„Leben bedeutet Widerstand zu leisten“

Nalin Ciftci ist eine 23-jährige Ezidin, die als Content Creatorin auf den Plattformen Instagram und TikTok aktiv ist. Mit der Journalistin Dîlan Karacadag hat sie über ihre Motivation gesprochen.

Content Creatorin Nalin Ciftci

Die Ereignisse vom 3. August 2014 haben das Leben vieler Ezid:innen weltweit für immer verändert. Der Angriff des sogenannten IS auf die Region Şengal (Sinjar) im Nordirak markierte einen dunklen Tag in der Geschichte der ezidischen Gemeinschaft. Doch auch in der Diaspora, wie in Deutschland, spüren Ezid:innen die Auswirkungen dieses Genozids auf ihr Leben und ihre Identität. Nalin Ciftci, eine junge Frau im Alter von 23 Jahren, hat es sich zur Aufgabe gemacht, als Stimme für die ezidische Gemeinschaft in Deutschland zu stehen und Licht auf ihre Kultur und Geschichte zu werfen.

In einem bewegenden Gespräch teilt Nalin Ciftci ihre persönlichen Erfahrungen und die Herausforderungen, denen sie als junge, ezidische Frau gegenübersteht. Als Content Creatorin nutzt sie Plattformen wie Instagram und TikTok, um über ihre Religion, Sprache und Kultur aufzuklären und einen tieferen Einblick in die Geschichten und Kämpfe ihrer Gemeinschaft zu geben. Sie lässt Menschen daran teilhaben, wie ihr Leben als junge Frau mit „Migrationshintergrund“ aussieht, welche Erfahrungen sie mit Identitätssuche und Akzeptanz in einer multikulturellen Gesellschaft gemacht hat und spricht Frauen, denen es ähnlich geht, Mut zu, für sich und ihre Träume zu kämpfen. 


Social Media hat sich zu einer wichtigen Plattform für Minderheiten entwickelt, um gehört und gesehen zu werden. Menschen, die oftmals nicht die Möglichkeit haben, ihre Stimme in traditionellen Medien zu erheben, können im Netz Sichtbarkeit erlangen, auf Ungerechtigkeiten aufmerksam machen und eine Gemeinschaft aufbauen, die sich gegenseitig unterstützt und stärkt. Darauf setzt auch Nalin.

 „Nach dem 3. August 2014 hat sich mein ganzes Leben verändert“, erklärt Nalin mit fester Stimme. Die Bilder des Genozids, die sie über den Fernseher verfolgte, haben sich tief in ihr Gedächtnis eingebrannt und sie dazu gebracht, sich intensiv mit ihrer Identität und ihrem Glauben auseinanderzusetzen. „Davor habe ich mich nicht wirklich für meine Religion interessiert. Nach dem Genozid wurde mir jedoch bewusst, wie besonders ich als Ezidin bin. Meine Vorfahren sind der Grund, warum ich heute das freie Leben leben darf“, betont sie stolz.

Für Nalin ist ihre Sprache, Kultur und Religion nicht nur ein Teil ihrer Identität, sondern Quelle von Inspiration und Kraft. „Ich fühle mich so frei und erfüllt. Das möchte ich auch anderen zeigen. Auf Social Media rede ich sehr offen über das Thema. Ich möchte ein Sprachrohr für viele Menschen sein“, sagt sie und betont die Notwendigkeit, die Geschichten und Kämpfe ihrer Community sichtbar zu machen.

Die Herausforderung für viele Jugendliche, die in Deutschland aufgewachsen sind, sei es, ihren Platz in einer multikulturellen Gesellschaft zu finden. „Ich habe mich oft falsch gefühlt, als ob etwas nicht mit mir stimmen würde“, gesteht Nalin. „Ich wollte nie wirklich dazugehören und nur deutsch sein. Aber ich habe schnell gemerkt, dass ich nicht in dieses System hineinpasse.“

Hier setzt Nalin an: Durch das Teilen ihrer Erfahrungen und ihres Wissens auf Social Media hofft sie, eine Botschaft des Stolzes und der Akzeptanz zu verbreiten. „Ich will der Welt zeigen, wie schön unsere Religion ist und dass man sich nicht für eine Seite entscheiden muss. Ich bin Jesidin und habe trotzdem mein modernes Leben in Deutschland“, erklärt sie. Neben den positiven Aspekten von Social Media erkennt Nalin aber auch die Schattenseiten: „Es gibt anti-ezidischen Rassismus, der vor allem online sichtbar ist. Ich weiß, dass viele sich nicht trauen, zu sagen: ‚Ich bin Ezidin oder Ezide‘, aus Angst vor Diskriminierung.“

Nalin glaubt an den kurdischen Ausdruck „Berxwedan Jiyan e“ – Widerstand ist Leben. „In uns allen steckt eine kleine Kämpferin, die Widerstand leistet“, sagt sie. Ihre Botschaft ist klar: Veränderungen sind notwendig, und es braucht Menschen, die den Mut haben, damit zu beginnen. „Wir sind Kinder der Sonne und müssen der Welt zeigen, dass uns niemand dieses Leuchten wegnehmen kann.“ Mit ihrer Stimme und ihrem Engagement zeigt Nalin, dass jede Geschichte zählt und eine Gemeinschaft nur stark sein kann, wenn ihre Mitglieder zusammenstehen.

In einer Zeit, in der viele nach Identität und Zugehörigkeit suchen, ist Nalin Ciftci ein leuchtendes Beispiel dafür, wie Stärke, Würde und der Wille zur Veränderung eine persönliche und gesellschaftliche Revolution bewirken können.

Der Genozid in Şengal

 Am 3. August 2014 überfiel die Terrororganisation „Islamischer Staat“ (IS) den Şengal, mit dem Ziel, die bereits seit Jahrhunderten verfolgte Gemeinschaft der Ezidinnen und Eziden auszulöschen. Durch systematische Massaker, Vergewaltigung, Folterung, Vertreibung, Versklavung von Mädchen und Frauen sowie der Zwangsrekrutierung von Jungen als Kindersoldaten erlebten die Ezid:innen den von ihnen als Ferman bezeichneten 74. Völkermord in ihrer Geschichte.

10.000 Ermordete, 400.000 Vertriebene

Anlässlich des zehnten Jahrestages des Völkermords wird in Şengal in diesen Tagen mit verschiedenen Veranstaltungen an das damalige Geschehen erinnert und der Toten gedacht. Mindestens 10.000 Menschen fielen Schätzungen der Vereinten Nationen (UN) zufolge den Massakern des IS zum Opfer. Mehr als 400.000 Menschen wurden aus ihrer Heimat vertrieben, über 7.000 Frauen und Kinder verschleppt. Bis heute befinden sich etwa 2.700 der Entführten in der Gewalt ihrer Peiniger, die meisten davon sind Frauen und Kinder. Die Frauen und jungen Mädchen werden bis heute systematisch vergewaltigt und als Sklavinnen gehalten und verkauft. Daher stellt dieser Genozid in seiner Form zugleich auch einen Feminizid dar.