Ein türkisches Berufungsgericht hat das Urteil gegen die Istanbuler CHP-Vorsitzende Canan Kaftancıoğlu zu fast zehn Jahren Freiheitsstrafe bestätigt. Die 48-jährige Sozialdemokratin müsse die Strafe aber zunächst nicht antreten, da sie erneut Berufung einlegen könnte, sagte ihr Anwalt Ergün Özer am Dienstag.
Kaftancıoğlu ist Vorsitzende des Provinzverbands der Republikanischen Volkspartei CHP. Im September war sie zu neun Jahren, acht Monaten und zwanzig Tagen Haft verurteilt worden. Neben Terrorpropaganda wurden ihr Volksverhetzung, Präsidentenbeleidigung, Beamtenbeleidigung und Verunglimpfung des Staats vorgeworfen. Die Staatsanwaltschaft forderte ein Strafmaß von bis zu 17 Jahren Gefängnis. Unter den acht Klägern war auch Präsident Recep Tayyip Erdoğan.
Das Urteil bezieht sich auf Beiträge beim Kurznachrichtendienst Twitter, die Kaftancıoğlu zwischen den Jahren 2012 und 2017 geteilt haben soll. Die Ermittlungen hatten schon im Januar 2018 begonnen, nur wenige Tage nach der Wahl der Politikerin zur ersten weiblichen CHP-Provinzvorsitzenden von Istanbul.
Solidarität mit ermordeten kurdischen Politikerinnen
Insbesondere wegen einer Twitter-Nachricht, die Kaftancıoğlu vorgeworfen wurde, ist sie auch regelmäßig von der Erdoğan-Partei AKP und der regierungsnahen Presse an den Pranger gestellt worden. Als am 9. Januar 2013 die kurdischen Revolutionärinnen Sakine Cansız, Fidan Doğan und Leyla Şaylemez von einem Auftragsmörder des türkischen Geheimdienst MIT in Paris hingerichtet wurden, schrieb Kaftancıoğlu: „Sakine Cansız sagte einmal: ‚Die Geschichte der Menschheit beginnt mit der Frau. Die Menschheit ist die Verliererin angesichts dessen, was Frauen angetan wird.‘ Und wieder hat die Menschheit verloren.“
Wer ist Canan Kaftancıoğlu?
Canan Kaftancıoğlu solidarisiert sich immer wieder öffentlich mit sozialen Bewegungen. Die aus Ordu an der Schwarzmeerküste stammende Politikerin war bereis als Medizinstudentin in der Demokratiebewegung aktiv. Nach ihrem Studienabschluss 1995 arbeitete sie zunächst in Sêwas (türk. Sivas) als Ärztin, 1997 begann sie an der medizinischen Fakultät in Istanbul eine Ausbildung zur Gerichtsmedizinerin. Seit 2011 übernahm sie verschiedene Aufgaben bei der CHP. Nach der Niederschlagung der Gezi-Proteste gegen ein geplantes Bauprojekt auf dem Gelände des Gezi-Parks im Zentrum Istanbuls im Sommer 2013 schloss sie sich der „Bewegung Vereinigter Juni” an.
Seitdem sich Canan Kaftancıoğlu in der Politik engagiert, setzt sie sich zudem dafür ein, dass sich die Türkei ihrer negativen Vergangenheit stellt. Sie war maßgeblich an der Gründung der „Plattform für das gesellschaftliche Gedächtnis“ beteiligt. Als sie vor vier Jahren die Armenienresolution des deutschen Bundestags unterstützte, wurde sie in der Türkei als „Vaterlandsverräterin” verleumdet.