Kader K.: Ich habe keine Angst mehr

Im November 2016 wurde Kader K. von ihrem Exmann in Hameln an seinem Auto festgebunden und Hunderte Meter über die Straße gezogen. Dîlan Karacadağ hat ein Jahr später für die Tageszeitung Yeni Özgür Politika ein Interview mit ihr geführt.

Am 20. November 2016 wurde eine 28-jährige Frau in Hameln von ihrem Exmann Nurettin Bayrak zunächst mit einer Axt angegriffen und anschließend mit einem Seil am Auto festgebunden und Hunderte Meter weit über die Straße gezogen. Sie überlebte wie durch ein Wunder, weil sich das um ihren Hals gewickelte Seil löste. Ihr damals dreijähriger Sohn war dabei und ist immer noch traumatisiert.

Heute versucht Kader K. ein neues Leben für sich und ihren Sohn aufzubauen. Dîlan Karacadağ hat mit ihr über das vergangene Jahr und ihre Zukunftspläne gesprochen.

Seit Ihrem schrecklichen Erlebnis ist ein Jahr vergangen. Wie fühlen Sie sich jetzt? Konnten Sie die psychischen und physischen Auswirkungen des Angriffs überwinden?

Ich bin weiterhin in Behandlung. Zusammen mit meinem Sohn versuche ich das erlebte Trauma zu verarbeiten. Ich habe viel Unterstützung erfahren. Viele Menschen haben mit mir zusammen geweint und gelacht. Das hat mir Kraft gegeben. Trotz des Schmerzes habe ich versucht, dieser Zeit auch etwas Positives abzugewinnen. Ich bin heute stärker als früher und ich habe keine Angst mehr. So wie ich am Tag des Vorfalls versucht habe, mich auf den Beinen zu halten, so mache ich auch heute weiter. Für meinen Sohn, für ein neues Leben…

Woher haben Sie die Kraft, sich auf den Beinen zu halten und einen Neuanfang zu machen?

Nach dem Angriff habe ich viel Unterstützung von Frauen bekommen. Die Frauensolidarität hat mir Kraft gegeben. Wir leben jedoch in einer Zeit, in der es Menschen gibt, die nicht den Betroffenen zur Seite stehen, sondern lieber die Hand des Täters halten. Es gab tatsächlich Menschen, die Verständnis für den Täter zeigten. Trotzdem glaube ich daran, dass alle guten Taten letztendlich belohnt werden. Mich hat vor allem die Existenz meines Sohnes dazu motiviert, stark zu bleiben.

Ihr Sohn war Zeuge des Angriffs. Wie geht es ihm jetzt? Hat der Vorfall Spuren hinterlassen?

Mein Sohn war damals drei Jahre alt. Jetzt geht er in die Vorschule. Er hat ein Trauma erlebt und leidet immer noch darunter. Heute Morgen sagte er zu mir: „Ich weiß, dass der Mann dich geschlagen hat. Er wollte dich töten.“ Er nennt ihn nicht „Papa“, sondern nennt ihn beim Namen oder sagt einfach „der Mann“. Einmal meinte er: „Ich habe keinen Vater.“ Wie jede andere Mutter würde ich mir natürlich wünschen, er hätte dieses Trauma nicht erleben müssen und einen liebevollen Vater gehabt. Sein Vater liebte seinen Sohn jedoch nicht, er liebt Geld viel mehr. Deshalb zeigt er auch im Gefängnis keine Reue.

Inwiefern?

Er wurde zu 14 Jahren Haftstrafe und einer Entschädigungszahlung verurteilt. Um keine Entschädigung zu zahlen, fordert er eine Verlängerung der Haftstrafe. Bei den meisten Auseinandersetzungen vor diesem Vorfall ging es auch darum, dass er keinen Unterhalt gezahlt und sich nicht um sein Kind gekümmert hat. Ich hoffe, dass er im Gefängnis irgendwann bereut, was er getan hat, und nie wieder einem Menschen Schaden zufügt.

Der Journalist Ulrich Behrmann hat ein Buch über Sie geschrieben. War das Ihre Idee?

Ja. Während des Prozesses habe ich einen Journalisten gesehen, der die Verhandlungen beobachtete. Ich kannte ihn nicht, aber ich ging zu ihm und fragte ihn, ob er meine Geschichte aufschreiben will. Zuerst glaube er gar nicht, dass ich es ernst meine. Er sagte, dass er noch nie ein Buch geschrieben habe. Als er begriff, dass es mir ernst ist, hat er mit den Vorbereitungen begonnen. Ich habe ihm meine ganze Geschichte erzählt, von der Zeit vor meiner Heirat, meiner Ehe und danach. Mit meiner Vollmacht konnte er auch die Polizeiakte und meine Krankenhausberichte einsehen. In dem Buch sind zwar einige fiktive Teile, aber es ist alles meine wahre Geschichte.

Was wollten Sie mit dem Buch erreichen?

Frauen mit Gewalterfahrungen erleben jede Form der Grausamkeit, aber mein Erlebnis war eines der schlimmsten seit der Nazizeit. Ich habe wie durch ein Wunder überlebt. Daher wollte ich, dass die Öffentlichkeit davon erfährt und vielleicht ähnliche Angriffe verhindert werden. Außerdem sollte es ein Aufruf an andere Frauen sein, in schwierigen Situationen Mut und Stärke zu zeigen.

Können Sie das weiter erläutern? Während Ihrer Krankenhausbehandlung und hinterher haben Sie Unterstützung erfahren. Was möchten Sie den Frauen sagen, die für Sie auf die Straße gegangen sind?

Meine Ehe war wie ein Gefängnis für mich. In dieser schweren Zeit bin ich von vielen Menschen unterstützt worden. Das hat mir Kraft gegeben. Daher möchte ich auch andere Frauen ermutigen, stark zu sein und keine Angst zu haben. Nicht wir sind die Schuldigen, schuld sind die Männer, die uns foltern. Ich möchte eigentlich auch keiner Frau sagen, dass sie beim Staat Schutz suchen soll. Frauen, die Gewalt ausgesetzt sind, werden vom Staat geschützt. Warum muss der Staat die Frauen schützen? Warum werden stattdessen nicht die Täter bestraft? Gäbe es ausreichende Sanktionen gegen Gewalttäter, müssten die betroffenen Frauen sich nicht verstecken. Wir haben keine Schuld, deshalb sollten wir auch keine Angst haben und uns nicht verstecken müssen.

Sie haben eine schwere Zeit hinter sich und dafür gekämpft, sie zu verarbeiten. Gibt es ein Projekt von Ihnen, um Solidarität mit Frauen in einer ähnlichen Situation zu zeigen?

Sollte sich das Buch gut verkaufen, möchte ich mit dem Gewinn und dem Verkauf des Autos, mit dem ich durch die Gegend geschleift wurde, in Kobanê ein Waisenhaus eröffnen. Ich hoffe sehr, dass daraus etwas wird. Damit könnte ich Waisenkindern helfen. Außerdem werde ich mich weiter mit allen Frauen solidarisch zeigen, vor allem mit den kurdischen Frauen. Ich habe schon immer an allen Aktivitäten und Veranstaltungen teilgenommen und werde es weiter tun. Frauen wachsen mit Angst und unter männlichem Druck auf. Dagegen müssen wir solidarisch kämpfen. Außerdem nehme ich an Veranstaltungen und Seminaren teil und trete bei Buchvorstellungen auf, um mein Projekt zu verwirklichen. Das werde ich in der nächsten Zeit weiter tun.

YENİ ÖZGÜR POLİTİKA