Die Vorsitzende der CHP-Frauenorganisation im westtürkischen Aydın, Ayşe Özdemir, ist im Zusammenhang mit einer „Las Tesis“-Aktion zu einer knapp einjährigen Bewährungsstrafe verurteilt worden. Das Gericht sah es als erwiesen an, dass die Politikerin mit ihrer Performance Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan beleidigt habe. Frauenrechtlerinnen bezeichnen das Urteil im Hinblick auf andauernde Verfahren als Exempel mit abschreckender Wirkung. Özdemirs Rechtsbeistand kündigte an, gegen das noch nicht rechtskräftig gewordene Urteil in Berufung zu gehen.
Protest gegen sexualisierte Gewalt und Vergewaltigungskultur
Das feministische Kollektiv „Colectivo Las Tesis“ aus Chile hatte im Winter 2019 eine Massenbewegung initiiert. Ihr Sprechgesang „Un violador en tu camino“ (Ein Vergewaltiger auf deinem Weg) und der dazugehörige Tanz, eine Anklage gegen sexualisierte Gewalt und Vergewaltigungskultur, wurde insbesondere auch von der Frauenbewegung in der Türkei und Kurdistan rezipiert. In der Türkei wurden diese Frauenprotestperformances immer wieder zum Ziel von Verboten und Polizeigewalt. Es wurden Geldstrafen verhängt, Studierenden wurden Stipendien gestrichen. Auch von Ayşe Özdemir wurde die starke Performance aufgegriffen. Im Februar vergangenen Jahres klagte sie im Rahmen eines Parteikongresses des Provinzverbands ihrer Partei das Patriarchat und Gewalt gegen Frauen in der Türkei an. Prompt wurde ein Strafverfahren gemäß Artikel 299 des türkischen Strafgesetzbuches eröffnet.
Eine Regierung sollte in der Lage sein, mit Kritik umzugehen
„Mit der Strafe gegen Özdemir soll der legitime Protest von Frauen zum Schweigen gebracht werden“, äußerte die CHP-Frauenfraktionsvorsitzende Aylin Nazlıaka nach der Verhandlung. Auch sie habe den Eindruck, dass mit dem Urteil ein Exempel statuiert werden soll, um die unliebsame Frauenbewegung abzustrafen. „Im Grunde richtet sich das Urteil gegen alle Frauen dieser Welt, die sich mit der Bewegung Las Tesis identifizieren und tanzend gegen patriarchale Gewalt protestieren. Die Justiz wertet diese Aktionen als Beleidigung, dabei geht es ausschließlich um die Verteidigung des Rechts auf Leben von Frauen“, so Nazlıaka. Selbstverständlich beinhalte die Performance Kritik, schließlich würden damit Feminizid angeprangert und Missstände aufgedeckt. „Aber eine Regierung sollte in der Lage sein, mit Kritik umzugehen.“
Dutzende Verfahren wegen Las Tesis
In der Türkei laufen Dutzende Verfahren gegen Frauen, die sich an Las Tesis-Aktionen beteiligt haben. Ende November hatte ein Bündnis aus kritischen Juristinnen die Kriminalisierung des Frauenprostests aufgearbeitet und einen entsprechenden Bericht veröffentlicht. Allein im letzten Quartal 2019 wurden fünfzig Verfahren gegen Frauen eingeleitet, die sich an Tanzprotesten gegen Vergewaltigung beteiligten.