Der Kassationshof in Ankara als Oberstes Berufungsgericht der Türkei hat eine lange Haftstrafe für die Oppositionspolitikerin Canan Kaftancıoğlu bestätigt. Das Gericht stimmte der Verurteilung der Istanbuler CHP-Vorsitzenden in drei Anklagepunkten zu. Sie soll für vier Jahre, elf Monate und 20 Tage hinter Gitter. Mit dem Urteil vom Donnerstag ist ein Politikverbot für fünf Jahre verbunden.
Kaftancıoğlu war 2019 wegen einer Reihe von Vorwürfen zu fast zehn Jahren Haft verurteilt worden. Sie soll unter anderem „Terrorpropaganda“ verbreitet und Präsident Recep Tayyip Erdoğan beleidigt haben. Die Vorwürfe bezogen sich in erster Linie auf Einträge im Kurznachrichtendienst Twitter in den Jahren 2012 bis 2017. Die heute 50-Jährige hatte unter anderem den Tod des 14-jährigen Berkin Elvan durch eine Tränengas-Granate bei den regierungskritischen Gezi-Protesten in 2013 kritisiert.
Insbesondere wegen einer Twitter-Nachricht, die Kaftancıoğlu vorgeworfen wurde, ist sie auch regelmäßig von der Erdoğan-Partei AKP und der regierungsnahen Presse an den Pranger gestellt worden. Als am 9. Januar 2013 die kurdischen Revolutionärinnen Sakine Cansız, Fidan Doğan und Leyla Şaylemez von einem Auftragsmörder des türkischen Geheimdienst MIT in Paris hingerichtet wurden, schrieb Kaftancıoğlu: „Sakine Cansız sagte einmal: ‚Die Geschichte der Menschheit beginnt mit der Frau. Die Menschheit ist die Verliererin angesichts dessen, was Frauen angetan wird.‘ Und wieder hat die Menschheit verloren.“
Verteidigung kündigt Rechtsmittel an
Das Oberste Gericht in Ankara bestätigte die Urteile gegen Kaftancıoğlu in den Anklagepunkten Beamtenbeleidigung, Präsidentenbeleidigung und öffentliche Herabwürdigung des türkischen Staates. Urteile wegen Terrorpropaganda und Volksverhetzung hob das Gericht demnach auf. Ob die Politikerin die Haftstrafe antreten muss, war zunächst unklar. Bis Donnerstag war sie noch auf freiem Fuß, ihre Verteidigung kündigte Rechtsmittel an. Klar ist jedoch, dass sie bei den kommenden Parlaments- und Präsidentschaftswahlen nicht mitmischen kann. „Genau das dürfte das Ziel dieses politischen Urteils gewesen sein”, kommentierten Feleknas Uca und Hişyar Özsoy, die Ko-Sprecher:innen für auswärtige Angelegenheiten der HDP, die Gerichtsentscheidung.
HDP: Politisches Urteil gegen Opposition
„Je näher die Wahlen in der Türkei rücken, desto mehr Druck übt das Bündnis aus AKP und MHP auf die Opposition aus. Damit will diese Allianz ihr eigenes Überleben sichern“, erklärten Uca und Özsoy am Freitag in Ankara. „Diese Regierung, die die Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zur sofortigen Freilassung von Selahattin Demirtaş und Osman Kavala weiterhin nicht umsetzt, geht unter Zuhilfenahme ihrer Kontrolle über die Justiz immer rücksichtsloser gegen die Opposition vor.“ Die Tatsache, dass Kavala im jüngsten Gezi-Prozess nicht freigelassen, sondern zu lebenslanger Haft verurteilt wurde, sei ein deutlicher Hinweis auf die in Ankara betriebene autoritäre Politik.
Solange internationale Gemeinschaft schweigt, wird Unterdrückung noch brutaler
Demirtaş und Kavala sind aber nur zwei Beispiele. In der Türkei sitzen zehntausende Menschen im Gefängnis, nur weil sie regierungskritische Gedanken geäußert haben. „Die AKP/MHP-Allianz weiß nur zu gut, dass ihre Macht auf wackligen Beinen steht.“ Daher sei davon auszugehen, dass sie auch weiterhin mit „Aktionen jenseits von Recht und Gesetz“ in Erscheinung tritt, um den eigenen Machterhalt zu garantieren, so die HDP. „Wir glauben, dass der Druck der Regierung auf ihre Gegnerinnen und Gegner zunehmen wird, je näher wir den Wahlen kommen. Und solange die internationale Gemeinschaft schweigt, wird diese Unterdrückung noch brutaler werden. Wir rufen daher alle demokratischen Kräfte und Institutionen auf, ihre Stimme zu erheben und gegen die Unterdrückung der Opposition durch die türkische Regierung vorzugehen“, fordert die Partei.
Die Wahl zur 28. Großen Nationalversammlung der Türkei soll am 18. Juni 2023 gleichzeitig mit der Präsidentschaftswahl stattfinden.
Wer ist Canan Kaftancıoğlu?
Canan Kaftancıoğlu solidarisiert sich immer wieder öffentlich mit sozialen Bewegungen. Die aus Ordu an der Schwarzmeerküste stammende Politikerin war bereis als Medizinstudentin in der Demokratiebewegung aktiv. Nach ihrem Studienabschluss 1995 arbeitete sie zunächst in Sêwas (tr. Sivas) als Ärztin, 1997 begann sie an der medizinischen Fakultät in Istanbul eine Ausbildung zur Gerichtsmedizinerin. Als solche bemühte sie sich insbesondere um die Aufklärung von Folterfällen in der Türkei. Seit 2011 übernahm Kaftancıoğlu verschiedene Aufgaben bei der CHP.
Nach der Niederschlagung der Gezi-Proteste gegen ein geplantes Bauprojekt auf dem Gelände des Gezi-Parks im Zentrum Istanbuls im Sommer 2013 schloss Kaftancıoğlu sich der „Bewegung Vereinigter Juni” an. Seitdem sie sich in der Politik engagiert, setzt sie sich zudem dafür ein, dass sich die Türkei ihrer negativen Vergangenheit stellt. Sie war maßgeblich an der Gründung der „Plattform für das gesellschaftliche Gedächtnis“ beteiligt. Als sie vor sechs Jahren die Armenienresolution des deutschen Bundestags unterstützte, wurde sie in der Türkei als „Vaterlandsverräterin” verleumdet.
Kaftancıoğlu gilt als die Architektin des überraschenden Wahlsiegs der CHP bei den Bürgermeisterwahlen in Istanbul im März und Juni 2019. Die Wahl musste wegen eines Einspruches der regierenden AKP wiederholt werden, worauf sich aber der Stimmenanteil des CHP-Kandidaten Ekrem Imamoǧlu sogar erhöhte. Nachdem die Metropole am Bosporus 25 Jahre von Erdogans AKP, beziehungsweise ihren Vorgängerparteien regiert worden war, galt diese Wahl als bisher schwerste Niederlage Erdoğans.