Eine kleine Lesereihe mit Beiträgen aus dem Buch „Verändern wollte ich eine Menge – Aus dem Leben der Internationalistin Ellen Stêrk“ begann am 1. Juli auf dem mehrtägigen Festival „Fusion“. Organisiert wurde die Lesung dort am „Roten Platz“ vom Aktivist:innen des Soziokulturellen Zentrums „Buntes Haus“ aus Celle und der feministischen Organisierung „Gemeinsam kämpfen“. Zugleich wurden am „Roten Platz“ Spenden gesammelt für das Projekt frachcollective zur Unterstützung von Flüchtenden an der EU-Grenze in Bosnien und für die Stiftung der Freien Frauen in Syrien (WJAS) und über deren Projekte informiert.
Feministisches Jugendcamp in Heideruh
Auf dem feministischen Jugendcamp in Heideruh in der Lüneburger Heide war die Lesung am Sonntag, den 3. Juli, als einer von verschiedenen Workshops feministischer Praxis angeboten und erreichte 15 junge feministische FLINTA*. Das Akronym FLINTA* steht für Frauen, Lesben, intersexuelle, nicht-binäre, trans und agender Personen – also für all jene, die aufgrund ihrer Geschlechtsidentität patriarchal diskriminiert werden. Für die Referentinnen war es wichtig zu vermitteln, das Biographien politischer Aktivist:innen bedeutsam sind, um feministische und internationalistische Geschichte erfahrbar zu machen. Sie haben auch dazu aufgerufen, gerade als FLINTA* eigene Geschichte, Widersprüche, politische Fragen und Diskussionen aufzuschreiben, damit diese Kämpfe und Errungenschaften sichtbar bleiben und nicht verloren gehen.
Veranstaltung in Leipzig: „Praxisnah und inspirierend“
Am Montagabend kamen knapp 20 FLINTA* in Leipzig zusammen, um an der Buchvorstellung von „Verändern wollte ich eine Menge - aus dem Leben der Internationalistin Ellen Stêrk" teilzunehmen. Der Raum im Leipziger Osten war hergerichtet mit einem Tisch voller Infomaterial und dem Buch, um das es an diesem Abend gehen sollte. Begleitet von den Bildern aus dem Buch stellten Aktivistinnen des Herausgeber:innenkollektives von „Gemeinsam Kämpfen“ das Leben und die Kämpfe von Ellen vor. Wie eine Freundin in einer Geschichte über sie schreibt, dass sie sich gegenseitig in ein ständiges Erstaunen versetzt haben, wurden die Zuhörer:innen in Erstaunen versetzt über Ellens politisches Dasein, ihre Gedanken und ihr Engagement. So entstand im Anschluss ein reger Austausch über das Konzept Hevaltî (Freundschaft und Genossenschaftlichkeit) und dessen Wichtigkeit, sowie weitere Fragen, die eine autonome Organisierung betreffen. Aus diesem Abend konnten viele praxisnahe und inspirierende Gedanken mitgenommen werden. Für die Ortsgruppe Women Defend Rojava - Solidarische FLINTA* Leipzig war dies die erste organisierte Veranstaltung dieser Art und hat zur Präsenz im Leipziger Veranstaltungsgeschehen, sowie zum Austausch mit Interessierten beigetragen.
Lesung in der „Grüni“ in Berlin-Friedrichshain
Am 5. Juli fand die Lesung in Berlin an einem ganz besonderen Ort statt - einem Ort, der sehr mit Ellen verbunden ist und um dessen Geschichte es auch in diesem Buch geht. Rund 60 Menschen kamen im sozialen Zentrum Zilona Góra in der „Grüni“ zusammen, in dem Hausprojekt in Berlin-Friedrichshain, in dem Ellen von 2004 bis 2012 im FrauenLesben-Hinterhaus lebte und versuchte, politisches Leben mehr kollektiv zu verbinden. Es waren unterschiedliche Menschen da, die Ellen zu verschiedenen Zeitpunkten ihres Lebens kannten: Aus der Anti-Atom-Bewegung, aus der Hausprojektszene und den Anti-Gentrifizierungskämpfen, aus der Solidaritätsarbeit zu Kurdistan und jüngere Menschen, die Ellen gar nicht kannten, aber die sich ähnliche Fragen stellen, wie sie es tat.
