU) unterzeichnet; Erdoğan hatte die Konvention in Istanbul – dem Ort der finalen Einigung – als erster unterschrieben, damals noch als Ministerpräsident. In der Türkei, wo es so etwas wie ein Frauenministerium noch nicht mal gibt, wurden Maßnahmen aus dem Abkommen nur in den seltensten Fällen umgesetzt. Es gibt auch keine einzige Behörde, die das Wort „Frau” im Namen trägt. Mit dem Thema befasst sich das Ministerium für Arbeit, Soziales und Familie.