Ellens Geschichte
Die beiden Vortragenden des Herausgeber:innenkollektives „Gemeinsam Kämpfen“ erzählten am Anfang der Lesung über ihren persönlichen Bezug zu Ellen, die sie beide seit 2007 kannten. Für das Buch interviewten sie über 50 Menschen aus ihrem Umfeld und nutzten Ellens Briefe und Mails, die sie an Freund:innen von ihren Reisen schrieb. Feministische, internationalistische Geschichte aufschreiben sei wichtig, um sie zu verstehen und daran anzuknüpfen, betonten die beiden. Und Ellens persönliche Geschichte bietet sich an, um diese Geschichte zu vermitteln. Angefangen mit ihrer Kindheit in Buxtehude wurde von den beiden chronologisch angerissen, in welchen Zusammenhängen und Kämpfen Ellen aktiv war: Anti-Atom-Bewegung, Hartz4-Proteste, die internationale Karawane „boundaries-to-bridges-tour“, ihre ersten Aufenthalte in kurdischen Gebieten, die Organisation des internationalen Camps auf dem mesopotamischen Sozialforums in Amed 2009, etc. Ziemlich ehrlich schildert Ellen in ihren Briefen neben der politische Situation in kurdischen Gebieten ihre Reflektionen bezüglich des Vorwurfs an sie, eurozentristisch zu sein.
Nach dem internationalistischen Camp in Amed ist der Wunsch entstanden, die kurdische Frauenbewegung näher kennenzulernen und sich tiefer mit Fragen feministischer Organisierung auseinanderzusetzen. Ellen versuchte auch, als sie zurück in Europa war, die Kritik, die Aktivist:innen vor Ort beim Amed-Camp geäußert haben, umzusetzen. Unter anderem deswegen wurde die Kampagne TATORT Kurdistan gegründet. Außerdem trieb sie auch die Frage um, wie sich die Linke reorganisieren müsse, um zu einer breiteren Bewegung zu werden, und sie entschloss sich, bei avanti, einer linksradikalen Organisation aktiv zu werden.
2012 ging sie für anderthalb Jahre in die Berge Kurdistans, eine Zeit mit viel Bildung, Sprachunterricht und Diskussionen. Als sie zurückkam, initiierte sie selbst Bildungs- und Organisierungsprozesse. Freund:innen beschrieben, dass sie darin eine inspirierende Rolle gehabt hat.
Tragischerweise erkrankte Ellen an Krebs. Sie wurde 2016 in Hamburg im „Garten der Frauen“, einem Erinnerungsort für widerständige Frauen beerdigt. Aber viel hat sich seit ihrem Tod weiterentwickelt. Nach ihr haben sich viele Menschen neu aufgemacht, um sich denselben Fragen zu nähern, die sie sich auch gestellt hat. Und das ist auch etwas, was Ellen angestoßen hat.
Feministische und internationalistische Geschichte erfahrbar gemacht
Die Lesungen haben dazu beigetragen, an verschiedenen Orten feministische und internationalistische Geschichte erfahrbar zu machen, wichtige Fragen zum Umgang miteinander in politischen Strukturen und zu autonomer Organisierung zu diskutieren und Räume zu öffnen, um sich auch weiterhin von Ellen Stêrk inspirieren zu lassen.
Über Anfragen für Lesungen freut sich das Herausgeber:innenkollektiv. Sie können hierfür unter [email protected] kontaktiert werden. Die nächste geplante Lesung kann am 23. Juli 2022 um 16 Uhr auf dem Sommerfest in der antifaschistische Erholungs- und Begegnungsstätte Heideruh e.V. besucht werden.